Roman

Der Wind von Irgendwo – Kapitel 12: Gewitternacht komplett lesen

Mystery-Roman von Oliver Koch

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Es war, als wollte die Nacht die letzte werden, die sie alle erlebten, so stark war das Unwetter mit Blitz und Donner. Es war, als wollte der Wind von Irgendwo die Welt aus den Angeln heben und sie ins Unbekannte schleudern. Starker Regen fiel fast waagerecht zu Boden, getrieben von starkem Wind. Die Gräser gingen zu ihrem Schutze in die Knie, Büsche machten sich flach, Bäumen stemmten sich der Gewalt entgegen. Der trockene Boden sog zunächst auf, was er erhielt, doch bald schon wuchsen Pfützen zu kleinen Seen.
Vom vor Nässe dunkel werdenden Holz der Häuser strömte das Wasser in Rinnsalen zu Boden, als seien die Wände selbst fließend, und zwischen den Häusern begannen Bäche zu gurgeln. Blitze zuckten wie Sprünge in einer Glaskuppel, und Donnerschläge brachten die Wände zum Zittern. 
Tsam lag im Bett und starrte an die Decke, unter der sich die Geister tummelten, die seinen Schlaf gefangen hielten. Er sah sich nach rechts um und sah dort einen tief schlafenden Mark, und ab und zu glaubte er Marks gleichmäßiges Atmen hören zu können, aber da war er sich nicht sicher. Bei jedem Blitz zuckten Gespenster der Dinge auf, die im Raum waren. Sie zeigten sich kurz, um ihn zu ängstigen und verschwanden danach wieder im furchterregenden Schleier der Dunkelheit.
Ein mächtiger Donner rumpelte über das Land, und gleich darauf wurde es in dem Zimmer für eine ganz kurze Zeit wieder gleißend hell.
Tsams Herz schlug aufgeregt. Als kleines Kind hatte er stets Furcht vor Gewittern gehabt, und Maraim hatte ihm dazu stets böse Dinge gesagt: »Da kommt ein Drache, und der ist böse. Böse, weil du Pepe nicht geholfen hast. Jetzt kommt der Drache und holt dich.« Langer Zeit hatte es bedurft, bis Tsam derlei Schrecknisse überwunden  hatte. »Da ist kein Drache«, hatte seine Mutter einst gesagt. »Maraim wollte dir nur Angst machen. Du bist ein ganz lieber Junge.« Doch heute Nacht glaube er fest an den Drachen.
Tsam stellte sich vor, wie die ferne Bergkette zum Leben erwachte und sich als der Drache zu erkennen gab, der Jahre geschlafen hatte, und der sein Maul nun aufriss: Die Corrin-Höhle, die wuchs und wuchs. Sie war dunkler als die Nacht, und der Drache schob sich mit Blitz und Donner vorwärts, immer weiter auf das Dorf zu.
Die Wände seines Zimmer bewegten sich. Zunächst vibrierten sie nur ein wenig, schoben sich dann aber mit jedem Blitz, der das Zimmer erleuchtete, weiter zusammen. Schließlich umschlang ihn seine Decke, dass er seine Arme nicht mehr bewegen konnte, so sehr er es auch versuchte. Fast ohnmächtig vor Angst wagte er nicht, zu schreien, bis ihm der Atem dazu fehlte. 
Er schloss die Augen und versuchte, sich zu beruhigen und sich bewusst zu werden, dass Decken nicht lebendig wurden und sich um Körper wickelten, und Wände auch nicht näher kamen. Es gelang, auch wenn Donner auf Donner folgte. Als er endlich wieder die Augen öffnete, fiel sein Blick auf die Zimmerdecke über ihm. Draußen tobten Regen und Blitz. Der Wind von Irgendwo, hieß es, brachte alle auf andere Wege. Nichts sollte danach mehr so sein wie früher. Der Wind von Irgendwo war gut. Man sollte sich ihm beugen, man sollte wie das Gras sein. Man sollte ihm nicht die Stirn bieten, und man sollte ihm entgegengehen, denn er käme auf jeden Fall.
Man hatte aufbrechen wollen in eine bessere Zukunft, man hatte die Dinge ändern wollen! Doch nun stellte sich die Frage: Waren sie reif dafür? Waren sie in der Lage, dem Neuen zu widerstehen oder mit ihm glücklich zu werden? Hatten sie nicht noch irgendwo tief in sich eine unüberwindbare Furcht, die sie daran hinderte, eine neue Zukunft wirklich befreit zu begehen?
Heute Nacht  saßen sie in ihren Häusern und kauerten vor Angst, plötzlich wollte niemand von ihnen mehr so mutig sein, aufzubrechen, da war sich Tsam sicher. Der Wind von Irgendwo: nun war er böse, durchtrieben und unglaublich mächtig.
Tsam zitterte bei dem Gedanken, dass dieser Wind es war, der um die Häuser strich, dass dieser Wind es war, der Tod und Verderben brachte! Dass dieser Wind die Angst brachte.
Und Maraim! 
Tsam sah ihn, auf das Dorf zukommen, vom Regen und Wind umtost, wie ein Fels, der heran gerollt kam. Nichts konnte ihm etwas anhaben. Sein fetter Leib war vom Regen durchtränkt, seine Augen waren groß und aufgequollen, überall hüpften Frösche um ihn herum. Maraim kam auf das Dorf zu, und nichts konnte ihn aufhalten, denn er kam mit dem Wind, und der Wind war sein Verbündeter! Der Wind von Irgendwo hatte Maraim geschickt.
Seit dem Feuer, an dem Morkus das Buch herausgekramt und das farbige Bild darin gezeigt hatte, seit Tirata gekommen war und ihnen gesagt hatte, dass die Zeit zur Erkundung der Höhle gekommen war, war alles anders. An dem Abend war der Funke aufgeflammt, nachzusehen. Was hatte dieser Funke letztlich gebracht? Angst und Zweifel hatte er gebracht. In den luftigen Höhen des allmählichen Hinterfragens hatte er in ihnen einen Brand der Furcht und des Entsetzens ausgelöst, und nun waren sie nicht in die Höhle gegangen, sondern hatten sich in die dunklen, verborgenen Tiefen ihrer verbarrikadierten Häuser und ihrer Seelen geflüchtet und fanden dort nur Zweifel und Grauen.
Der Wind von Irgendwo wütete draußen schon. Ers war nicht so, dass er einfach nur langsam auf sie zukam: er war bereits da, er hatte das Dorf schon längst erreicht und wütete darin.
Tsam blickte nach rechts und sah Mark dort fest schlafend, ihm den Rücken zugewandt.
Wie dumm Tsam sich verhalten hatte! Er war fortgelaufen und hatte Mark stehenlassen – oder hatte er sich dumm verhalten, als er Mark mit seiner Trauer belästigt hatte? Oder hatte er sich gar nicht dumm verhalten?
Er wusste nicht mehr, was er denken sollte. Mark hatte ihn in den Arm genommen, und er schämte sich dafür. Mark interessierte sich für Sarah, er selbst war bei dem Anblick Alkas in Verzückung geraten.Zwar hatte er Alka heute nicht gesehen, aber nur weil er niemanden hatte sehen wollen. Alka hatte er nicht niedergeschmettert in die Augen sehen und ihr sagen wollen, wie schlecht er sich fühlte. Und dann war Mark gekommen, fast ebenso zerrissen wie er, zeitweise genauso außer sich wie er, und er hatte Mark all seine Schwäche gezeigt … – warum bloß? Er schloss für einige Augenblicke die Augen und schüttelte sich vor Scham. Mark war sein Freund, aber mehr war er nicht. Wie hatte er sich nur ihm gegenüber zu solch einer Schwäche hinreißen lassen können?
Tsam hörte den Regen peitschen und den Wind keuchen, während Drache sich weiter näherte. Um das Dorf in Schutt und Asche und legen! Tsam stellte sich vor, wie die Blitze statt aus Wolken aus dem Maul des Drachen kamen. Die Donnerhalle waren die kraftvollen Tritte dieses mächtigen Wesens der Rache. Tsam sah hinter der Echse einen großen, öligen Ozean, der durch die Berge bislang verdeckt gewesen war. Wären die Menschen des Dorfes nur einmal dort heraufgeklettert, hätten sie ihn sehen können! Dieser Ozean brodelte und brandete mit Wucht an die Berge, und mit jeder Welle spülte er grüne, zischende Schlangen ans Ufer. 
Da hielt es Tsam nicht länger im Bett, und er sprang mit rasendem Herzschlag zum Fenster. Dort unten stand sie. Stand im Regen, ungerührt. Stand etwa zwei Häuserspannen entfernt. Trug beulenartige Auswüchse und Deformationen an allen Seiten zur Schau, zwischen denen das Regenwasser hinab perlte. Tsam war klar, wer dort unten stand, ohne sich zu regen. Diese Gestalt stand einfach da und blickte ihn an. So sehr Regen und Wind auf den Körper schlugen, sie rührte sich nicht. 
Tsam wurde schwindelig vor Angst und vermochte nichts weiter zu tun als reglos auf die Gestalt zu starren und zu hoffen, dass er lediglich einer Einbildung erlag. 
Da hörte Tsam die Frösche quaken. Sein Herz setzte aus. Da wieder. Und er meinte, dass vielerlei Kleines um diese Gestalt hüpfte. Tsam sah das Wasser auseinander speien, wenn diese kleinen Körper im Wasser hüpften. 
Tsam war klar, dass dort draußen niemand war, dass dort draußen keine Gestalt Regen und Sturm trotze. Und dennoch sah Tsam sie, wie sie dastand und zu ihm aufblickte.
Da zerriss ein Blitz der Dunkelheit, und Tsam erkannte die dreckverschmierten, nassen Züge seines Bruders, dessen Mörder Tsam zu sein glaubte, und Maraim stand da und schien zu lachen, und bei jedem Blitz konnte Tsam Maraims höhnisches Lachen sehen. 
Tsam drehte sich zu dem schlafendem Mark um, wollte ihn wecken, ließ es dann aber, denn diese Gestalt dort draußen ob eingebildet oder nicht war nur seinetwegen gekommen, und Mark hatte damit nichts zu tun. Tsam war der Bruder des Phantoms, nicht Mark. 
Es galt, etwas zu unternehmen, vielleicht Maraim um Gnade anzuflehen. Doch wie sollte man etwas gegenübertreten, was aus dem Unbekannten kam? Ob Maraim geradewegs aus der Corrin-Höhle gekommen war, vom Drachen ausgespuckt, um Rache zu nehmen?
Ich gehe hinaus, dachte sich Tsam. Ich gehe hinaus und gebe mich ihm hin.
So ging er tatsächlich los. Wäre Mark wach gewesen, hätte er einen aufgebrachten, aber schlafwandelnden Tsam gesehen, der, schwer keuchend, aus dem Zimmer herausging, ohne zu wissen, was er tat. Und Mark hätte ihn wohl wecken können, wenn er ihn nur kräftig genug geschüttelt hätte.
Tsam ging die Treppe hinunter in die dunkle, dumpfe Küche. Er öffnete die Tür, Frische peitschte in die Küche, und Tsam ging mit nackten Füßen in die Nacht hinaus. Er trat schlurfend durch das Wasser, das mehr als knöchelhoch stand, und Haare und Kleidung waren nach Sekunden schon triefnass. Tsam ging auf etwas zu, was nicht existierte, doch für ihn war es vollkommen real. Er sah Maraim ein paar Meter entfernt stehen, und Frösche hüpften an diesem herab und fielen platschend ins Wasser zu seinen Füßen. Tsam sah Maraim in ein eigentümlich graues Gesicht, angesichts der Verwesung verzerrt, und er blickt in Maraims Augen voller Bösartigkeit. Tsam blieb stehen und sah ihn an. Er wollte wissen, was er zu tun hatte. Ein heftiger Windstoß riss ihn fast zu Boden, und als ein Blitz aufkam, erkannte Tsam Maden in seines Bruders Gesicht. Maraim sagte nichts, starrte ihn nur an aus toten, bösen Augen, umtobt von Gewitter und Kälte, und schließlich hob Maraim den rechten Arm und zeigte auf den Bach in der Ferne. Tsam nickte und ging, von Maraim gefolgt, dorthin, und als er dort war, drehte er sich zu Maraim um und sah ihn nicht mehr. Und schlagartig wurde ihm klar, dass es Maraim nicht mehr gab. Maraim war tot und existierte nur noch in seinem Kopf. Er wurde verrückt durch dieses Phantom, das das Dorf bedrohte. Und wenn diese Bedrohung nur in seinem Kopf existierte, war er, Tsam, die Bedrohung. Er sah zu dem Bach, der durch die starken Regengüsse zu einem Flus voller Gischt angeschwollen war. Tsam nickte und schluckte. Ja, Maraim war tot. Und er selbst war verrückt. Er sah zur schlafenden Echse herauf und erkannte nur Berge. Er bildete sich ein, in das klaffende Maul der Hölle zu sehen und sah nur eine Höhle. Er wurde sich bewusst, dass es keine Phantome gab außer in seinem Kopf. Sollten diese Phantome durch ihn leben, so würden sie mit ihm sterben. Und geistesverloren ließ er sich, gefolgt von Blitz und Donner, in das Wasser fallen. Und der Wind fegte die Kreise, die er auf dem Wasser hinterlassen hatte, fort.
Wind und Regen tobten um Morkus‘ Haus, und seine Frau lag in tiefem Schlaf. Er saß in der großen Wohnküche. Das Innere des Hauses lag in holzigem Geruch, und das Feuer, räucherte diesen Geruch. 
Morkus war müde, doch er konnte nicht schlafen, zu laut tobte es draußen. So saß er in der Wohnküche und beschäftigte sich mit allerlei Bildern, die das Feuer an die Wände malte. Es erschuf fremdartige Dinge aus dem Stuhl, aus den Stühlen, aus den Töpfen, die an einem Balken hingen, aus dem Balken selbst. Es ließ sie tanzen und flackern, lies sie verschmelzen und auseinander driften. Betäubt durch die Wärme und  das Flackern des Feuers und eingelullt in Müdigkeit, erkannte er Gestalten in den Schatten dort an den Wänden. 
So meinte er, Tirata zu erkennen, die mit all ihren Vorgängerinnen tanzte. Er sah Dinge, die so merkwürdig waren, dass er sie sich lediglich hinter den Bergen vorstellen konnte, wo nie zuvor ein Mensch gewesen war. Er sah große Vögel, die weit oben am Himmel flogen, so hoch, dass das Dorf nur ein kleiner Fleck war. 
Er dachte an das Bild, das den Mann zeigte: er fand, dass nichts Angsteinflößendes an ihm war, und er sah die Notwendigkeit, das Unglaubliche zu wagen. In die Tiefen hinabzusteigen, in die Tiefen des Berges, in die Tiefen ihrer Angst: hinein in die Höhle ! Wenn etwas Gutes darin war, dann wäre es gut, es zu entdecken, denn Gutes tat nichts Böses. Dann sollte sich offenbaren, dass all die Angst, die das Dorf beherrschte, unbegründet war.
Und sollte doch etwas Böses darin sein, das alles bedrohte, so war es den Versuch wert, dieses Böse zu finden und mit vereinten Kräften auszuschalten. So oder so: die Notwendigkeit bestand. Wenn das Böse darin herrschte und sich letztlich als unbesiegbar herausstellen sollte, dann konnte man noch immer fortgehen.
Eine innere Stimme fragte in ihm flüsternd: »Wohin?« Und im Halbschlaf, antwortete er im Geist: »Der Wind von Irgendwo wird uns schon treiben.« Morgen würde er mit den Leuten beraten, und Tirata würde ihm zustimmen. Niemand würde sich der Wahrheit, die in seinen Gedanken steckte, entziehen können. Es mussten nicht alle mitgehen auf die Entdeckungsreise! Aber er würde mitgehen!
Blitze zuckten, und fast augenblicklich darauf krachte ohrenbetäubender Donner, und Morkus fuhr hoch. Er hatte nicht geschlafen, vielleicht ein wenig gedöst, aber das nicht lange, das wusste er. Er hatte nicht einmal die Augen geschlossen.
Erneut betrachtete er die Schatten und meinte, den Mann aus der Höhle zu sehen, wie er in dem Buch gezeichnet war. Wer er wohl war? Und wer ihn wohl gezeichnet hatte?! Wer, wenn niemand aus dem Dorf? Wo war denn dieses Irgendwo, dieses Anderswo, wo der Mann lebte oder einst gelebt hatte? Warum war niemand darauf gekommen?
Und dann sah er Maraim.
Drohend, dick und furchteinflößend war er zu sehen als Schatten an der Wand, und Morkus erstarrte, und es blitzte und donnerte einige Male. Er saß auf dem Stuhl und sah Maraim in dessen schattenhaftes Antlitz an der Wand. 
Morkus umfasste seine Mistforke fester. Er konnte nicht verleugnen, dass sich sein Magen zusammenkrampfte und ihm der Schweiß ausbrach. Doch trotz allem konnte diese Schattengestalt nichts weiter sein als ein Schatten, ein Nichts! So stand Morkus trotz aller Angst auf, die Holzbeine des Stuhls schabten seufzend über den Holzboden. Es blitzte, alles wurde schlagartig blendend weiß und sofort darauf wieder feuerrot. Der Donner krachte. Morkus schritt auf den Schatten zu, der nach wie vor Maraim zeigte. All die anderen Dinge, die er aus dem Schatten erkannt hatte, waren längst wieder verschwunden. Tirata beim Tanz mit ihren Vorgängerinnen hatte er, nachdem er sie erkannt hatte, gleich wieder aus den Augen verloren, ebenso wie die Vögel und die anderen Dinge: Bären, Bäume, Häuser, Freunde, und auch den Mann aus der Höhle.
Doch Maraim war immer noch da.
Er stand nun zwei Meter von dem flackernden Maraimschatten entfernt und sah ihm ins Antlitz. Das Feuer brachte Maraims Augenhöhlen zum Brodeln, und Morkus war kurz davor, einen Schritt zurückzutun, doch dann entschied er sich anders. Er nahm seine Mistforke und stach auf den Schatten von Maraim ein, immer und immer wieder, und die Wand bekam Löcher über Löcher, und das Einfahren der Gabel ins Holz machte dumpfe Geräusche. Es blitzte, es gab einen gewaltigen Donner, und Morkus erblickte Maraim nicht mehr. Der Schatten war verschwunden.
Alles war verschwunden, und Morkus sah das erste Mal in seinem Leben klar.

Der Wind von Irgendwo – Kapitel 10: Beginn einer Odyssee komplett lesen

Mystery-Roman von Oliver Koch

Der Wind von Irgendwo von Anfang an lesen
Erst Kapitel 9 lesen

Wind strich über die Landschaft und brachte ersehnte Abkühlung. Er strich über die Landschaft wie schon seit Jahrtausenden zuvor, als die Berge noch schroffer gewesen waren. Der Wind formte die Landschaft, und er war wie ein schwer arbeitender Mann, der die Berge zu Hügeln abtrug, der Sand mit sich trug und so manche Skulptur schuf. Der Wind strich und strich und machte aus der Landschaft in Jahren, die kein Mensch zu überblicken vermochte, eine neue, eine sanftere; Höhlen und Gänge wurden gefräst, Steine geschliffen und ausgehöhlt, und in einer enormen Zeitspanne dann gingen die Steine in Wind über. Nichts trotzte ihm, nichts konnte sich ihm entziehen, wenn er, die Welt verändernd, über sie hinwegstrich und schliff und feilte, als wäre er mit der Welt nicht zufrieden. Der Wind war ein Künstler, der Jahrmilliarden lang schuf und schliff, und der, niemals mit dem zufrieden, was er schuf, stets damit beschäftigt war, seine Schöpfung perfekter werden zu lassen. So wie er schroffe Bergspitzen abtrug, so erschuf er auch so manche spitze Felsenkante, die dünner und dünner wurde und immer mehr anmutete wie eine schäumende Welle in brandender See.
Der Wind sollte erst dann zufrieden sein, wenn das Ende aller Tage gekommen war und nichts mehr da sein sollte, das es zu schleifen galt – wenn die Skulptur im Feuer der Zerstörung und Neuschöpfung geschmolzen und als Festes verlorengegangen war; erst dann sollte es keinen Wind mehr geben, der über die Lande strich und schuf und schliff und feilte und höhlte. Mit dem Vergehen der Skulptur verging auch der Künstler und würde dennoch nie versiegen, wenn ein anderer Teil von ihm ferne und unbekannte Skulpturen schliff über Milliarden von Jahren. Der Wind war unermüdlich und unsterblich, er, der Künstler von Skulpturen, deren Gesicht sich stets veränderte mit Epochen und Neuerungen. 
Auch nun kam er wohlig und unbekannt über die Welt und blähte das schlaff gewordene Segel des Schiffes des Lebens, mit dem sie auf eine Sandbank gelaufen waren.
Grüne Wellen brandeten um das Schiff und drückten es unermüdlich in eine bestimmte Richtung, und die Fische des Ozeans sprangen und hüpften aus der grünen und blütenbunten Gischt heraus, und etwas kam in Bewegung.
Mark stand mit Tsam nackten Fußes im Wasser des Bachs nahe dem Dorf und ließ seine Blicke über eine Landschaft wandern, die er erst nun mit all ihren Einzelheiten erkannte, die er erst nun mit all ihren Einzelheiten aufzusaugen begann und war verblüfft über die vielen Kleinigkeiten, die ihm nun auffielen.
Plötzlich war er in der Lage, eine Distanz zwischen dem Dorf und dem Frauenbaum zu sehen –  etwa so groß wie zweimal das Dorf hintereinander. 
Die Bergkette lag, sah man vom Dorf zu Tiratas Haus, zur Linken des Dorfes, und sie war noch sehr viel weiter entfernt; vielleicht zehnmal das Dorf hintereinander und dann noch drei Male zehnmal das Dorf. Die Bäume, die die Berge bewuchsen, bildeten einen Wald entlang der Berge, die immer wieder von einigen Strecken von fünfmal das Dorf unterbrochen wurde, und bewachsen mit Wildwuchs aus Wiese, Blumen und Büschen.
Die Felder und Koppeln reichten nur zweimal das Dorf weit zur Bergkette hin, dafür aber sehr viel weiter in alle anderen Richtungen. Der Bach, in dem sie standen, war nur einmal das Dorf vom Dorf entfernt, ebenso wie Tiratas Haus – und so stellte Mark fest, dass Tirata gar nicht so weit vom Dorf entfernt lebte, wie er immer angenommen hatte, wenn er darüber nachdachte, dass die Bergkette mit dem schrecklichen Schlund der Corrin-Höhle so viel weiter entfernt war.
Und diese Höhle: sie lag so weit oben wie drei Male zehnmal die Höhe der Bäume um Tiratas Haus.
Hinter diesem schwang sich Landschaft mit Waldstücken und Koppeln, sie sich dazwischen schmiegten, und wilde Wiesen. Es gab überall zahlreiche Baumgruppen, Büsche, Sträucher und Wiesen, die sich ohne jegliche Ordnung ideal ergänzten.
Hinter dem Dorf, also in entgegengesetzter Richtung, sah er einen großen, dichten Wald in einer Entfernung von etwa zehnmal das Dorf. Es war der große Wald, in den niemand einen Fuß hineinsetzte, weil dort Dinge und Wesen lauerten, denen niemand gewachsen war.
»Tsam«, sagte Mark plötzlich und ließ seine Gedanken fliegen, »diese Wiesen sind so groß, größer als die Felder, ist dir das schon mal aufgefallen?«
Tsam schüttelte den Kopf. Er interessierte sich auch nicht dafür, wenngleich er seinen Blick über die Landschaft gleiten ließ. Für ihn sah die Welt so aus wie immer. Alles um ihn war nichts anderes als das, was das Dorf umgab, ohne es näher bestimmen zu können.
Mark tat einen Schritt im Wasser und sagte kein Wort. Und wie sie so gingen, huschten neue Gedanken durch Marks Kopf, und sie kreisten um so Vieles. Die Böen trugen das Gezwitscher der Vögel zu ihnen herüber, wie auch das Rausches des Windes in den Bäumen und Büschen. Das Wasser plätscherte, und es war so erfrischend kühl, dass Mark meinte, selten etwas derart Angenehmes erlebt zu haben. Die Hitze der letzten Tage war furchtbar gewesen. Sie gingen mit nackten Füßen über Steine und Sand unterhalb des Wassers, und sie entfernten sich mit der Strömung vom Dorf.
Mark dachte an Sarah und den weinenden Himmel. Er hatte mit Tsam darüber gesprochen, der gemeint hatte, dass der Himmel kaum darüber geweint hätte, da »der Himmel bestimmt Besseres zu tun hat, als nur darüber zu heulen, was du machst«, und es war Mark einleuchtend vorgekommen. Schließlich kam er zu dem Schluss, dass gleichzeitig im Dorf etwas geschehen war, dass dem Himmel mehr Grund zum Weinen gegeben hätte, und Schuld und Unbehagen waren von ihm abgefallen. Zudem hatte Tsam ihm auch gesagt, dass es »nicht falsch war, was du getan hast. Was sollte daran falsch gewesen sein? Dann müsste der Himmel dauernd weinen, wenn es einer tut.«
Und Mark fühlte sich nicht mehr bedrückt, im Gegenteil, er fühlte sich bestätigt. Zugleich hatte er aber auch entdeckt, dass er Tsam nun nicht mehr so blind vertraute wie früher und Sarah öfter vor Augen hatte als andere. Künftig sollte es Dinge geben, die nur Mark wissen sollte, da er fand, dass Tsam fortan nicht in alles eingeweiht werden musste.
Tsam spürte dies wohl, nahm es aber nicht übel, zumal es ihm in ähnlicher Weise mit dem Mädchen Alka erging.
Der Bach schlängelte sich weiter, in unbekannte Fernen, und sie waren schweigend dabei, ihnen entgegenzugehen. Fliegen und Bienen umsurrten sie, und hin und wieder scheuchten sie sie mit einer lapidaren Handbewegung fort.
»Was ist eigentlich mit deiner Schwester?«, brach Tsam das Schweigen, blickte aber auf das in der Sonne glitzernde Wasser des sanft fließenden Baches.
Mark zuckte mit den Achseln. »Sie spricht mit Tirata wie mit Ihresgleichen. Wir haben wohl eine spätere Wahrsagerin im Haus.« Ihm schauderte bei dem Gedanken, wenngleich er einräumen musste, dadurch dem Geheimnisvollen einen Schritt näherzukommen. Jessica war so jung und kindisch im Gegensatz zu ihm, und wie sehr hatte er sich immer darauf berufen können, sie mit Blicken, Worten und Gesten jederzeit zur Räson bringen zu können. Nun war es seine jüngere Schwester, die schon von allem mehr wusste als alle anderen im Dorf zusammen. Er kam sich wie ein Tölpel vor, der sich Zeit seines Lebens nicht der Tatsache bewusst gewesen war, überhaupt gelebt zu haben. Er verglich sich mit einem Träumer, der alle Zeit im Dämmerschlaf gelegen hatte, der nach Trunkenheit die Menschen überfiel. Er hatte die Konturen der Dinge nicht gesehen, er hatte die Dinge selbst nicht erkannt, und erst nun öffnete sich langsam das Auge des Wachen in ihm, das begann, die Dinge so zu sehen, wie sie waren. So sah er den Bach vor sich, wie er sich durch das Land schlängelte, immer weiter dorthin, wo er niemals gewesen war, wo er vermutete, dass der Bach in ein finsteres Loch stürzte und tobte, wo alle Zeit endeten und alle Gedanken und alles Leben nichtig werden würde.
»Was wohl aus Maraim geworden ist«, fragte Mark in geistesabwesendem Ton in den Wind. »Vielleicht findet man ihn in der Corrin- Höhle.«
Tsam schluckte schwer. »Man wird ihn nie finden.«
»Glaubst du, dass er tot ist?«
»Ich weiß es nicht.« Eiskalte Wellen jagten ihm über den Rücken und Angst erfasste ihn. »Bewahre mich das Leben davor, dass man ihn findet, wie er tot daliegt.« Er stellte sich furchtbare Bilder vor, wie Maraims fetter Leib im Gras lag, umwölkt von Fliegen mit grünen Körpern und von Ameisen, die ihn langsam abtrugen. Er sah Maraim mit offenen und erstarrten Augen daliegen. Der Mund war offen wie die Corrin-Höhle, und Insekten fraßen seine Därme. Er sah Maraims Kleider im Wind flattern, er sah Verwestes, er sah an dem Kopf blanken Schädelknochen, auf dem grüne Fliegen saßen, und Tsam begann zu weinen. Angst übermannte ihn, Schuld lastete auf ihm, Ekel spülte in ihm hoch und so stand er da im Wasser des Baches und weinte plötzlich. Der Wind wirbelte seine Haare durcheinander, das Wasser umspülte seine Füße und Unterschenkel. Tsam sah in die Ferne, in die der Bach floss, und am Ende aller Wege sah er Maraims halbverweste Leiche, wie sie auf ihn wartete, um ihm mit knochiger Hand die Därme zu zerfetzen, während Tsam vor Schmerz und Panik schrie und schrie.
Sein Weinen war leise und Mark wurde bei dem Anblick schwer ums Herz. Aus Schmerz hatte er Tsam schon oft weinen sehen, wenn er sich an Dornen die Haut aufgerissen hatte oder auf einen Stein oder von einem Baum gefallen war. Aber wann hatte er ihn so weinen sehen wie nun? Mark wusste es nicht, und so stand er gelähmt da und sah Tsam an, seinen Freund, mit dem er die Kindheit verbracht hatte und das Erwachsenwerden erleben würde, bis der Tod kommen würde – und er sah ihn weinen, und Mark wusste nicht, was zu tun war. War bis vor ein paar Tagen eine Umarmung noch etwas Selbstverständliches gewesen oder etwas, das ihnen Spaß gemacht hatte, so wagte es Mark nun nicht mehr, Tsam nahezukommen, ihn zu berühren oder tröstend zu umarmen.
Der Wind umspielte sie beide und zog an ihren Haaren, und Mark stand mit trockener Kehle in zwei Metern Entfernung von seinem Freund, den er wie einen Freund liebte, den zu berühren es sich aber nicht mehr schickte.
Mark hob einmal kurz die Arme, gewillt, näher zu treten, doch er blieb stehen und schaffte es nach langer Zeit, ein kaum vernehmbares »Komm schon« hervorzupressen, das der Wind hätte sagen können, so leise und tonlos, war es. Doch Tsam hörte es nicht, und war sich im Klaren darüber ob er sich Mark um den Hals werfen sollte, oder ob es besser war, fortzurennen, da er sich schämte.
»Es ist nicht deine Schuld«, sagte Mark leise. »Ich war es, der den Vorschlag gemacht hat. Hasse mich dafür und sieh mich nie wieder an, aber fühl dich nicht schuldig.« Ein Kloß wuchs  in seiner Kehle. »Es tut mir leid, was ich getan habe«, gab er leise zu. »Ich hatte doch nicht wissen können, dass …«
Tsam wollte Worte sagen, für die er weder Kraft noch Luft besaß. Denn obwohl es Marks Idee gewesen war, hätte er nicht mitmachen müssen, er hätte allen den Streich ausreden können. So drehte er sich um und lief davon. Er schämte sich seiner Schwäche, vor Mark die Fassung verloren und geweint zu haben. Der Wind kam näher und näher, und er trieb alles davon wie Blätter eines Baumes im Herbst. Tsam drehte sich nicht zu Mark um, der noch immer im Wasser stand und ihm schweren Herzens nachsah und nun selbst Tränen vergoss. Und irgendwann einmal sollte oder konnte der Tag kommen, an dem Gewalt alles zerstörte –  und wurden mit der Zeit wieder zu dem, was sie waren und standen zu ihren Gefühlen.
Als Mark Tsam fortlaufen sah, stürzte für ihn der Himmel ein, denn es war ihm nicht möglich, ihm zu folgen.
Und während Tsam ins Irgendwo lief, um dort von der Weite und Stille beschützt zu weinen, ging Mark in die andere Richtung des Irgendwo, das unendlich und überall um das Dorf war. Er ging den Bach weiter, darauf wartend, den großen Schlund zu sehen, in den der Bach stürzte und wo alle Zeit, alles Leben und alle Gedanken endeten.

Tiratas Haus war und blieb mysteriös. Abgeschirmt von der Sonne stand es nahe an den Bäumen, die nur Unverständliches von sich gaben, das nur von dem, der sie verstand, gehört wurde.
Jessica war abermals bei Tirata und sah sich die vielen Dinge an, die Tirata darin aufbewahrte. 
»Je mehr du weißt, umso mehr tritt das Augenmerk für das wirklich Wesentliche in den Vordergrund. Wissen tötet Neugierde und weckt Interesse.«
Jessica wusste, was bevorstand. Sie wusste, dass man morgen aufbrechen wollte, um das Irgendwo zu ergründen. 
Tirata war hinter einem Regal verschwunden, in dem sich viele Bücher stapelten. Obgleich Jessica wie jeder andere im Dorf wusste, was Bücher waren, so war niemand außer der Wahrsagerin befähigt, zu lesen und somit zu ergründen, was sich Geheimnisvolles zwischen den Einbänden verbarg. Tirata holte nun eines dieser Bücher hervor, und Jessica sah darauf, als die Frau damit auf sie zukam. Das Buch war so groß, dass es Jessica von den Fingerspitzen bis zur Armbeuge gereicht hätte. Da das Sonnenlicht keinen direkten Weg ins Haus hatte, war es zwielichtig im Raum, als Tirata sich zu ihr setzte und das Buch vor sich auf den Tisch legte. »Früher einmal gehörten Bücher zum normalen Leben«, begann Tirata, »und jeder konnte sie lesen. Nun, und das tat man auch.«
Jessica sah auf das Buch, das ihr nichts bot. »Und was stand darin?«
»Das kam auf das Buch an. Tatsachen, Ratgeber, aber auch Geschichten, und die haarsträubendsten dazu. Früher einmal zog man Wissen und Freude aus den Büchern.«
»Und warum jetzt nicht mehr?«
Tirata sah Jessica an und sagte lange Zeit nichts. »Nun, die Zeit können wir nicht aufhalten. Wenn es Zeit wird zu schlafen, gehen wir schlafen. Ist es Zeit, die Felder zu bestellen, bestellen wie die Felder. Und ist es Zeit zu sterben, dann sterben wir. Die Zeit bestimmt unser Leben, und wir, die wir nicht Herrscher der Zeit sind, sind ihre Sklaven. Wir fügen uns. Es muss so kommen, und es kam so. Die Zeit hat es bestimmt.«
Jessica verstand nicht viel von dem, was Tirata ihr sagte. »Aber warum sagen wir nicht einfach, dass wir uns nicht von der Zeit bestimmen lassen wollen?«
Über das faltige Gesicht Tirata huschte der Anflug eines Lächelns. »Wenn ich der Zeit sagen könnte, dass sie stillstehen solle, würde ich nicht älter. Und ohne Älterwerden kein Sterben – und das widerspricht der Natur. Alles vergeht einmal. Irgendwann werden Bäume schwach und morsch. Irgendwann begräbt ein Erdrutsch eine Wiese. Irgendwann versiegt ein Fluss. Und das ginge nicht ohne die Zeit. Was, wenn wir nicht stürben? Dann wären wir lebendig auf alle Zeit, und wir könnten denen, die nach uns kommen, sagen, was zu tun wäre und was sie lieber lassen sollten.«
»Das wäre doch gut, oder?«
»Der Mensch ist nicht zum Perfektsein geboren. Erst das, was nach ihm kommt, wird es sein.«
»Und was wird das sein?«
»Unsere Nachkommen in weiter, weiter Zukunft. Aber dann sind sie keine Menschen mehr – dann sind sie Götter.«
Wieder verstand Jessica nicht viel, doch sie vermied es, nachzufragen. Sie wollte ein kluges Kind sein, das mehr und mehr erfuhr, solange es nur so tat, das zu verstehen, was man ihm sagte.
Tirata wusste, wovon sie sprach. »Wenn morgen ein paar Männer aufbrechen, dann wird dies ein Schritt dahin sein. Aber was suchen sie, was meinst du?!«
Jessica überlegte. »Sie gehen in den Wald.«
»Und was sollten sie dort finden?«
»Böse Geister?«
»Vielleicht. Was noch?«
»Böse Schatten?«
»Möglich. Was noch?«
»Wölfe?«
Tirata winkte ab. »Was, wenn sie nichts anderes finden würden als einen Wald, der so aussieht wie ein Gruppe von Bäumen, wie sie überall stehen und wachsen, und zwischen denen Gras auf dem Boden wächst oder Pilze, oder zwischen denen einfach nur Laub liegt? Was, wenn in diesen Bäumen nichts anderes haust als die Vögel, die wir alle schon kennen?«
Jessica schürzte die Lippen. Für sie sah der Wald anders aus, und es überstieg ihre Vorstellungskraft, glauben zu können, dass nichts Böses darin war. Schließlich hatte es immer so geheißen, dass dort Böses hauste. 
»Was ist Wahrheit, Jessica? Das, was alle erzählen, oder das, was wirklich wahr ist?«
Jessica sah Tirata an und verstand die Frage nicht.
»Stell dir vor«, fuhr Tirata fort, »jemand sagt, dein Pepe wäre kein Mann, sondern eine Amsel.«
Jessica kicherte und fand die Vorstellung daran lustig. »Ich aus einem Ei, und Mama als Glucke darauf …«
»Bleib ernst, Jessica«, ermahnte Tirata, und Jessica fuhr zusammen. Tirata sagte weiter: »Jemand sagt, dein Pepe Lorn wäre eine Amsel. Was würdest du ihm darauf sagen?«
»Dass mein Pepe mein Pepe ist. Und keine Amsel.«
»Warum kann er keine Amsel sein?«
»Weil ich weiß, dass er keine ist.«
»Nein, nicht nur das, Jessica. Weil du ein Mensch bist, und dein Vater auch. Und eine Amsel ist kein Mensch, sondern ein Vogel, eine Amsel. Also hat der, der das gesagt hat, doch gelogen, oder?«
Jessica nickte.
»Siehst du. Wenn jemand sagt, du seist Mark, dann sagst du doch, dass du Jessica bist. Weil du ein Mädchen bist und Mark ein Junge, kannst du nicht Mark sein. Auch der, der sagt, dass du Mark bist, hat gelogen – oder er weiß es einfach nicht anders. Verstehst du den Unterschied zwischen der Wahrheit und dem, was man sagen kann?«
Jessica verstand und nickte. 
»Verstehst du jetzt auch, warum der Wald nicht böse sein muss, nur weil alle sagen, er wäre es?«
Wieder nickte Jessica.
Tirata klatschte befriedigt in die Hände. »Sehr gut. Jetzt nehme ich dich mit auf die Odyssee.« »Was ist eine Odisee?«
»Odyssee. Eine Reise. Ein Abenteuerspaziergang. Morgen, wenn die Neugierigen aufbrechen, brechen auch wir auf. Und jetzt geh zu deiner Familie nach Hause. Wir sehen uns morgen.«

Im Sonnenuntergang herrschte Stille in Lorns Haus. Weder Mark noch Jessica waren bisher gekommen, und obwohl sich Lorn und seine Frau nie um ihre Kinder gesorgt hatten, so war diesmal alles anders. 
Die Kinder spielten nicht draußen, und es war so seltsam still, dass Lorn meinte, er sei allein im Dorf.  Seine Frau war bei Nachbarn und sponn dort Fäden.
Auch er sollte morgen dabei sein, wenn man aufbrach, um ein wenig von dem Irgendwo zu sehen, das überall um sie herum war, Und wie üblich, konnte Lorn, verstrickt in die Ereignisse wie alle anderen, die Gründe für Aufbruch und Veränderung nicht recht nachvollziehen. Im Dorf, in dem alles seinen gewohnten Gang gegangen war, war eine Veränderung über Jahre hinweg schon schnell, so dass die Veränderungen der letzten Tage ein wahre Flut an neuen Eindrücken heraufbeschworen hatte, die niemand mehr verstand. Die Ereignisse waren ihnen allen aus den Fingern geglitten, und sie konnten nichts anderes tun, als auf den Wind von Irgendwo zu warten.
Die Tür öffnete sich und er drehte sich um. Im durch die Türöffnung fallenden Sonnenschein sah er eine kleine Silhouette Jessicas, um deren Konturen die Strahlen der Sonne leuchteten wie um eine Erscheinung aus einer anderen Welt.
Lorn saß mit verdrehtem Hals auf dem Stuhl und fühlte seine Kehle trocken werden. 
»Hallo, Pepe«, sagte die Gestalt, und als sie  aus dem Licht heraus- und in das Haus hineintrat, sagte Lorn nichts. Er sah sie nur befremdet an.
»Gehst du morgen auch mit den anderen?«, fragte Jessica unbekümmert und setzte sich zu ihm an den Holztisch.
Lorn saß da und starrte sie an. Er konnte das, was er empfand, nicht in Gedanken, geschweige denn in Worte fassen.
Jessica saß am anderen Ende des schützenden Holztisches und blickte ihn fragend an. Sie sah genauso aus wie früher zu Zeiten, da sie noch seine Tochter gewesen war. Aber nun suchte er Beweise in ihrem Gesicht, die darauf hindeuteten, dass sie verwandelt worden war.
»Pepe. Ist dir nicht gut?«
Es war so gespenstisch still im Haus, dass Lorn das Herz bis zum Hals schlug.
»Wo ist Mama?«
»Weg«, antwortete er geistesabwesend.
»Und Mark?«
»Weiß nicht.«
»Was ist mit dir?«
Wenn er es gewusst hätte, wäre er in der Lage gewesen, es zu überwinden, aber dieses Wesen da am anderen Ende des Tisches … – es sah aus wie Jessica, sie sprach wie Jessica. Aber da sie freiwillig zu Tirata gegangen war, war sie nun eine andere. Nicht mehr seine Tochter. In ihren Augen lag nun etwas Anderes, Neues. Er konnte daran erkennen, dass sie nun von Dingen wusste, die Tirata wusste und sonst niemand. Dingen, die sie verändert hatten. Er sah, wie Jessica ihn anblickte. Das Unschuldige, Kindliche war aus ihrem Blick verschwunden. Er hörte es in ihrer Stimme: Da schwang etwas mit, das er nie in Jessicas Stimme gehört hatte. Bislang hatte ihre Stimme stets nach kindlicher Neugier, kindlicher Unsicherheit, manchmal auch kindlichem Trotz geklungen, wie es sich für eine Kinderstimme gehört hatte.
Doch nun klang ihre Stimme anders. Wie sie ihn schon mit »Hallo, Pepe« begrüßt hatte. Wie eine Erwachsene hatte das geklungen, als sei Tirata in sie eingefahren und hätte aus ihr gesprochen. Wie reibend ihre Frage geklungen hatte, ob auch er morgen mit den anderen aufbräche. Und diese Mischung aus Fürsorge und Zweifel, ob etwas mit ihm sei.
Was Tirata auch immer seiner Jessica angetan hatte, es hatte sie ihm genommen, sie ersetzt gegen etwas anderes.
Er hörte sein Blut in den Ohren pochen. Es gab Geschichten von diesen ausgetauschten Menschen, die die Vorgängerinnen von Tirata immer wieder ins Dorf zurückgeschickt hatte. Diesen Ausgetauschten, die so verändert waren, dass man ihr Wesen nicht mehr wiedererkannte.  Dass solch ein Wesen eines Tages in seiner Hütte stehen könnte, hatte Lorn nie für möglich gehalten.
»Wie war’s bei der Hexe?«, fragte Lorn nun mit erstickter Stimme wissen.
»Sie ist keine Hexe. Sie ist eine ganz normale Frau, die mehr weiß als wir. Mehr nicht.«
»Und was weißt du, was wir nicht wissen?«
»Sie hat mir viel erzählt.«
Lorn schauderte es. Er sah sich nachts in seinem Bett in schrecklichen, unwirklichen Träumen wälzen, in denen er von Dämonen auf Knochenpferden gejagt wurde, denen roter Dampf aus den Nüstern stob. Die Kreaturen auf den Pferden schwangen Sensen, an denen Blut klebte, und er sah sie mordend durch das Land ziehen, sah seine Nachbarn, Freunde und seine Familie mit Ausnahme Jessicas vor Angst schreiend durch das Dorf rennen, gehetzt von reitendem Tod und Moder, der die Menschen im Laufen zerfetzte, die Arme, Beine und Köpfe abschlug, seinem Sohn eine Axt in den Schädel rammte, dass Blut und Hirn eben ihm ins Gesicht spritzte, der daraufhin schrie und schrie, bevor er von einer Kreatur fortgetragen wurde, fortgetragen aus dem Dorf der Zerstörung, in dem zerfetzte Leichen zwischen brennenden Häusern auf dem Boden lagen, hingetragen zu Tiratas Haus, wo Jessica lachend saß und anordnete, dass man ihm das Herz aus dem Leibe reiße. 
»Warum bist du nicht dort geblieben bei der Hexe?«, wollte er leise wissen, nicht wissend, wie sehr er damit seiner Tochter das Herz zerriss.
Jessica schluckte. »Weil es spät ist und ich nach Hause kommen wollte.«
»Ist dein Zuhause denn noch hier? Was willst du hier? Deine Sprüche aufsagen und uns verzaubern?«
»Tirata kann doch gar nicht zaubern«, verteidigte sich Jessica und spürte Tränen aufsteigen.
»Geh zu deiner Hexe. Geh zu ihr, wo jetzt dein Zuhause ist. Hier ist es nicht mehr. Und du bist nicht meine Tochter. Du bist jetzt ihre Tochter.«
»Aber Pepe …«
»Raus hier!« schrie er, so laut er konnte. Dabei schossen ihm Tränen in die Augen. Der Gedanke, nun ein Wesen zu sehen, das sich als seine Tochter Jessica ausgab, aussah wie sie, ohne sie wirklich zu sein, war für ihn reinste Folter. 
Jessica zitterte weinend. »Pepe. Pepe!«
Lorn war außer sich. »Raus hier! Raus hier! Ich will dich nicht sehen! Verschwinde!« Und er weinte wie seine Tochter, die er nicht mehr als solche betrachtete.
Jessica lief aus dem Haus und sah nur die Möglichkeit, ihre Mutter zu suchen, die sich in irgendeinem Haus aufhielt, und so lief sie zu dem Nachbarhaus. Die Bewohner, die sich gut kannte und die sie gut kannten, sahen sich erschrocken um, und der Schrecken wollte auch nicht aus ihren Zügen weichen, als sie wussten, wer hereingestürmt war. Als Jessica mit heller, erstickter Stimme nach ihrer Mutter fragte, sagten sie ihr: »Tirata ist in ihrem Haus. Verschwinde.«
So erging es ihr in allen Häusern. Sie konnte nicht ahnen, dass sich ihre Mutter versteckt hielt, als sie sah, wer angelaufen kam. Sie weinte in ihrem Versteck, denn sie hatte keine Tochter mehr.
Und Jessica erfuhr den Preis, den man hier für das Wissen bezahlen musste.

EPISODE:
HERRIN DER ZEITEN

Längst Vergangenes dämmerte herüber, längst Verlorenes. Jessica war eingeweiht worden, indem Tirata ihr Stund um Stund berichtet hatte, was sie waren und woher sie kamen. Und all dies war so unfassbar gewesen, dass all das, was sie gehört hatte, zu ihr in den Schlaf kam und sie sanft weckte. Es rief ihren Namen, leise, flüsternd. »Jessica. Jessica. Wach auf.«
Sie wachte auf und lauschte der Zeit, die sie geweckt hatte.
»Komm, Kind«, sagte die Zeit, und sie war freundlich. »Ich nehme dich mit auf eine Reise.«
Wohin sie denn ginge, wollte Jessica wissen.
»Ins Irgendwo«, sagte die Zeit und streckt ihre Hand aus. Und für Jessica begann eine Reise durch die ewige, allgegenwärtige, stets verstreichende Zeit.
Die Reise ging weit, weit zurück, weiter, als man es sich vorstellen konnte.
Sie sah Glut, Feuer und gnadenlose Hitze. Heftige Stürme jagten über das junge Land, und viele Tiere rasten über den Planeten. In einer Sekunde wurden sie erschaffen und lebten und bevölkerten, in der nächsten starben sie aus und waren auf ewig verschwunden.
Dann erkannte sie ihr ähnliche Wesen, und die Zeit sagte ihr, dass dies Menschen wie sie seien, nur dass diese sehr viel früher gelebt hatten.
Diese Wesen, die ihr so ähnlich waren, machten sich die Welt untertan, sie lebten mit ihr, von ihr, aus ihr.
Sie sah wilde Formen und Menschenmassen, sie sah Dinge, die sie noch niemals zuvor gesehen hatte und war verwundert darüber, dass all dies schon einmal da gewesen war.
Die Menschen waren im Himmel, über der Welt und bald gar über den Himmel hinaus. Und das, was die Menschen dahin trieb, machte aus ihnen selbst etwas anderes. Ihr Denken stockte zum einen und verselbständigte sich zum anderen, und immer wirrer und schlimmer wurde das, was kam. Die Zeit, die raste, war mit den Menschen, wie es schien, denn diese wurden immer großartiger und besser, aber zugleich war die Zeit auch zu langsam. Es war, als hätte eine göttliche Intrige, die von solch hoher Stelle eingefädelt worden war, dass niemand sie verstand, die Menschen in eine Sackgasse getrieben, denn ihr Wissen wuchs schneller heran als ihre Fähigkeit, mit all den Auswirkungen des Wissens umzugehen.
Es waren diese Auswirkungen, die die Menschen, zerrüttet und von verschiedenen Glauben getrennt, zum Aufbruch trieben in ein anderes Zeitalter. Nach einigen Generationen hatte man die Herkunft vergessen, und nur einige wussten noch von ihr. Sie hatten sich dereinst in einer Höhle versteckt vor all denen, die sie niederstrecken oder mitnehmen wollten, und erst nach langer Zeit wagten sich die Menschen wieder hinaus.
»Siehst du«, sagte die Zeit, als der farbige Strudel der unglaublichen Veränderungen langsam im Hier und Jetzt zum Stehen kam, »so ist es gekommen, wie Tirata gesagt hat. Und es wird noch anders kommen. Der Wind von Irgendwo kennt keine Grenzen, und er wirbelt hin und her. Mal kommt er, mal geht er, mal verschwindet er, mal kehrt er zurück.«
Und Jessica fiel wieder in ihren tiefen Schlaf.

Ende des 10. Kapitels – Der Wind von Irgendwo geht weiter mit Kapitel 11: Die Geißel der Angst

Der Wind von Irgendwo – Kapitel 9: Am Feuer komplett lesen

Mystery-Roman von Oliver Koch

Der Wind von Irgendwo von Anfang an lesen
Erst Kapitel 8 lesen

Der Abend brach mit einem blutroten Sonnenuntergang an. Die untergehende Sonne ließ die Zwischenwesen aus den Schatten erschienen, die immer größer wurden, je tiefer die Sonne sank. Sie zündeten ein Feuer an und es war in der hereinbrechenden Nacht wie eine Insel in allumfassender Verlorenheit, um die sie saßen wie und nicht mehr weiter wussten.
»Ich habe meine Frau, meine Kinder, und eigentlich bin ich glücklich«, sagte ein Mann am Feuer, und alle lauschten seinen Worten, die das Knacken des Holzes übertönten, und alle, wirklich alle hatten sich versammelt. Dieses Feuer war zu wichtig, um ignoriert zu werden. Der Mann sprach weiter, während alle wie betäubt ins Feuer blickten: »Ich bestelle meine Felder wie alle anderen auch. Ich mache all das, was alle anderen auch tun, und das Zeit meines Lebens. Hat es mir geschadet? Nein. Ich bin glücklich. Ich habe alles, was man zum Leben braucht. Wir haben gefüllte Speicher, wir haben Scheunenböden mit Räucherfleisch, dass wir lange Zeit davon essen können. Wir haben nichts zu befürchten.«
In der einkehrenden Pause flüsterte nur das Feuer. »Und doch bin ich nun nicht mehr so glücklich wie sonst«, sprach er weiter, und seine Worte fraßen sich durch das Menschenrund.. »Wir bestellen noch immer die Felder, versorgen noch immer die Tiere und tun noch immer genau das, was wir schon immer taten, und was unsere Eltern und deren Eltern taten. Und doch ist es nun anders.«
»Wir sind nicht mehr glücklich«, meinte jemand.
»Und warum sind wir nicht mehr glücklich? Weil etwas auf uns zukommt. Weil sich etwas nähert.«
»Ich spüre etwas von Irgendwo.«
»Und was ist es?«
»Ich weiß es nicht. Ich weiß es nicht.«
»Aber ich weiß es«, ertönte da plötzlich eine Stimme, und alle schraken auf. Aus der Dunkelheit schälte sich die Figur Tiratas aus der Dunkelheit wie aus einem Vorhang auf die Bühne des Geschehens, und die Herzen aller Anwesenden – einschließlich Jessicas – blieben kurz stehen.
Tirata gesellte sich zu ihnen, und man rückte aus Angst näher zusammen, um ihr Platz zu machen. Sie setzte sich wie alle anderen auf den Boden und reihte sich ein in das Menschenrund. Alle Augen waren auf sie gerichtet und niemand wagte es zu fassen, dass Tirata, die Wahrsagerin, in ihrem Kreise saß wie alle anderen. 
»Neue Zeiten brechen an, in der Tat«, begann Tirata mit erhobener Stimme, auf dass jeder sie verstand. »Warum sie nun gerade kommen, vermag ich nicht zu deuten, aber dass sie kommen, das ist sicher.«
»Aber was ist es?«, fragte Morkus. »Ist es der Mann aus der Höhle, der in meinem Buch ist?«
Tirata blickte in die Runde und sah die betäubten Blicke, die versteinerten Gesichter und die ins Leere laufenden Gedanken und sprach: »Das Neue ist immer wie der Wind, der über das Land zieht. Unvermittelt setzt er ein, und niemand weiß genau, aus welcher Richtung er genau kommt. Ein Wind kann unterschiedlich sei: er kann leicht über das Land gleiten und Erfrischung bringen. Er kann Kälte bringen, er kann stark sein und Bäume entwurzeln. Die Gräser machen es uns vor: sie neigen sich mit dem Wind, die bieten ihm nicht die Stirn. Sie lassen sich beugen.«
»Aber warum will uns der Wind beugen?«
»Weil es wohl an der Zeit ist. Er kommt einfach und geht wieder. Er sucht sich keinen bestimmten Zeitpunkt aus.«
»Aber warum verschont er uns nicht?«
»Warum sollte er? Warum sollte uns dieser Wind verschonen?«
»Warum nicht? Bisher hat uns dieser seltsame Wind doch auch verschont.«
»Ich sagte doch, dass er kommt, wann er will, und nun ist es an der Zeit. Und wir sollten wie die Gräser sein.«
»Ich will mich nicht beugen. Und vor was? Was bringt uns dieser Wind?«
»Auch das sagte ich schon.« Tiratas Worte ließen das Menschenrund zusammenrücken. »Veränderung. Neues. Es muss einfach so sein. Es kommt einfach grundlegend Neues.«
»Woher kommt dieser Wind?«, fragte der alter Mann.
»Wie du es schon eben gesagt hast. Von Irgendwo. Von Ich-weiß-es-nicht. Aber von irgendwo kommt er.«
»Wer schickt ihn?«
»Jemand. Etwas. Vielleicht erfahren wir es, wenn er kommt oder über uns hinweggegangen ist.«
»Kommt er aus der Corrin-Höhle?«
»Vielleicht kommt der Wind, um euch hereinzublasen.« Das blanke Entsetzen jagte durch den Kreis. »Ich habe von Morkus‘ Buch gehört. Und ich weiß auch von dem Gedanken, in die Corrin-Höhle gehen zu wollen. Vielleicht will das der Wind.«
»Warum sollte er das wollen?«
»Damit ihr es selbst herausfindet, was in ihr ist.«
»Es kann doch sein, dass dort dieser Mann ist, der uns Gutes tun will«, meinte Morkus schnell. »Und wenn nicht der Mann, dann Etwas, das so ist wie der Mann.«
»Aber das ist eine heikle Sache«, widersprach der alte Mann. »Seit ich zurückdenken kann, hat sich niemand von uns auch nur in die Nähe der Höhle getraut. Und ich habe nie gehört, dass irgend jemand es außer den Wahrsagerinnen versucht hat.«
Tirata ergriff das Wort. »Und warum hat es niemals jemand gewagt? Was meint ihr, dort zu finden, ginget ihr hinein?«
»Böses«, antwortete der Mann aus tiefster Überzeugung.
»Und dieses Böse«, meinte Tirata, während sie ihn mit funkelnden Augen anblickte, »hat welche Gestalt deiner Meinung nach?«
»Ich bin nie dort gewesen und habe es deshalb nie gesehen, und bei allen Mächten, ich möchte verdammt sein, wenn ich es sehen wollte.«
»Verdammt seid ihr ohnehin schon, sonst wäret ihr nicht dort, wo ihr jetzt seid: kauernd und ängstlich um ein Feuer sitzend und sich den Kopf darüber zerbrechend, was Furchtbares und Unaussprechliches in diesem tiefen Loch im Berg ist. Wäret ihr nicht verdammt, wüsstest ihr schon längst, woran ihr wäret.«
»Willst du uns etwa vorwerfen, dass wir feige sind?«, wollte der alte Mann von Tirata wissen. »Dass wir all die Jahre über zu feige gewesen sind, um in die Corrin-Höhle zu gehen?«
Tirata sah in die Runde und sah die fragenden Blicke. »Nun, jeder ist für sich selbst verantwortlich, nicht? Warum seid ihr nicht gegangen? Habe ich jemals gesagt, dass ihr es nicht dürftet? Habe ich euch jemals gesagt, dass euch Schlimmes darin erwartet? Ich habe nur gesagt, dass dort viele Geheimnisse lauern. Wenn ihr meint, den Geheimnissen entkommen zu wollen, so ist das eure Entscheidung und die Konsequenzen euer Problem. Ich bin nur zur Erklärung der Bilder hier, die ihr seht. Ginget ihr in die Höhle, sähet ihr Fremdes, und es dürfte euch fürchten, weil es euch zeigen wird, wer ihr seid und was ihr seid.«
»Willst du uns jetzt locken? Willst du, dass wir darin sterben? Dass wir aufgefressen werden von den Monstern, die darin lauern, und mit denen du einen Bund geschlossen hast?«
»Ihr werdet dort nicht gefressen werden, und von Monstren weiß ich nichts. Ich weiß nur, dass etwas kommen wird, und ich weiß auch, was einst gekommen war. Ihr – ihr seid nichts. Ihr kennt eure Namen und die aller im Dorf, und ihr kennt eure Furcht, aber vor was ihr euch fürchtet, das wisst ihr nicht. Und ich stehe mit niemandem im Bunde, ihr Verrückten. Wahrscheinlich war es bisher immer besser, dass euch das vorenthalten geblieben ist, was sich um euch befindet, aber nun, da es wohl an der Zeit zu sein scheint, dass es sich euch offenbart, meine ich, dass es vielleicht besser gewesen wäre, es würde sich nicht zeigen, es würde nicht kommen. Ihr verdient vielleicht keinen Wind. So bleibt nur sitzen und fürchtet euch weiter. Aber nehmt euch ein Beispiel an dem Kind Jessica, die mutig ist, die wissbegierig ist, und die, wenn ihr so weiter bleibt, meine Nachfolgerin sein wird.«
Lorn schnürte es die Kehle zu, wie auch seiner Frau, die beide sich beide vorstellen wie ihre Tochter erst in Scherben fiel, um dann von einer Dämonin zu etwas Fremdartigen wieder zusammengesetzt zu werden, das nichts mehr mit dem gemein hatte, was sie einmal gewesen war.
»Der Zahn der Zeit nagt an euch. Und der Wind von Irgendwo, er kommt, ob ihr wollt oder nicht. Er ist schon da, Ihr spürt schon seine Vorboten. Ihr könnt euch nicht dagegen wehren.« So ging Tirata wieder ins Dunkel und ließ die Menschen allein am Feuer, das immer kleiner wurde, je weiter sie sich von ihm entfernte. Die Dunkelheit um sie herum schien immer größer und allumfassender zu werden.
Jeder hing seinen eigenen Gedanken nach, und alle gingen in die selbe Richtung. Sie alle sahen einen Wind von Irgendwo auf sich zukommen, und die Gräser und Bäume neigten sich unter ihm. Dieser Wind war für sie so entsetzlich, dass er alles mitriss in diesen Gedankenbildern, auch ihre Kinder riss er mit, auf dass sie panisch schreiend für immer verschwanden. In ihren Gedanken wallte um ihre kleine Welt ein Ozean aus schwarzem Pech, der an die Rückseiten der Berge brandete und alles unter sich begrub, und den man erst sehen konnte, wenn man weit genug vom Dorf fortging. Sie sahen sich als Insassen auf einem schwankenden Floß, das auf einem unbeständigen, riesigen Wasser allen Stürmen und Gezeiten ausgesetzt war. Der Wind: würde er doch fortbleiben!
Würde dieser Wind doch im unbestimmten Irgendwo im seligen Nichts verlaufen!
Ihre Welt, ihre kleine Welt, die nun nichts war außer dem orangener Schein ihres Feuers: sie bot keinen Schutz mehr. Ein Wind konnte ihre Häuser niederreißen, ihre Tiere fortwehen, ihre Getreidespeicher zerstören und die Ernten vernichten. 
»Der Wind von Irgendwo wird kommen«, flüsterte einer.
»Und er wird hinter uns her rennen«, meinte ein anderer.
»Und er wird uns ein Loch in unser Leben blasen«, schloss ein Dritter.
Und sie alle wussten, dass sie nichts dagegen unternehmen konnten.
»Vielleicht hat Tirata recht«, sagte Morkus. »Es kann doch nichts Schlimmes daran sein, in die Höhle zu gehen. Tirata hat nicht gesagt, dass dort tatsächlich etwas Schlimmes ist.«
»Und wenn doch?«
»Dann werden wir es sehen. Es kommt doch sowieso.«
Schweigen trat ein, und wieder flogen die Gedanken der Menschen wie die Funken des Feuers.
Hinauf in die Höhen, hinauf in die Sphären, in die selten ein Mensch sich vorgewagt hatte. Sie stiegen auf in Höhen, die sie nur von Erzählungen her kannten, und sie waren wie die Feuerfunken, die der Wind mit sich trug, mit sich trug zu fernen Dingen, und sie sahen vor ihren Augen Häuser, die es nicht gab oder doch irgendwann einmal gegeben hatte, und sie begannen sich zu fragen, wer wohl, was wohl diese Häuser errichtet haben mochte und wer wohl darin gewohnt hatte oder gar noch wohnte. Und wo dieses Irgendwo, sofern es existierte, wohl war; jedenfalls nicht bei ihnen im Dorf, das wussten sie alle. Sie wurden alle zu Funken, die der Mensch mit sich trug, und sie sahen auf die Corrin-Höhle hinab und taten so, als wären sie schon darin gewesen und stellten fest, wie stolz sie sich fühlten, wie gut und überlegen. Ja, vielleicht gab es Anderes, und sie stiegen höher und höher, hinauf in die Höhen, in die der Wind von Irgendwo sie trug, und sie alle blickten über die Berge hinweg und sahen den großen Wind von Irgendwo kommen, sie alle sahen ihn kommen.
»Der Wind von Irgendwo wird kommen«, meinte der alte Mann.
»Nein«, widersprach jemand, »er ist schon da. Er ist schon dabei, uns ein Loch in unser Leben zu blasen.«
»Ist es denn einfach ein Loch? Wird es nicht gestopft durch die Dinge, die der Wind mit sich trägt?«
»Wie auch immer. Wir können uns nicht wehren.«
»Werden wir also wie Gras.«
»Beugen wir uns.«
»Hinein in die Höhle.«
»Wer weiß, was uns Neues offenbart wird.«
»Denn ob wir wollen oder nicht – kommen wird er so oder so; gehen wir ihm entgegen.«

Ende des 9. Kapitels – Der Wind von Irgendwo geht weiter mit Kapitel 10: Beginn einer Odyssee

Der Wind von Irgendwo – Kapitel 6: Der Himmel weint komplett lesen

Mystery-Roman von Oliver Koch

Der Wind von Irgendwo von Anfang an lesen
Erst Kapitel 5 lesen

Mit dem Abend kam der Wind, der die Hitze wegfegte, und vom Himmel begannen die Sterne zu leuchten. Die Akteure und Komparsen traten auf. Sie kamen aus ihren Häusern – nicht alle gleichzeitig; aus Jasefs Haus kam Jasef selbst, schritt durch die Dunkelheit und die von den Grillen untermalte Stille und klopfte an ein anderes Haus, in dem er kurz verschwand und nach einiger Zeit mit einem Begleiter wieder erschien, um ans nächste Haus zu klopfen; und mit einem Mal war fast das ganze Dorf versammelt.
Ein Feuer wurde angezündet, und die orangeroten Flammen stachen wärmend in den Himmel, und das Universum, ausgebreitet als ruhiges Publikum in schwarzem Stoff und Pailletten, wurde aufmerksam auf den kleinen, strahlenden, flackernden Punkt inmitten der Bühne vor interessiertem Publikum in versteckten Logen.
Eine Tradition wurde fortgeführt: das Feuer! Mehrmals in der Woche wurde es gezündet, und Männer und Frauen begannen zu reden und zu erzählen, und viele Männer und Frauen sahen viele Dinge. Welche, die sie zu deuten nicht in der Lage waren. Welche, die geheimnisumwittert in der Umgebung und den Köpfen der Menschen spukten. Das Feuer war das Herz des Dorfes. Es gab da nichts, was wichtiger gewesen wäre. Es gab da nichts, was aufregender gewesen wäre. Wenn das Feuer inmitten des spinnenartigen Körpers des Dorfes zu knistern begann, schlugen alle Herzen des Dorfs im Gleichklang. Je nach Geschichte langsam und friedlich oder schnell und gehetzt. Dann hetzten Furcht und Aberglaube die ansonsten ruhigen Menschen von einer Paranoia in die nächste.
Nun leckte das Feuer gierig am Holz. Die Gesichter orangerot und flackernd, saßen sie um das Feuer und hörten zu, wie Jasef, einer der alten Männer mit dem Knistern sprach: »Ich spüre Fremdes in unserer Gegend. Etwas ist nicht mehr wie früher.« 
»Was meinst du, was es ist, Jasef?«, fragte jemand.
Dieser schüttelte nur den Kopf. »Ich kann es nicht sagen. Aber ich sage euch: spürt ihr nicht den Atem des Fremden? Habt ihr nicht bemerkt, wie der Himmel in letzter Zeit weint?«
»Ich habe vor einiger Zeit eine dicke Träne niederfallen sehen. Groß und hell.«
»Was will uns nur strafen?«, fragte Jasef in die Runde. »Warum hat der Himmel in den letzten Nächten Tränen über uns verloren? Was machen wir falsch?«
Schweigen brach herein. Jeder hörte das Knistern des Feuers, und hin und wieder gab es ein lautes Knacken, wenn feuchtes Holz zersprang und hunderte von Funken in das schwarze Tuch des Himmels jagten, als wollten sie es entzünden.
Manchmal ächzte und stöhnte das Holz, schnarchte und fauchte – und um das Feuer und die Menschen herum waren tausend Augen von Dingen, vor denen sie sich fürchteten und tausend Augen der Sterne waren über ihnen.
Tief in dieser Dunkelheit sahen sie den kaum erkennbaren Buckel eines riesigen Monsters, das so groß war, dass Bäume darauf wuchsen, das eine Haut aus Erde und Stein besaß und daher nicht zu töten war; das so groß war, dass es eine ganze Höhle als Maul besaß, aus dem es befremdenden Atem hauchte. Dieses monumentale Geschöpf mit den tausend Augen schlief rein äußerlich. Doch niemand bezweifelte, dass darin Grausiges steckte.
»Was Tirata wohl darüber weiß?«, fragte jemand leise. »Kann sie uns sagen, warum der Himmel weint?«
»Vielleicht hat er es ihr gesagt?!«
»Ich höre viele seltsame Stimmen.«
»Ja, hört ihr das Feuer flüstern?«
»Hört ihr den Wind flüstern? Die Bäume?«
»Tirata wird es wissen.«
»Wohin ist Maraim gestern gelaufen?«
Stille.
Jeder sah ihn vor sich, wie er weinend vor ihrem Gelächter in die Nacht gelaufen war.
»Ist er wiedergekommen?«, wollte Jasef wissen, und etwas schnürte ihm wie allen anderen den Magen zusammen. »Habt ihr ihn gesehen?«
Niemand wollte etwas sagen.
»Agatha!«
Agatha sah zu Boden. »Ich habe ihn nicht gehört. Er ist doch so oft so lange allein draußen in der Nacht. Das ist schon immer so gewesen.«
»Und ist er nicht immer seltsamer geworden? War er nicht immer … böse?«
Das Feuer knisterte.
»Was, wenn ES ihn verwandelt hat?«
Keiner wagte zu atmen. Die Luft wurde dick und heiß. Dies war die aufregendste Geschichte seit Langem, und Vieles ging den Leuten durch den Kopf.
Ja, Maraim war immer unflätig und bösartig gewesen, hatte nie am Leben im Dorf teilgenommen, hatte immer nur getrunken und hatte jeden attackiert, der sich ihm in den Weg gestellt hatte. Er war ein Tyrann. Er war wie ein Dämon – und nun war er verschwunden in der Dunkelheit, in der er schon immer gern allein gewesen war.
»Und was«, führte Jasef weiter aus, »wenn Maraim nun dort hin gelaufen ist, wohin er gehört? Mit was hat er gesprochen? Zu wem ist er gelaufen?«
Angst machte die Runde, nahm das Menschenrund um das Feuer gefangen und bildete einen lodernden Zirkel der Furcht.
Jasef sah in die Runde, ein entsetzliches Kribbeln fühlend. »Was ist es?«
Wände schienen auf die Menschen zuzurasen, die Nacht begann zu einem einzelnen monumentalen Geschöpf zu werden, das von allen Seiten auf sie zugekrochen kam. Ihre Herzen pochten im Stakkato, und ihre Häuser waren im Feuerschein düstere Karikaturen des Schutzes, den zu geben sie nur heuchelten. Plötzlich war das Böse überall. Und das brachte das ganze Dorf in Aufruhr. Man sah sich in einem Rudel von Wölfen, wie es schon einmal geschehen war – man hatte sich tagelang verkrochen, während draußen graue Wölfe umhergestreunt waren und Tiere gerissen hatten. Die Menschen hatten in ihren Häusern gesessen und das Schreien der Tiere gehört. Sie hatten die vielen Todeskämpfe durch die Nacht hallen gehört. Die Wölfe hatten die Weidetiere in schrecklichem Ausmaß dezimiert, und seitdem bangte man der Rückkehr der Wölfe mit Schaudern entgegen.
»Der Himmel weint über Maraim«, sagte Jasef schließlich nach langer Pause, in der das Feuer die knisternden Worte der Angst gesprochen hatte, die jeder verstand.
Auch Jessica saß mit am Feuer. War sie eigentlich nur mit zum traditionellen Feuer gegangen, um sich ein wenig von der wundervollen Ruhe einzuhauchen, die sie schläfrig machen sollte, und mit den anderen Kindern irgend etwas zu tun, so war sie nun von der Geschichte über Maraim vollkommen gefesselt. Trotz ihres Alters war sie sich darüber im Klaren, dass sie an Maraims Verschwinden beteiligt gewesen war; er war fortgelaufen wegen ihres Streiches, und nun war er fort, fortgelaufen zu dem, das niemand kannte und jeder fürchtete. Hin zu dem, das in der Nacht, in der Corrin-Höhle lag – denn wo sonst sollte es sich verbergen. Doch Tirata fürchtete sich nicht, sie war nicht unwissend, und Jessica fühlte sich zu all dem hingezogen. Sie dachte sich, dass man vielleicht schweigen musste, wen man von allem wusste. Diese Dinge konnten nur gewissen Menschen vorbehalten sein – und da es üblich war, dass eine Wahrsagerin stets eine Tochter hatte, die ihre Nachfolgerin wurde, fragte sich  Jessica, ob Tirata sie als solche anerkennen würde. Sie wollte es, denn nichts interessierte sie mehr als all die Geheimnisse, über die man so gut wie nie abends am Feuer sprach, auf dem Boden rund um das Feuer sitzend, mit Phantasiegebilden losgelöst wie die auftanzenden Funken. 
Sie wollte mehr über all das erfahren, das auftauchte, wenn die Stimmen der Erzählenden das Rund der Menschen gefangen nahm und sie mit dem unsichtbaren Band der Neugier verband. Wenn man das Gefühl hatte, allein in einem gewaltigen Magen eines viel gewaltigeren Molochs zu sein, den das spärliche Feuer nicht auszuleuchten vermochte; wenn einen das Gefühl übermannte, auf einer Welt auf bestimmte Weise allein und verloren zu sein, umgeben von finsteren Dingen, jedoch wissend, dass dennoch nichts geschah und man in die sichere Hülle seines Hauses zurückkehren konnte, wie sollte man das nennen? Gab es ein Wort dafür? Wenn jemand das wusste, dann war das Tirata, und Jessica war willens, daran teilzuhaben.
Sie konnte sich daran erinnern, dass sie einmal an einem Feuer gesessen hatte, das wegen Regens in einer großen Scheunen stattgefunden hatte. Das Feuer war winzig gewesen im Gegensatz zu jenen, die draußen gezündet würden, die Scheune sollte kein Feuer fangen. Wieder hatte es einen Redner gegeben, der gesprochen hatte, während Regen rauschend auf das Dach geschlagen, an dem Dach heruntergelaufen und zu Boden gefallen war. Dieses Hintergrundrauschen hatte alle beruhigt und ihre Glieder waren bleischwer geworden. Das, was der Mann gesagt hatte, war durch die Scheune geschwebt wie der Rauch des Feuers, der sich den Weg durch einige hochgelegene Öffnungen in den Wänden kurz unter der Decke gesucht hatte.
»Ich habe letzte Nacht einen merkwürdigen Traum gehabt.«, hatte der Mann begonnen, und Jessica wusste die Worte noch, so hypnotisch, wie sie in der damaligen Atmosphäre erschienen waren.
»Ich träumte von Menschen fernab von uns. Ich träumte, wir wären nicht allein. Große Vögel flogen über das Land, einen gewittrigen Himmel mit sich bringend. Und ich bin der Überzeugung, dass in der Corrin-Höhle Unaussprechliches ist.«
»Was sollte denn Unaussprechliches dort sein?«, wollte Lorn wissen, an den sich Jessica lehnte. Ihr Blick ruhte auf einem ledernen Pferdehalfter, der an einem Balken hing. Sie blickte durch die Scheune, die das Abbild ihrer Welt darstellte, ihrer Existenz. Alles, was ihr Leben ausmachte, alles, woran sie dachte, wenn sie morgens erwachte, war hier vereint; hier war Heu, in dem man spielte unter dem man herkroch und sich versteckte; hier war Holz, in dem man wohnte und mit dem man lebte; hier schlug für dieses Abend das Herz des Dorfes; hier waren zurzeit ihre Angehörige und Freunde. Die Scheune war zweistöckig – unten waren die Ställe für die Tiere, die nur winters dort standen. Hier standen Geräte für Garten- und Ackerbau, Riemen und Halfter.
Oben, gehalten von teils morschem Holz, war die zweite Ebene, auf der Heu lag, und auf die man sich so gut wie nie wagte, weil dort Geister umgehen sollten. Weil es dort oben gefährlich war und weil es dort oben niemanden gab, der einen hätte beobachten können. Hier herrschte Sturzgefahr, aber jeder, obgleich man sich fürchtete, war neugierig und hoffte nur, den Mumm zu haben, sich dort oben zu verstecken und allen zu beweisen, dass nichts dort oben war. Bei den Kindern galt das Heraufklettern als Mutprobe, die nur die wenigsten bestanden.
»Das Unaussprechliche kann ich nicht beschreiben«, sagte der Mann. »Seltsam aber, denn seit meinem Traum habe ich das Gefühl, dass nicht mehr alles so ist, wie es war.«
Nun machte sich Jessica abermals Gedanken darüber, mehr zu erfahren. Sie wollte auf den Dachboden der Scheune! Und wenn möglich, dann auch noch auf das Dach!
Als habe es das Schicksal so gewollt, dachte Mark an Sarah, und diese kam, setzte sich zu ihm und lächelte. Dieses Lächeln!
Er freute sich darüber, dass sie kam, doch mit einem Zwicken im Magen hielt er nach Tsam Ausschau und war erleichtert, als er ihn nicht fand.
Beide hörten zu, was Jasef zu sagen hatte.
»Warum weint der Himmel über Maraim, wenn er Böses im Schilde führt?«, wollte eine Frau wissen.
»Er weint über den Verlust einer Seele. Oder er weint über uns.«
Schlagartiges Staunen. Schweigen.
Nur das Feuer knisterte und knackte.
»Warum sollte der Himmel über uns weinen?«, fragte die selbe Frau etwas leiser.
»Weil wir uns schuldig gemacht haben.«
Die Worte hingen wie Gewitterwolken über dem Rund, und Wind trieb die Flammen zu wildem Zucken.
»Wessen?«
»Das weiß nur Tirata. Wenn der Himmel weint, dann lügt er nicht.«
»Vielleicht beweint der Himmel unsere Feigheit. Unsere Feigheit vor dem Fremden. Unsere Feigheit, dass wir nicht nach Maraim suchen. Vielleicht weint der Himmel, weil wir uns nicht in die Corrin-Höhle trauen.«
Die Männer und Frauen blickten einander nervös an.
»Was sollen wir dort? Außer Tirata ist nie jemand von uns dort gewesen.«
»Eben«, meinte Matia, ein junger Mann, plötzlich. »Vielleicht ist es ein Zeichen des Himmels, dass wir uns trauen sollen. Kennt ihr nicht das Buch?«
Natürlich kannte es jeder. Das Buch, das nur Tirata lesen konnte, das Buch mit viel Papier, dünnem Papier, auf dem viel stand , in zwei Blöcken nebeneinander pro Seite, auf vier Blöcken pro Doppelseite. Morkus nannte dieses Buch sein Eigen, und er hatte Grund, stolz darauf zu sein. Dieses Buch war das einzige im Dorf abgesehen von denen, die Tirata besaß. Es war ihm vererbt worden, denn seine Familie besaß das Buch schon länger, als jeder im Dorf denken konnte; selbst Tirata hatte einmal gesagt: »Dieses Buch ist vor der Zeit unserer Häuser entstanden.«
Niemand wusste, woher es kam, und das machte es wertvoll. Und nur Tirata hatte es gelesen, wie die Wahrsagerinnen vor ihr, und alles, was sie gesagt hatte, war: »Dieses Buch ist heilig.« Und als ein solches wurde es auch behandelt. Morkus war stolz – so sehr, dass er es oft herausnahm und betrachtete und es längst nicht jedem zeigte. Die Bilder darin reizten ihn besonders, und obwohl die Farben der ganzseitigen Bilder schon ausgeblichen waren und die Ränder der Seiten Gelb und Kräusel aufwiesen, hatten sie noch Pracht und Schönheit. Er verstand die Bilder nicht, aber die waren magisch. Sie waren meist wunderschön, manchmal auch grausam. 
Er sagte: »Ich habe sie mir oft angesehen, auch gestern wieder. Jedes einzelne. Und eines war dabei, das mir sagt, dass der Himmel tatsächlich weint, weil wir in die Corrin-Höhle gehen sollen, es aber nicht tun. Ich hole es.«  So stand er auf und ging. In der Zeit war es still ums Feuer, und jeder gab sich seinen Gedanken hin, und in Mark brodelte es. 
Ja, warum sollten alle Verbote weiterhin Verbote bleiben? Warum sollten Höhlen mit ihren Geheimnissen gemieden werden? Was war das Geheimnis tief im Innern der Corrin-Höhle, und warum sollte man nicht mutig sein? Er sah Sarah in die Augen, und es lag wieder eine unaussprechliche Faszination in ihrem Gesicht, in ihrem Haar und überall an ihr, eine Faszination, die nur tief im Innern gespürt werden konnte. Der Wind, der um sie hauchte, blies ihnen beschwörende Formeln ins Ohr, und das Knistern des Feuers war wie das flüsternde Kichern von Voyeuren. Der Ansporn ließ ihn über sich hinauswachsen. Bevor sie sich versahen, küssten sie sich. Sie wussten nicht, warum sie es taten, aber sie wussten, dass sie es tun mussten, weil ihnen keine Wahl blieb. Sie gingen in die Dunkelheit hinter eine entlegene Scheune, wo sie sich zu Boden fallen ließen und sich gedankenlos die Kleider abstreiften. Die Finger des jeweils anderen, das Gras und der Wind ließen sie bis in die kleinste Faser vibrieren. Mark war wie von Sinnen. Ohne darüber nachzudenken tat er, was er tun musste, ohne zu wissen, wie leidenschaftlich, aber zugleich auch wie mechanisch er seiner Liebe freien Lauf ließ. Er vergaß alles um sich herum und sollte später nur noch eines wissen: wenn man tatsächlich in die Höhle gehen wollte, würde er dabei sein!
Währenddessen kam Morkus mit dem Buch zurück und setzte sich, das Buch betrachtend. Es sah bei Feuerschein noch faszinierender aus als bei Tag. Der Einband war aus altem, mittlerweile hartem Leder. Alle Augen sahen darauf, und das Rund brach auseinander. Man rottete sich zusammen, um das Buch zu betrachten, denn nicht jeder hatte es schon einmal gesehen – wurde es doch als Morkus‘ wertvollster Schatz bestens behütet.
Der Umschlag war alt und verfärbt. Wasser hatte das Leder wellig gemacht und aus der Form gebracht, und das Dunkelrot war nur noch ein fleckiges und ausgefärbtes Fragment. 
Das Buch war schwer, dick und so groß wie vier Handflächen. Es lag im Schoß des stolzen Besitzers, der eine Seite aufschlug, wo die Seiten eine seiner Finger einklemmten. Es offenbarte sich den Neugierigen eine Doppelseite, deren rechte Hälfte unverstandene Schrift, deren linke Hälfte ein farbenprächtiges Bild zeigte. Morkus wies darauf. »Da, seht, da, seht. Soll das etwa heißen, dass wir uns von der Höhle fernhalten sollen?«
Alle betrachteten sie das Bild gespannt, und man schob sich gegenseitig zur Seite, um einen Blick darauf werfen zu können. Es zeigte im Hintergrund eine Höhle, deren schwarzer Schlund in die Tiefen eines gezeichneten Berges hinein zeigte. Umrahmt war sie von einigen Bäumen, wie es auch die Corrin-Höhle war. Aus ihrer Richtung kam ein Mann mit weißen Gesichtszügen, langen Haaren und einem Gewand, um den Kopf einen leuchtend-gelben Kreis tragend, den niemand zu deuten verstand, und er hielt seine Hände nach vorn, die in ihren Mitten Wunden zeigten. Das Bild war von umwerfender Anmut und Pracht. Es zeigte zudem eine Frau, die ihn verwundert und verängstigt ansah.
»Wir müssen in die Höhle hinein«, beschwor Morkus. »Wir müssen dorthin. Seht doch.« Wie sehr ihn doch das Bild in den Bann schlug, wie schon viele Male zuvor! Er wusste nicht, wozu es gemalt worden war und wen es darstellte, aber eines war für ihn unwiderruflich: »Ich glaube nicht, dass dieser Mann böse ist, der da aus der Höhle kam. Seht ihr nicht das Zeichen?«
Jeder sah das Bild und brachte es in Verbindung mit seiner eigenen Angst.
»Die Frau erschrickt sich aber«, merkte jemand an.
»Weil sie nicht wusste, dass in der Höhle etwas ist«, meinte Morkus. »Sie war wie wir, und nun kann sie es nicht fassen, dass sie sich geirrt hat.«
»Nein«, sagte jemand entschieden. »Das ist ein Zeichen, dass wir heraus bleiben sollen. Die Frau hat Angst vor dem Mann aus der Höhle. Ich werde nicht gehen.«
Leise Zustimmung fraß sich durch die Runde, und eingenommen von Furcht verteilte man sich wieder am Feuer, der Kreis wurde wieder aufgebaut, und nichts Fremdes von außen wurde eingelassen.
Und weitab von dem, weitab vom Kreis und den anderen lag Mark mit Sarah hinter der Scheune und lernte, ein Mann zu sein, lernte, Vergnügen dabei zu empfinden und fühlte sich schwebend, als Sarah plötzlich aufschreckte. 
»Was ist los?«, wollte Mark wissen.
»Sieh doch«, meinte sie angsterfüllt und mit bebender Stimme.
Mark sah in den Himmel, in den sie zeigte und sah eine Träne niederfallen, eine große, dicke Träne, und kurz darauf wieder eine weitere.
Sarah wich zurück, und Mark trat der Angstschweiß aus den Poren. »Der Himmel weint«, entfuhr es ihm, und sein Magen wollte ihm explodieren. »Oh nein, was haben wir getan? Was haben wir getan?« Er sprang auf und lief davon. Sarah, die hinter ihm herrief und sich aufrichtete, hörte er in seiner Panik nicht mehr, und er lief zum Rund und um das Feuer und schrie: »Der Himmel hat geweint! Der Himmel! Der Himmel hat geweint!«
Alle sahen auf, und der Schrecken saß allen in den Gliedern. Lorn fragte: »Bist du sicher?«
Mark zitterte. »Ich habe eine Träne gesehen, und Sarah auch. Wir haben es beide gesehen!«
Man kauerte sich aneinander.
»Was hat das zu bedeuten?«
»Das ist ein Zeichen. Wir werden Tirata fragen müssen. Der Himmel weinte, als ihr meintet, dass das Bild in meinem Buch kein Zeichen zum Betreten der Corrin-Höhle ist.«
»Wenn Tirata sagt, dass wir gehen sollen, werden wir gehen.«
Und Mark setzte sich hin, starrte ins Feuer und spürte das erste Mal in seinem Leben Panik und war sich sicher, vom Himmel ein Zeichen bekommen zu haben, das ihm Angst machte. Er musste einen Fehler gemacht haben. 
Der Himmel weinte nicht ohne Grund.

Ende des 6. Kapitels – Der Wind von Irgendwo geht weiter mit Kapitel 7: Ein neuer Tag

Warum ich als Selfpublisher meinen Roman im Blog veröffentlichen werde

Als Selfpublisher einen eigenen Roman komplett einfach so im Blog veröffentlichen, hältst du das für eine gute Idee? Das war nur eine der Reaktionen auf meinen Plan, den ich inzwischen auch schon begonnen habe, in die Tat umzusetzen.

Meine Antwort darauf ist simpel: Ja, ich halte das für eine gute Idee.
Warum? Auch diese Antwort ist klar:

Ich wollte es einfach, denn ich hatte keine Lust mehr, zu warten. Der Wind von Irgendwo war von mir zuletzt als eBook geplant, das ich als Selfpublisher veröffentlicht hätte. Einen Verlag hatte ich gar nicht im Kopf – und auf ein eBook hatte ich schlicht und einfach keine Lust mehr. 

Die Gründe: Ein eBook ist eine fertige Datei, die Entwicklung ist abgeschlossen, es geht dann nur noch um das fertige Werk an sich.

Ursprünglich als eBook geplant, um als Selfpublisher zu starten

Das war mir zumindest im Hinblick auf Der Wind von Irgendwo aber zu wenig. Auch für das eBook habe ich geplant, den Roman mit einer eigenen Website zu begleiten. Ich wollte den Roman als Blick in meine Schreiberstube nutzen: Ich wollte Making-ofs machen, über die Story-Entwicklung erzählen, über die Arbeit an Stoff und Sprache, über Orte, Namen, Musik und vor allem über meine Inspirationen erzählen. Daher war für mich schließlich die Idee, die 15 Kapitel des Romans wöchentlich in meinem Blog zu veröffentlichen, die naheliegendste. Diese Form kam dem am nächsten, was ich mit dem Roman eigentlich vorhatte: Keinen singulären Romantext, sondern Romantext mit Bonusmaterial. 

Schon bevor das erste Kapitel online ging wusste ich genau, mit welchen Artikeln ich die Veröffentlichung über Wochen hinweg flankieren wollte. 

Mit der Veröffentlichung beginnen und Erfahrungen als Selfpublisher machen

Und ja: Ich wollte einfach nicht mehr warten. Ich wollte anfangen, auch auf die Gefahr hin, in Fallen zu tappen, Fehler zu machen, mich blöd anzustellen. Mir sind Fehler lieber als Bedenken. Hier geht es nicht um die sorgsame Erwägung, ob und wie ich einen Teich voller Krokodile über eine morsche Holzbrücke überquere. Hier geht es um etwas, das mir wichtig ist, und wir Schreibende wollen doch vor allem gelesen werden. 

Ich habe mich schlicht gefragt: Wieviel Leserinnen und Leser erreiche ich mit einem eBook im Selfpublishing? Wie realistisch ist es, eine Leserschaft in einem Verlag zu erreichen?

Für mich war klar, dass all dies Variablen waren, die ich nicht in der Hand hatte – und die mich vor allem weitere Zeit kosteten. Diese Zeit war ich nicht bereit, zu investieren. Ich wollte jetzt loslegen und Leser*innen erreichen, sie einladen, die Entwicklung des Romans über Wochen zu verfolgen, in die Welt einzutauchen und sich – hoffentlich – auf ein neues Kapitel zu freuen. Ich wollte, dass sie ganz nah dabei sind und damit Teil der Entstehung werden. Denn obwohl der Roman selbst schon längst geschrieben ist, wird er durch die wöchentliche Veröffentlichung etwas Neues: Ein gemeinsamer Raum zum Entdecken. Diese Idee finde ich ganz wunderbar.

Mehr Reichweite generieren

Und natürlich möchte ich mit einer wochenlangen Veröffentlichung des Romans Aufmerksamkeit und Reichweite erhöhen. Da die einzelnen Kapitel nicht SEO-konform sind – weder von der Headline noch vom eigentlich Text – sollen das auch die flankierenden Artikel sowie zusätzlich veröffentliche Kurzgeschichten richten. Zwar wird der Roman nicht wie eine herkömmliche Veröffentlichung von Beginn an fertig zur Vermarktung bereit liegen, aber das Ende ist mit der Veröffentlichung des 15. Kapitels ja gesetzt. Danach kann ich noch immer ein eBook aus dem Roman machen.

Zu guter Letzt: Es fühlt sich für mich gut und richtig an. Hoffentlich geht es anderen auch so. 

Der Wind von Irgendwo – Kapitel 3: Bei Tirata komplett lesen

Mystery-Roman von Oliver Koch

Der Wind von Irgendwo von Anfang an lesen
Erst Kapitel 2 lesen

Jessica war gespannt auf das, was kommen sollte.
Nicht, dass es das große Ereignis war, das immer näher rückte. Das Feldfrucht-Fest war ein Fest zu Ehren dessen, das den Menschen des Dorfes die Dinge gab, die sie benötigten. Das waren Lebensmittel, Holz zum Bauen, Nutztiere, die Gunst des Wetters, auf dass die Früchte der Felder und Bäume und Sträucher gut und erntereich gediehen. Die Menschen hatten keine Vorstellung von dem, was Gott war oder sein sollte. Sie beteten die Natur an und ihre Dinge. Sie zu erfassen, überstieg die Denkweise der Menschen des Dorfes, wäre da nicht immer eine Frau gewesen, die von sich behauptete, Wahrsagerin zu sein, eine Weise, eine Allwissende fast, die die Sterne zu deuten verstand und die in der Lage war, längst Vergangenes und gerade Geschehenes zu einer Zukunftsdeutung zu verbinden. Somit besaß Tirata, die Wahrsagerin, einen hohen Stellenwert im Dorf.
Sie war weise und gefürchtet. Jeder achtete sie in einer Art und Weise, die vergötternder Furcht gleichkam. Man erzählte sich, dass Tirata einem anderen Geschlecht abstammte, das es im Dorf sonst nicht gab. Einmal im Leben einer Wahrsagerin wurde ein junger Mann aus dem Dorf ausgewählt, um mit ihr ein Kind zu zeugen, und, so wundersam es auch erschien, es waren immer Töchter. Kam es zu einer Totgeburt, wurde ein neuer Mann auserkoren, bis eine Tochter das Licht der Welt erblickte. Aus diesen Mädchen erwuchs stets eine neue Wahrsagerin, die die Anlagen von etwas Nichtirdischem innehatte, Markenzeichen sowohl innerer, als auch äußerer Art, die sie von dem normal Menschlichen abhob. 
Sie als Zukunftsdeuterin und Wunderheilerin, die das ganze Dorf beeinflusste und auf gewisse Weise leitete, nicht darin, sondern weitab davon einsam wohnte, hatte jedem Ereignis wie Geburt, Tod, Heirat oder großen Festen mit ein paar Worten das entsprechende Quantum Heiligkeit zu verleihen. Wenn sie sprach, schwiegen gar die Vögel, und was sie sprach, ließ keinen Zweifel offen: Sie wusste als Einzige über das Rätselhafte, das in allem steckte, Bescheid.
So sollte sie auch nun ein paar Worte sprechen, um das Feldfrucht-Fest zu segnen und seine Bestimmung deutlich zu machen. Zu diesem Zweck war es diesmal Lorn, Tirata im Namen des Dorfs zu bitten, das Dorf zu besuchen. Jessica hatte mitgehen wollen, obgleich sie sich vor Tirata fürchtete. Es war der merkwürdige Zug des Menschen, an dem Schrecklichen das Schöne zu finden.
Jessica sah Tirata nicht oft. Bei jedem Fest tauchte sie auf und hielt sich vielleicht eine Stunde bei der Dorfbevölkerung auf, bevor sie sich entschuldigte. Einmal hatte Jessica einer Geburt beiwohnen dürfen, bei der sie auch Tirata gesehen hatte. Und bei einer Beerdigung hatte sie sie einmal gesehen – und öfter hatte sie sie niemals zu Gesicht bekommen.
All die anderen Gesichter des Dorfes sah man jeden Tag gleich mehrere Male, und wenn nicht, dann war das am Rande des Merkwürdigen.
Tirata hingegen war eine Sensation. Manchmal sah man sie aus der Ferne, wenn die in Richtung Corrin-Höhle ging, um dort für einige Stunden zu verschwinden. Niemand sonst traute sich in die Corrin-Höhle, und nach dem, was Tirata erzählte, würde dies niemand außer ihr tun. »Die Geister der Vergangenheit sprechen in dieser Höhle«, meinte sie einmal. 
Niemand stellte das in Frage, und niemand dachte daran, das nachzuprüfen. Wer es wagte, wurde verrückt, oder kehrte niemals wieder – von solchen Fällen berichtete man.
Tiratas Haus lag etwa einen Kilometer außerhalb des Dorfes inmitten einer weiten Weide, und es wurde von den Wellen des grünen Ozeans umspült. Im Sommer flog die Gischt der Samen an die Wände, und einige Bäume um das Haus ließen den Wind zu einer hörbaren Stimme werden.
Es war still und heiß, als Lorn mit Jessica in Richtung Tiratas Haus ging. Sie hatte ihre kleine Hand in die große, schweißnasse Hand ihres Vaters geschoben, die sie festhielt. Der Wind rauschte durch das hohe, dichte, saftige Gras, und der Himmel war azurblau, von tiefster Schönheit, und einige Vögel jagten über ihn hinweg. Zu ihrer Linken türmte sich das Gebirge auf, mit dem tiefen Schlund der bösen Corrin-Höhle irgendwo im Gestein. Niemand sagte ein Wort. Sie hörten ihre raschelnden Schritte, sie hörten die Vögel, ansonsten hörten sie nichts. Sie sahen sich nicht zum Dorf um, wo es geschäftig zuging, und wo jeder, mit Ausnahme von Alba, der Frau vom Schmied, die über eine böse Magenverstimmung klagte, auf den Beinen war. Sie hatten alles hinter sich gelassen und schauten nur nach vorn auf das Haus von Tirata, dieser Hütte umgeben von Bäumen und Grün, dessen Dachholz allmählich brüchig wurde, und durch das es durchregnen musste. 
Wer einmal in das Haus kam, war bald ebenso eine Sensation wie alles, was auch nur weit entfernt mit dieser Frau zu tun hatte. Lorn hatte diesmal die Ehre bekommen, wobei Ehre nur dazu missbraucht wurde, den Menschen des Dorfs nur einmal im Leben diese Aufgabe aufzubürden.
»Hast du eigentlich Angst, Pepe?«, fragte Jessica leise in den Wind hinein.
»Nicht doch«, antwortete Lorn viel zu leise. Denn ja, er hatte Angst. Er wusste, dass Tirata nichts Böses tat, dass sie nicht einmal böse war, doch die Ehrfurcht ließ ihn fürchten. Er presste Jessicas kleine Hand.
»Aua, du tust mir weh«, meinte Jessica und versuchte, die Hand ihm zu entreißen.
»Oh, entschuldige, Kleines«, meinte er verstört und ließ sie los, um sich daraufhin seine Hände zu reiben, mit denen er eben noch in Litern von Blut des Schlachtviehs gesuhlt hatte, die Eingeweide und Organe herausgenommen und den Tieren zum Fraß vorgeworfen hatte.
»Ich glaube, Tirata tut nichts Böses, Pepe. Sie ist unheimlich, aber richtige Angst habe ich auf einmal gar nicht mehr vor ihr. Sie ist sicher nur alt und lieb.«
»Sie ist alt, aber lieb ist sie nicht. Nein, sie ist nicht böse, und sie tut auch niemandem etwas, aber sie ist nicht lieb, ganz sicher nicht. Sie kann viel Böses tun.«
»Kann sie die Leute verwandeln?«
»Ja, das kann sie.«
»Kann sie die Menschen verschwinden lassen?«
»Ja, das kann sie.«
»Kann sie den Menschen Angst in die Träume bringen?«
Lorn schüttelte es. »Ja, das kann sie.«
Das Haus war näher gekommen, und sie erreichten die Skelettfinger der Bäume, die es umrandeten. Jessica sah zu ihnen auf und ließ den Blick auf den Raben in den Wipfeln haften.
»Was sind das für Bäume, Pepe?«
»Ich weiß es nicht, Jessica. Sie stehen jedenfalls nur hier.«
»Du hast Angst, das merke ich. Du hast Angst. Warum hast du Angst, Pepe?«
»Weil man vor Tirata immer Angst hat. Und weil sie merkt, wenn du keine vor ihr hast und sie dann böse wird.«
»Will sie denn, dass man sie fürchtet?«
»Jeder fürchtet sie.«
»Ist das ein Grund, Pepe?«, wollte sie wissen und sah zu ihm auf, blieb stehen und wartete, bis auch er ein paar Schritte später stehengeblieben war und sich nach ihr umsah. Der Wind rauschte um sie beide. »Wenn alle Angst vor ihr haben, muss das einen Grund haben. Sie kann Böses tun.«
»Das glaube ich nicht.«
»Sie ist mächtig und geht in die Corrin-Höhle. Sie ist mit den Geistern dort in Verbindung.«
»Na und? Und was ist, wenn die Geister gar nicht böse sind?«
»Sie sagte es uns aber, Jessica, und willst du sagen, dass sie gelogen hat?«
»Nein. Dann wird es wohl so sein.« Sie schritt zu ihrem Vater und ergriff seine Hand. Seltsamerweise hatte sie nun wirklich keine Angst mehr vor der Frau. Vielmehr war sie neugierig, sie zu sehen, sie zu begrüßen und sie allerlei Dinge zu fragen, auf die sie sich Antworten erhoffte. Und dann war sie wenigstens ein bisschen so mächtig wie Tirata.
Ehrfurcht hatte sie. Bewunderung, auch – aber Furcht? Nein. Warum auch? Die Frau hatte ihr nie etwas getan, und sie konnte sich auch nicht an irgendeine der vielen Geschichten erinnern, die man sich am Lagerfeuer erzählte, in denen auch nur einmal andeutungsweise eine böse Tat oder Absicht vorgekommen wäre.
Das Haus, in dem die Wahrsagerin wohnte, war älter als alle, die Jessica aus dem Dorf kannte, und der Wind flüsterte unverständliche Geschichten durch die Ritzen des Hauses und durch die Wipfel der Bäume. Lorns Knie waren weich, er zitterte am ganzen Körper, und trotz der Wärme war ihm kalt. Wann hatte er Tirata jemals so aus der Nähe gesehen? Er konnte sich an ein Mal erinnern, aber das war Jahre her und er wäre auch beinahe gestorben vor Angst. Diese erhabene Gestalt der Frau, die schon damals alt war und nun noch viel älter, und die nie sterben zu wollen schien, ihre langen, grauen Haare, ihre schnarrende Stimme, ihre Vorhersagen, die sie getroffen hatte und die eingetreten waren. Und nun sollte er sich ansprechen. An ihre Tür des Hauses klopfen, das er immer gemieden hatte. Er hatte es immer nur aus der Entfernung gesehen, von sich zu Hause, von den Feldern. Immer hatte es einsam und still dagelegen wie ein Felsbrocken im Gras, manchmal hatte er Tirata gesehen, wenn sie nach draußen kam und in ihrem Garten Gemüse und Kräuter holte, wie sie Wasser schöpfte oder wie sie gar ihre Tiere schlachtete. Das tat sonst keine Frau.
Sein Herz raste, als er vor der Tür Halt machte. Er sah an sich herab, begutachtete seine Kleidung, denn er wollte nicht ungepflegt erscheinen, kurzum, er wollte ihrer würdig erscheinen. Mit einem Anflug von zusammengefasstem Mut räusperte er sich und klopfte gegen die Tür. Was wollte er sagen? Wie sollte er es sagen? Sollte er wieder gehen, schnell und heimlich, sich durchs kniehohe Gras ungesehen davonschleichen und im Dorf sagen, er hätte es sich nicht getraut? 
Welch Blamage!
Da öffnete sich die Tür.
Lorn stand da und das Herz wollte ihm stehenbleiben, ein Schlag von unerträglicher Hitze überwallte ihn. 
Da stand er Tirata gegenüber, und er hatte einen grässlich trockenen Mund.
Wie sie dastand und ihn ansah mit ihren dunklen, geheimnisvollen Augen. Sie trug bunte Schnüre in ihrem langen Haar, das grau war wie altes Holz, und ihre Falten schlugen Täler in die fremde Landschaft ihres Gesichts.
Es hatte ihm die Sprache verschlagen, und der Wind wehte um sie herum, Luft aus dem Innern dieses merkwürdigen, gemiedenen Hauses stieg ihm in die Nase. Sie roch süßlich und ließ ihn schwindelig werden.
Tirata blickte ernst wie immer; man sah sie nie lachen. Sie blickte ihn an und schien darauf zu warten, dass er etwas sagte, und da er es nicht tat, blickte sie nach unten und erblickte dieses reizende Mädchen, das da neben Lorn stand und zu ihr aufblickte mit großen Augen und keiner Spur von Angst darin.
»Oh, kleine Dame, bist du nicht die kleine Jessica?«, fragte die Wahrsagerin mit tiefer, brüchiger Stimme, die schon oft am abendlichen Feuer beschwörend in die Runde getragen worden war.
Für Jessica eröffnete sich etwas Neues, und sie war in der Lage, wenngleich auch leise, zu antworten: »Ja, das bin ich.«
»Jessica«, wiederholte Tirata geheimnisvoll und wiegte den Namen in ihrem Mund, aus dem so manch Rätselhaftes kam. »Jessica. Jessica. Ein schöner Name, dieser Name.« Sie zeigte beiläufig mit der linken Hand auf Lorn, ohne ihn anzusehen. »Hat er ihn dir gegeben?«
Jessica nickte nur. 
»Wie kam es? Kann er schreiben, dass er ihn aufgeschrieben hat, oder kann er tatsächlich sprechen und tut das nur nicht mit jedem?«
»Er hat Angst vor dir«, erklärte Jessica freimütig und spürte, wie Lorns Hand sich strafend fest um die ihre drückte.
Da sah Tirata an und durchbohrte ihn förmlich mit einem stechenden Blick. »Dann bist du Lorn, richtig?«
Ein heißer Schauer überlief ihn, und mit weit aufgerissenen Augen nickte er nur verängstigt die Andeutung eines Nickens.
»Soso. Du hast eine kluge Tochter. Bewundernswert. Soll ich sie fragen, weswegen du angeklopft hast?«
Tausend Möglichkeiten rasten durch Lorns Kopf, wie er es anfangen konnte, Tirata zum Fest einzuladen, doch ihm fiel keine ein. Keine der tausend Möglichkeiten war einer Meinung nach die richtige.
»Kommt erst einmal herein, es ist ziemlich windig heute.«
Sie schritt zur Seite und bedeutete so, dass die beiden hereinkommen sollten.
Jessicas erster Impuls war, einen Schritt nach vorn zu machen, doch plötzlich wurde sie der Tatsache gewahr, dass Lorn noch ihre Hand hielt und noch keinen Zentimeter von der Türschwelle gewichen war.
Für ihn war dies eine zweite Corrin-Höhle, in der es umging, in der Dämonen lebten, in der  böse Dinge geschahen, die seinen Horizont überstiegen. Er sah nur die Einrichtungsgegenstände und erschauerte. Sie hatte eine viel größere Feuerstelle als alle anderen im Dorf, an den wenigen Fenstern hingen Stoffe, die das Sonnenlicht milderten und den ganzen Innenraum in ein schummriges, fremdes Licht tauchten; ein Feuer brannte in der Ecke links voraus von ihm, und das Knistern war so gespenstisch, dass es kein normales Holz sein konnte, das da brannte. Es roch nach Feuer und nach etwas Süßlichem, das er nicht deuten konnte. Er sah kein Bett, wohl aber wallenden Stoff, der von der Decke herabhing und etwas verbarg. Auf einem Holztisch lagen bunte Steine, ein kleines Säckchen lag daneben. In Tassen war Wachs, und er sah einige Bücher, von denen er nur wusste, dass in ihnen Geheimnisse standen.
Dies war kein normales Haus, dies war somit kein Heim einer normalen Frau. Nicht, dass sie eine Hexe war. Aber sie war schrecklich. Sie sah schrecklich aus, sie hatte eine schreckliche Stimme, sie hatte Schreckliches in ihrem Haus, und selbst das war schrecklich, weil es bald zusammenfiel.
»Komm, Lorn, tritt ein. Ich werde dir die Zukunft sagen.«
Lorn konnte nicht, und jede Faser in ihm wehrte sich dagegen. Jessica stand nach wie vor da und zog ihn ein wenig mit ihrer spärlichen kindlichen Kraft.
Tirata sah ihn böse an. »Willst du deiner Tochter meine Gunst verwehren, Lorn?«
Das genügte. Ihre Gunst nicht innezuhaben hieß, von bösen Träumen geplagt zu werden. Das sollte nun auf seine kleine Tochter zukommen, einzig und allein durch seine anscheinend nicht überwindbare Feigheit? Langsam tat er einen Schritt und noch einen in die zweite Corrin-Höhle, obgleich alles in ihm dagegen revoltierte.
Tirata schloss hinter ihm die Tür und ging um sie herum. »Hast du Durst, Jessica? Ich habe etwas ganz Besonderes für dich. Nur ich weiß, wie man es zubereitet, wie ich so vieles als Einzige weiß in diesem Dorf.«
Jessica nickte stumm und sah sich um. Wie hübsch es hier war. Die bunten Steine waren lustig, der Stoff, der überall hing, war in einer Weise romantisch, dass sie auf die Bezeichnung romantisch nie gekommen wäre; es gefiel ihr einfach. Das brennende Holz roch eigenartig, aber es roch gut und erfüllte das Haus. Sie schritt im Raum herum und sah die vielen Töpfe, Pfannen, Löffel und Stäbe, die in der Küche hingen. Niemand sonst hatte so viel Töpfe und Pfannen und Löffel und Stäbe.
Die alte Frau betrachtete sie und bemerkte ihr Interesse daran. »Habt ihr Zuhause nicht so viele Dinge zu Kochen?«
»Nein. Was machst du nur damit?«
»Viele Dinge. Viele Rezepte, die nur ich weiß. Sie stehen in den Büchern da.«
»Du weißt, was darin steht?«
»Natürlich weiß ich das. Meine Mutter hat es mir schon vor langer Zeit beigebracht, und meine Großmutter hat es meiner Mutter beigebracht. Meine Urgroßmutter meiner Großmutter, und so weiter.«
»Und sind das merkwürdige Sachen, die du kochst?«
»Merkwürdig nur, weil niemand sonst sie kennt. Und nur ich esse sie, mein Kind.«
Lorn stützte sich an einem Stuhl ab und nahm seinen ganzen Mut zusammen, er räusperte sich und formte einen Satz, als Tirata ihn ansah. »Oh, Lorn, möchtest du mir etwas sagen? Ich nehme es an, denn du bist bestimmt nicht gekommen, um mir nur guten Tag zu sagen, da du ja nicht einmal das getan hast.«
Das Blut raste durch Lorns Adern, und er spürte, wie er puterrot wurde. »Ich … bin gekommen, um …ähem …«, und er räusperte sich wieder unbeholfen.
Tirata stand mit Jessica in einigen Metern Entfernung und sah ihn geduldig an. »Weswegen bist du gekommen, Lorn?«
»Heute ist der Tag des … Festes, und ich bin gekommen, um dich zu bitten, dass du ein paar Worte sprichst.«
»Was soll ich denn sagen, Lorn?«
»Das … musst du wissen, Wahrsagerin. Heute ist das Feldfrucht-Fest.«
»Ich weiß, ich weiß, Lorn. Ich danke dir für die Einladung, und selbstverständlich werde ich kommen. Setz dich. Möchtest auch du etwas von meinem Getränk, das niemand außer mir kennt? Deine Tochter ist angetan davon. Setz dich endlich hin. Auf den Stuhl da.«
Lorn setzte sich und war wie vor den Kopf geschlagen. Eigentlich hatte er nun gehen wollen, schnell, schnell zurück ins Dorf und vielleicht noch ein, zwei Schweine schlachten. Holz hacken. Mähen. Vielleicht den Frauen und Kindern beim Beerenpflücken helfen. Ganz gleich, nur raus hier aus diesem schrecklichen Haus.
»Du scheinst über deine Ehre, mich diesmal einladen zu dürfen, nicht besonders glücklich zu sein, Lorn.«
Er sagte nichts und sah betreten zu Boden.
»Er hat einfach nur schreckliche Angst«, platzte Jessica heraus. »Ganz schreckliche Angst.«
»Die Angst vor Wissen und Macht ist immer ratsam, Kind.«
Lorn wurde plötzlich schlecht und er sah seine Befürchtungen bestätigt.
»Bist du denn wirklich so mächtig?«
»Jessica«, tönte es kleinlaut vom anderen Ende des Raumes, wo Lorn saß und sich schlecht fühlte. »Wie kannst du es wagen, so eine Frage zu stellen? Natürlich ist sie das. Tirata, verzeih, aber ich habe ihr das nicht …«
»Ist gut, Lorn, ist schon gut. Ich werde dich nicht strafen. Du bist ein guter Mann, und ich habe keinen Grund, dir etwas tun zu wollen. Habe du nur weiter Angst vor mir, Angst ist immer gesünder als Vertrauen. Ein Hase traut auch keinem Wolf über den Weg. Also bleib du ruhig der Hase und sieh mich weiter als Wolf, wenn du willst. Deine Tochter fragt ganz Natürliches. Nur fragt mich das sonst niemand.« Sie sah zu Jessica herunter und hielt ihr Kinn mit kalten, dürren Fingern. »Jessica«, begann sie leise und fuhr ebenso fort, »es gibt viele Geheimnisse um uns. Der Wind spricht. Die Corrin-Höhle ist seltsam, und Geister gibt es überall. Das Mächtige ist um uns, Kind. Wir sind ihm unterlegen. Ich gehöre einem Geschlecht an, das die Aufgabe hat, zumindest ein wenig mehr darüber zu erfahren. Ein wenig mehr zu wissen als die anderen. Weil ich auch mehr wage. Ich gehe in die Corrin-Höhle, ich höre den seltsamen Stimmen zu, die überall wispern. Und ich glaube, etwas ist in mir, das mir die Gabe gibt, mehr zu verstehen als ihr. Und so bin ich für euch da, um euch zu helfen.«
»Auch, uns zu strafen?«
Tirata sah auf und ging zu einem Tisch, auf dem ein Krug stand. »Hier, Kind, trink das. Es wird dir guttun. Du auch, Lorn?«
Lorn schüttelte den Kopf.
Tirata goss etwas in einen Becher und reichte ihn Jessica. »Trink, Kind, es ist eine Spezialität, kein geheimnisvolles Gift, keine mystische Essenz. Deiner Tochter werden schon keine neuen Köpfe wachsen.«
Lorn fand das gar nicht komisch und fragte recht brüsk: »Können wir dann gehen, wenn meine Tochter getrunken hat?« 
Tirata sah ihn lächelnd an. »Aber natürlich, Lorn, natürlich.«

„Der Wind von Irgendwo“ geht weiter mit Kapitel 4: Maraim und die Frösche am Sonntag, 10. April 2021

 

Der Wind von Irgendwo – Kapitel 2: Der Streich komplett lesen

Mystery-Roman von Oliver Koch

Erst Kapitel 1 lesen

Der Tag erblühte mit jeder Minute und gelangte zur Reife. Die Sonne stieg weiter auf, es wurde heller, und die Natur wiegte sich in Sonne und Wind. Im Dorf wurde eifrig gearbeitet. Man ging in Keller oder Scheunen, um alte Girlanden aus Truhen zu kramen, man machte sich daran, die Feuerstelle inmitten des Dorfes zurechtzumachen und mit Holz zu versorgen.
Mark beschäftigte sich noch immer mit Holzhacken, und aufgrund der Hitze hatte er seinen Oberkörper freigemacht. Somit wurde er zu einem Blickpunkt für so manches Mädchen, das an ihm vorbeikam. So kam Sarah in seine Nähe und blieb unverblümt stehen, um den Jungen zu betrachten. Er war ein stattlicher Anblick, denn die Arbeit, die er oftmals erledigte, hatte an seinem Oberkörper sichtbare Spuren hinterlassen. 
Sarah betrachtete gern das Muskelspiel des Jungen, der der Schwarm aller Mädchen im Dorf war.
Mark, ganz beschäftigt, bemerkte den Blick nicht. Er keuchte und schwitzte unter Hitze und Arbeit, und hörte nur selten auf, um den an seiner Stirn herabrinnenden Schweiß am Einlaufen in die Augen zu hindern.
»Hallo, Mark«, hörte er eine Mädchenstimme hinter sich sagen, und er drehte sich um. Blinzelnd erkannte er Sarah, die beschlossen hatte, auf sich aufmerksam zu machen. Sie lächelte, versucht, distanziert und freundlich zu wirken.
»Hallo«, antwortete er. »Hast du viel zu tun?«
Sie nickte verschämt und nutzte das Blinzeln Marks kalt aus, um ihn unverblümt zu betrachten und sich an seinem Anblick zu ergötzen.
»Aber sicher nicht sowas wie ich, oder?«, fragte er.
»Nein, natürlich nicht. Ich habe eben mit meiner Mutter ein paar Hühner gerupft.«
»Ich muss auch gleich mithelfen, Hasen zu schlachten.«
»Das ist mir zu blutig.«
»Nun ja, was soll ich sagen. Um so besser schmecken sie mir heute Abend.«
Sarah legte den Kopf schief und scharrte mit dem linken Fuß im Boden. »Ich hoffe, du kannst tanzen, Mark.«
»Tanzen? Ich? Nun, wenn ich betrunken genug bin, sicher.«
»Nein, ernst, Mark. Kannst du tanzen?«
»Ich habe es noch nie ausprobiert außer dem Gehopse auf den Festen. Aber ob das Tanzen ist, weiß ich nicht.«
»Heute Abend werde ich das erste Mal an unserem Tanz teilnehmen, und dazu braucht man immer zwei.«
Mark wusste Bescheid. »Diese Formationstänze sind doch gähnend langweilig, Sarah. Sie sind viel zu langsam und öde.«
»Es kommt immer darauf an, mit wem man sie tanzt.«
»Das finde ich nicht. Das ist doch kein Tanzen, das ist – … keine Ahnung, was das ist. Es macht jedenfalls keinen Spaß.«
Sarah sah zu Boden.
»Aber das soll ja nicht heißen, dass ich nicht mit dir tanzen würde, wenn ich betrunken genug bin.«
»O, danke, Mark.«
»Nein, nein, so war das nicht gemeint. Ich wollte sagen, dass ich vielleicht tanze, mal sehen, wie ich gelaunt bin.«
»Na, vielleicht wirst du in der Stimmung sein.«
»Kann ich jetzt noch nicht sagen.«
»Verstehe.«
»Bist du beleidigt?«
»Nein, wieso? Ich blitze gerne ab.«
»Wieso abblitzen? Habe ich gesagt, ich würde nicht mit dir tanzen wollen? Nein, das habe ich nicht gesagt. Aber ich will nur auch vorbeugen, dass du allzu enttäuscht bist, wenn ich es dir versprochen habe und mein Versprechen breche. Das mache ich öfter.«
»Ja,ja, schon gut.«
Der Wind spielte um sie herum, und Mark spürte einen angenehmen Luftzug. Er versuchte immerzu, Sarah so zu betrachten, wie er es eigentlich gewollt hatte, doch sie hatte sich die ganze Zeit nicht von der Stelle bewegt und stand im Licht der Sonne, so als wäre sie eine Geburt von ihr.
In einem solch kleinen Dorf kam es oft vor, dass ein Mann, Junge, Mädchen, eine Frau sich in einen anderen versah und vergötterte, zumindest eine Zeitlang. Da gab es Phasen, da sich diese Menschen in die Träume der anderen vorwagten, so ganz von allein, um dann einige Zeit später ebenso von allein wieder daraus zu verschwinden.
Auch Sarah war Mark so manches Mal in die Träume gefolgt, doch hatte sie sich schnell wieder verflüchtigt. Mark kannte diese Gefühle nicht und wusste sie nicht zu deuten. 
Er wusste nicht, mit Liebe, Zuneigung oder Ähnlichem umzugehen. Und so stand er Sarah nun gegenüber und wusste nicht mehr ganz genau, was er denken sollte.
»Du bist jetzt beleidigt«, sagte er. »Gib zu, dass du beleidigt bist.«
»Ich bin nicht beleidigt. Nur enttäuscht. Habe mir was anderes versprochen.«
»Das weiß ich.«
Sie errötete und sagte nichts.
»Ist dir das unangenehm?«
Noch immer sagte sie nichts und sah zu Boden.
Er suchte nach Worten, nach Gesten, nach Phrasen, doch ihm blieb nichts als die verzweifelte Tatenlosigkeit, die ihn zum Dastehen und Stillschweigen verdammte. 
»Wir sehen uns heute Abend, Mark«, presste sich Sarah heraus und war verschwunden. Mark wusste nicht, ob er ihr nachrufen oder sie ziehen lassen sollte. Er wusste nichts. Und so ging sie.

Mit der Zeit wuchs der Haufen des Holzes neben ihm, und er betrachtete beiläufig die Veränderungen, die sich im Dorf vollzogen.Alles wurde langsam aber sich immer festlicher, alles wurde bunter.
»Du kannst gleich aufhören«, sagte ihm sein Vater. »Pet hilft mir gleich beim Schlachten, das brauchst du also nicht zu machen. Hör auf und ruh` dich aus.« Und so war Lorn wieder verschwunden, und Mark ließ die Axt fallen. 

Seine Arme waren ihm schwer, seine Schultern schmerzten ein wenig. Es war gut zu wissen, dass nun Schluss mit dem Holzhacken war. Es hatte ihn schon die ganze Zeit in die Ruhe gezogen, in das, was das Dorf umgab. Die weiten Wiesen und Weiden, die sanften Hügel, die Baumgruppen und die Felder waren und blieben immer ein großer Reiz für Kinder. Dort war ihr Abenteuerspielplatz. Was sollten sie auch anderes tun, als sich in der Umgebung zu vergnügen, auf verstaubten Dachböden oder in alten Scheunen? Wo nichts anderes existierte als der Frieden oder Unfrieden der normalen Dinge, da war die Phantasie der Zeitvertreib. Wer in der Lage dazu war, sie zu benutzen (und das waren nahezu alle im Dorf), der entdeckte so Manches, was dem Unerfahrenen auf alle Zeiten verborgen blieb.
Die Geschichten, die man sich erzählte und die eingingen in die Köpfe der Menschen – ob nun wahr oder nicht – waren die Dreh- und Angelpunkte des Lebens im Dorf.
Und Mark empfand wie alle seiner Mitmenschen: die großartige Umgebung war das Faszinierendste, das sie kannten. Er ließ seinen Blick über die Umgebung schweifen und beinahe gedankenverloren sein Hemd, um es sich lediglich lose über die Schultern zu werfen. Um ihn herum liefen die Leute, schmückten die Wagen, trugen Holz und Bänke und rollten Fässer. Man tat, was man tun musste, tat es gründlich, schnell, aber nicht übereilt, immer bereit, zu verschnaufen, wenn es denn nötig war, ein paar Worte mit anderen zu wechseln, die einem entgegenkamen, und allgemein die Gesellschaft zu pflegen.
Mark schätzte das wie jeder andere auch. Doch nun war er etwas erschöpft und wollte seine Ruhe haben. Die Kinder rannten und tollten um ihn herum, Vierjährige liefen sich hinterher, und oftmals zupfte eines der Kinder an seinen Kleidern und rief »Mark, Mark«, doch er wollte nicht reagieren. Er ging einfach weiter zum Rand des kleinen Dorfes, zum Strand am Ozean der grünen Wiesen, aus dessen Fluten sich fernab die Berge erhoben, und die der grünen Flut, die an ihnen hochklimmen wollte, mit felsener Starrheit stolz trotzen. 
Mark war alles andere als ein Einzelgänger und ein melancholischer Junge, doch hatte er von Zeit zu Zeit das Bedürfnis nach Einsamkeit.
Im Dorf erzählte man sich, dass hin und wieder, äußerst selten, Wolfsrudel daherkamen, aus dem Wald in der Nähe, und das Dorf bedrohten. Jeder wusste, dass mit den Wölfen nicht zu spaßen war, und so verschanzte man sich so lange, bis sie wieder fortgegangen waren. Diese Belagerung, die hin und wieder, aber ganz selten auftrat, wurde ertragen und dauerte nie so lange, dass man zu hungern und dursten anfing. 
Zugegeben, man hatte Angst vor den Wölfen, man hatte Angst vor dem Schmerz, den ihre Bisse verursachten, aber niemand hatte Angst vor dem Tod. Und wo die Angst um das Leben, die Sorge um ein Fortbestehen verlorengegangen ist, hat auch die Panik ihren Nährboden verloren. Zurück bleibt nur noch ein Teil dessen, nämlich die Angst vor so Manchem und so Vielem, aber nicht vor etwas Bestimmten. Man fürchtete Tirata, ohne zu wissen, weshalb, man fürchtete die Corrin-Höhle, ohne zu wissen, was in ihr lag, man fürchtete den Frauenbaum, weil es hieß, er hätte irgendwelche dämonischen Kräfte inne, von denen man nicht wusste, welche es waren und wie sie wirkten. Aber dieser rudimentäre Teil der Angst war lebensbestimmend für die Menschen, denn sie hatten Angst, große Angst sogar. Sie hatten in latenter Weise Angst deshalb, weil sie nicht wussten, wovor sie sich eigentlich fürchteten. Das war im Grunde genommen schrecklich, denn dass etwas zum Fürchten vorhanden war, das wussten sie alle, und sie ängstigten sich wohl auch zu recht, aber sie fürchteten sich vor Dingen, von denen sie nichts verstanden. Es war wohl so, dass sie sich vor der Natur selbst fürchteten, weil sie sie so vergötterten. Man fürchtete und liebte einen Gott stets gleichermaßen. Aber der Umstand, sich nie sonderlich in Gefahr um das Leben zu sehen, machte die Menschen zu Ruheliebenden, die sich gern allein in eine Wiese legten und gedankenverloren in den Himmel über sich starrten. 
Mark ging auf das Haus von Tsams Eltern zu, ein Holzhaus wie alle. Es war solide und ohne eine Ordnung einzuhalten in das Dorf gebaut, wie alle Häuser. Da standen Häuser, Hütten und Scheunen umgeben von Wiesen, ohne erkennbare Ordnung. Hier galten keine geometrischen Regeln; hier standen die Gebäude wie zusammengewürfelt. Sie standen alle mit einigem Abstand auseinander, so weit, dass jedes Haus von einer freien Fläche und Wiese umrahmt wurde. Aber auch nicht so weit, dass man nicht mehr von einer Dorfgemeinschaft sprechen konnte. Tsams Haus lag irgendwo inmitten dieses Dorfes, und wenn man genauer diese Häuser betrachtete, erkannte man: keines glich dem anderen. Sie unterschieden sich in An- und Aufbauten, an den Gärten, an den Anordnungen der Fenster – nur das Material war Holz und so bei allen gleich, sonst nichts.
Mark stieg die kleine Treppe hinauf und klopfte laut gegen die Tür, bevor er eintrat und das gewohnte Bild in Tsams Haus sah: die Wohnküche, die den unteren Teil des Hauses beherrschte, war hell erleuchtet. Man legte Wert auf viele große Fenster in Tsams Elternhaus. Hier brannten keine Feuer, und Maraim, der Bruder Tsams, sah ihn und winkte ihn zu sich. »Hallo, Mark. Suchst du Tsam?«
»Ja«, antwortete Mark und setzte sich dem drei Jahre älteren Maraim schräg gegenüber an den Tisch. Einige Krüge hochprozentigen Tropfens standen auf dem Tisch. Maraim bemerkte Marks Interesse daran und grinste. »Er ist nicht hier. Was stierst du denn so auf die Krüge, hä? Juckt dir die Kehle nach was Hartem, hä?«
Mark zuckte die Achseln. »Klar.«
»Dann fass mir mal zwischen die Beine, Kleiner, hahaha!«
»Du bist ein altes Schwein. Wo ist er?«
»Wer. Mein Hartes?«
»Tsam natürlich.«
»Er ist mit den Kindern draußen.«
»Was, zum Teufel, macht er mit den kleinen Kindern?«
»Nicht, was ich mit ihnen machen würde, wenn sie’s nur nicht weitererzählen würden, hahahaha!«
»Hör auf mit deinen Sauereien.«
Maraim lachte laut und krächzend. Jeder Junge oder Mann fand früher oder später ein passendes Mädchen, aber bei ihm war es sicher, dass er niemals eines bekommen würde. 
Was Maraim so abstoßend machte war nicht nur ein Streich der Natur, ihn mit Unansehnlichkeit zu schlagen; es waren seine Anlagen innerer Widerlichkeit, die er stets voll zur Geltung brachte. Er betrank sich bei jeder Gelegenheit maßlos, er war zu laut und zu ordinär; man nahm ihn als notwendiges Übel im Dorf hin. Er trug nur schmutzige Sachen und hielt nichts von Sauberkeit.
Man sah ihm gehörige Schmierigkeit an, und so vermied es jeder, allzu sehr in seiner Nähe zu sein.
»Er betreut sie.«
»Er tut was?«
»Ja, du hast richtig gehört. Tsam spielt mit den kleinen Kindern, um sie uns allen vom Leib zu halten.«
»Das wird ihm nicht gefallen.«
»Es stinkt ihm wie die Scheiße eines Gauls. Willst du ’nen Schluck von dem Kram hier?« Er deutete auf die Krüge.
Mark schüttelte den Kopf. »Ich will mich erst heute Abend betrinken.«
»Zum Besaufen ist es nie zu früh. Hier, trink.« Und ehe Mark sich versah, hatte er einen Becher mit dem Schnaps vor sich und spürte die Versuchung.
»Komm schon, Gottkind, sauf den Kack.«
»Wenn es Kack ist, warum soll ich es dann trinken?«
»Weil du dich besaufen willst, du Neunmalklug! Und jetzt runter damit, oder bist du heute Feigling?«
Das reichte, um in Mark Stolz auszulösen. Er nahm den Becher und leerte ihn mit einem Zug. Das Brennen in Mund und Kehle riss ihn fast vom Stuhl. Seine Augen weiteten sich und er hustete heftig. Maraim grölte. »Na, Süßer, noch auf den Beinen?«
Röchelnd erwiderte Mark: »Es geht gerade noch. Scheiße, was ist das nur für ein Zeug?«
»Pure Kacke, habe ich doch schon gesagt. Pure Kacke. Kuhscheiße, frisch aus dem Arsch. Haut rein, was?«
»Du bist und bleibst ein Dreckschwein, Maraim. Ich suche jetzt Tsam. Und du jetzt lass’ mich in Ruhe, du Widerling!«
Er stand auf und ging hinaus, noch immer mit Schwindel und Brennen überall.
Maraim lachte hinter ihm. »Gut gesagt, Kleiner. Werd` s mal versuchen, vielleicht kommt was dabei raus!«
Und Mark schlug einfach die Tür zu.

Am Ufer des Baches sah Mark schon von weiter Ferne eine Schar Kinder verschiedenen Alters, die zwischen den Bäumen und Büschen entlang der Wasserlinie und im Wasser selbst entlang huschten. Sie gaben ihrer Vergnügung offenkundigen Ausdruck. 
Der sanfte Wind trug ihr Geschrei und Gequieke weit über das Land, und es schien, als wären alle Kinder hier versammelt. Sie spielten Fangen und Verstecken, sie ließen flache Steine über das Wasser hüpfen, sie schwammen, sie platschten, sie warfen sich gegenseitig ins Wasser, und besonders die Mädchen mussten es hilflos über sich ergehen lassen, wie sie von den Jungen lange Zeit unter Wasser gedrückt wurden. Wenn sie hochkamen, holten sie tief Luft, japsend und keuchend, ohne die Gelegenheit zu bekommen, außer Keuchen und Strampeln darauf aufmerksam zu machen, dass ihnen diese Behandlung missfiel, denn stets wurden sie sofort wieder unter Wasser gedrückt. Nun, ertrunken war noch niemand, doch hätte Tsam seine Aufgabe ernster genommen, dann hätte er dies wohl gesehen und verhindert. 
Doch nichts interessierte ihn sonderlich. Er lag unter einem Baum und ließ die Götter gute Menschen sein. Mark steuerte auf ihn
zu, ohne von ihm gesehen zu werden. Mark benutzte diesen Vorteil, um sich von hinten anzuschleichen, in beiden Hände Berge von Erde, um sie Tsam von hinten überraschend auf Bauch und ins Gesicht zu werfen.
Tsam schrak mit einem lauten »Iiih« auf und stand sofort. In seinem von der Sonne gebräunten Gesicht, das von schwarzen Haaren umrahmt wurde, spiegelte sich Wut wider, weil er an einen Spaß der ihn nervenden Kinder gedacht hatte. Als in seinem Hirn der Impuls über die Sichtung Marks angekommen war, entspannte er sich ein wenig. »Du warst das?
»Sicher, warum nicht. Ich habe mich an dir für seinen Bruder gerächt.«
»Wieso, was hat er getan?«
»Er hat wieder den üblichen Mist erzählt. Er ist wirklich widerlich. Manchmal wünschte ich, Tirata würde ihm die Beulen an die Eier zaubern.«
Tsam setzte sich wieder unter seinen Baum in den Schatten. 
»Was wolltest du bei uns?«, fragte er.
»Ich habe dich gesucht«, meinte Mark und setze sich dazu. Beiläufig sah er den herumtollenden Kindern zu. »Ich habe nämlich jetzt nichts mehr zu tun, und da dachte ich, du könntest Gesellschaft gebrauchen, wenn du nicht gerade arbeitest.«
»Gut Idee«, sagte Tsam und schloss die Augen.
»Solltest du nicht auf die Kinder aufpassen?«
»Eigentlich schon.«
»Sie ertränken sich gegenseitig.«
»Na hoffentlich. Sie gehen mir auf die Nerven. Ich hätte lieber Holz gehackt.«
»Wieso, du hast es doch hier ganz gut.«
»Klar, weil ich alles vernachlässige. Das ist der Trick an der ganzen Sache. Ich mache mich doch nicht fertig, wenn ich mir für den Abend ein großes Betrinken vorgenommen habe.«
Mark dämpfte seine Stimme. »Tja, das ist so eine Sache. Ich habe mich wirklich darauf gefreut, aber Pepe hat mir für heute verboten, zu trinken. Er hat schlechte Laune wegen der vielen Arbeit und meinte, mich damit ärgern zu müssen.«
Tsams Augen waren mittlerweile geweitet und auf Mark gerichtet. »Was willst du damit sagen?!«
»Dass ich heute Abend nicht mittrinke, Tsam.«
»Was? Nicht mittrinken? Mit wem soll ich denn dann trinken?«
Mark hob kurz die Achseln und entgegnete resigniert: »Es gibt andere als mich. Pepe wird sich bestimmt betrinken. Du kannst es ja mit ihm machen. Oder mit den anderen.«
»He! Die sind doch alle entweder alle zu alt oder zu jung! Du bist der einzige im Dorf in meinem Alter! Ich will mich mit dir betrinken, und mit sonst keinem! Was soll das?«
»Ich habe keine Ahnung.« Mark sah zu Boden. »Frag Pepe. Er ist heute schlechter Laune.«
»Das ist mir doch egal! Was mache ich jetzt? Heute ist das erste Feldfrucht-Fest, an dem ich mich betrinken darf, und ich freue mich schon den ganzen Winter darauf, und ein paar Stunden vorher kommt so was! Das ist nicht gerecht!« Tsam sprang auf. »Wo ist dein Pepe? Ich werde ihm sagen, dass er mir alles versaut, wenn er dich nicht mittrinken lässt!«
Er sah zum Bach herüber, wo ein Junge ein Mädchen pausenlos unter Wasser drückte und sie nur kurz Luft holen ließ.  »He!« brüllte Tsam mit voller Stimmkraft. »Lass sie los, oder ich binde dich unter Wasser an einen Stein! Loslassen, sofort, sage ich!« Er war außer sich, und Mark grinste in den Schatten und sah Tsam von hinten an. Wie erbost Tsam war! Wie aufgeregt! Mark stand auf und ging zu ihm. Kinder rannten um sie herum und zupften an ihnen. »Spielt ihr mit uns Pferd und Reiter? Spielt ihr mit uns Pferd und Reiter? Och bitte, spielt mit uns doch Pferd und Reiter!«
Mark beachtete sie kaum, doch Tsam stieß sie wutentbrannt und grob zur Seite. »Zieht Leine, kleines Kreppzeug!«
Verdutzt über Tsams Wutausbruch wichen die Kleinen zurück und wagten es erst in einigen Metern Entfernung, zaghaft wieder mit ihrer Tollerei zu beginnen.
Mark grinste, legte seinen linken Arm um Tsam, drückte ihn ein wenig an sich und sagte, aufs Wasser blickend: »Weißt du, man sollte nicht alles glauben, was einem der beste Freund aus Spaß erzählt.«
Tsam sagte nichts.
»Es war ein Witz«, gab Mark Nachdruck.
Tsam sah ihn an. »Hast du gerade Witz gesagt?«
Mark sah ihn grinsend an und nickte. »Mmhmm.«
»Du hast mich also angelogen?«
»Mmhmm.«
»Du Drecksack«, rief Tsam und warf Mark zu Boden, setzte sich auf ihn und kitzelte ihn durch, dass Mark japste. »Du mir Lügen erzählen? Na warte, na warte!«
»Hör auf«, versuchte Mark ins Lachen zu sagen, doch er schaffte es mehr schlecht als recht. Tsam hörte nicht auf. 
»Ich will, dass später gesagt wird, dass Tsam seinen besten Freund Mark zu Todes gekitzelt hat, weil er ihm Lügen vor dem Feldfrucht-Fest erzählt hat. Er hat ihm weismachen wollen, dass er nicht mit ihm mittrinken durfte, obwohl sich beide das ganze Jahr auf nichts anderes gefreut hatten wie auf das.«
»Nein! Nein! Hör auf!«
»Nein, ich höre nicht auf. Du kriegst deine Strafe. He, Kinder, kommt her! Wir kitzeln Mark durch! Macht alle mit!«
Mit frenetischen Jubel zogen sich die Kinder zu einer Traube zusammen und fielen über Mark her wie eine brüllende Horde Welpen über die Zitzen ihrer Mutter. Sie alle gaben nach Kräften ihr Bestes, was Mark nicht zugute kam. Er schrie und brüllte unsichtbar unter einer bunten Schar von Kindern und Tsam, der auf ihm saß, und konnte sich nicht wehren, und erst nach einiger Zeit hörte Tsam auf und stand auf. Mark schaffte es dann recht leicht, die Kinder von sich abzufegen wie Staubkörner. Als er stand, war er dreckig, zerzaust und halb nackt. Die Brut hatte ihm im Eifer des Gefechtes das Hemd halb heruntergerissen und die Haare durcheinandergewirbelt. 
Tsam lächelte. »Ich würde mir demnächst überlegen, ob du mir irgendwelche Geschichten erzählst«, meinte er.
Die Traube von Kindern hatte nicht genug und ließ nicht von Mark ab, bis er sie anbrüllte: »Geht spielen!« Wie ein Bienenschwarm huschten die Kinder zurück zum Wasser und machten sich wieder daran, sich gegenseitig zu ertränken.
Mark richtete sein Haar und machte sich daran, sein Hemd wieder in die Hose zu stopfen. Er setzte sich neben Tsam unter einen der Bäume. »Dein Bruder ist ein Widerling. Er ist verdorben von oben bis unten. Er ist …«, Mark fand keinen treffenden Ausdruck.
Tsam starrte in die Leere. »Ja, das ist er. Ich schäme mich, so einen Bruder zu haben. Maraim ist das Letzte. Heute Abend, wenn er richtig betrunken ist, wird er wieder anfangen, zu toben. Das macht er oft.«
»Du kannst heute bei mir schlafen, wenn er wieder gewalttätig werden sollte.«
»Ich glaube, das tue ich auch. Es wird wohl besser sein.« Ein Grinsen umspielte Marks Züge. »Wollen wir uns schon vorab dafür rächen?«
»Wie meinst du das?«
»Na, wir könnten ihm doch einmal einen richtig schönen Denkzettel verpassen dafür, dass er ist, wie er ist, und ist, was er ist.«
»Und wie willst du das anstellen?«
Mark stand auf. »Komm mit. Aber verkneif dir das Lachen.«
Tsam tat, wie ihm geheißen und ging mit Mark zum Bach, dessen Wasser wild durch die Gegend spritzte, da sich die Kinder darin herumwälzten und plantschten. »He, Kinder«, rief Mark, und das ausgelassene Toben verebbte sofort. »Kommt, ich erzähle euch eine Geschichte. Habt ihr Lust?«
Natürlich hatten die Kinder das, und sie machen sich daran, sich eilig im Mark und Tsam zu scharen und erwartungsvoll dreinzublicken. Geschichten, die man sich erzählte, waren immer Ereignisse, und schon früh lernte man, sie zu erzählen; aber nie, sie als Unsinn abzutun.Als die Kinder versammelt waren, bewegte sich Mark unter die Bäume, und wie ein Haufen Ameisen folgten ihm die Kinder und Tsam und ließen sich im Schatten nieder.
Mit einem Mal war es still geworden. Hatte es eben noch den Anschein eines Abenteuerspielplatzes gehabt, so vernahm man nun das ferne Pfeifen der Vögel, das allgegenwärtige Summen der Insekten, das Zirpen, das Quaken, das um sie herum war, und dieses himmlische Adagio betäubte die Anwesenden und machte sie offen für die Geschichten, die vom sanften Rauschen der Blätter im lauen Wind untermalt wurde.
Mark begann mit seiner Geschichte. »Ihr kennt doch alle den widerlichsten Menschen im Dorf, oder? Wer ist es?«
Aus vielen Kinderkehlen kam es gleichzeitig und in allen Tonlagen: »Maraim! Maraim!«
Mark nickte zufrieden. »Richtig. Maraim. Es hat noch nie einen so widerlichen Menschen gegeben, oder?«
»Nein, nein«, riefen die Kinder einhellig, und auch die Größeren unter ihnen, die begannen, wie Pflanzen zu sprießen, schüttelten eifrig den Kopf.
Tsam saß da und überlegte, was er tun sollte. Jeder wusste, dass Maraim sein Bruder war, und nun hatte er Furcht, dass etwas auf ihn zurückfiel.
»Findet ihr, Tsam hätte so einen Bruder wie Maraim verdient?«
Kollektives, lautstarkes Verneinen.
»Findest ihr, Maraim könnte überhaupt Tsams Bruder sein?«
Da war die Verneinung nicht mehr so einhellig.
Mark riss die Augen weit auf und wartete auf ein lautes Rauschen der Blätter, mit dem er leise und fast flüsternd in den Wind hauchte: »Er ist gar nicht Tsams Bruder.«
Die Kinder erschraken, und Tsam am meisten. Er sah nicht minder verblüfft Mark an, auf den so viele große Augen und offene Münder gerichtet waren.
»Wisst ihr, das ist ein großes Geheimnis. Maraim ist nicht mal ein richtiger Mensch. Seht ihn euch doch an, diesen Widerling. Und riecht er wie ein Mensch?«
Kopfschütteln.
»Er stinkt doch fürchterlich, oder?«
Kopfnicken.
»Es war vor vielen Jahren, als noch niemand von uns lebte. Da kam ein Mensch von weither, und niemand kannte ihn.« So einfach dies ausgesprochen war, so unvorstellbar war es. Die Welt war das Dorf, mit dem, was darum zu sehen war, aber hinter dem Wald, hinter den Bergen hörte die Welt auf, das wusste man. Dahinter gab es nichts, auch keine Menschen. Und woher sollten sie sonst kommen, als aus der Corrin-Höhle?
»Dieser Mensch kam ins Dorf und wollte hier leben. Aber er war dumm. Zu dumm zum Säen, zu dumm zum Ernten, zu dumm zum Schlachten. Er konnte nicht mal Wasser holen, selbst dazu war er zu dumm.«
Kichern fraß sich durch die Gemeinde.
»Niemand hatte jemals einen solch dummen Menschen gesehen, und auch nie einen so hässlichen. Er hatte überall am Körper dicke Beulen, die gelb, grün und blau waren.«
Ekel verzog die Gesichter der Zuhörer.
»Aus diesen Beulen kam Eiter, der furchtbar stank.«
Nun gaben die Zuhörer ihrem Ekel verbal Ausdruck.
»Niemand wollte ihn haben, weil er aus dem Mund stank und Eiter versprühte. Niemand konnte ihn ansehen, ohne dass einem schlecht wurde. Er hatte sich in ein Mädchen verliebt, dazu war er nicht zu dumm. Aber das Mädchen wollte ihn nicht. Weil er auch immer kotzen musste.«
Bähs und Böhs machten die Runde, und Tsam senkte den Kopf, um sein Lachen zu verbergen.
»Ja, dieser Fremde war wirklich ein hässlicher Kerl. Nun, es kam der Tag, an dem die Leute im Dorf ihn nicht mehr länger bei sich haben wollten. Er ging ihnen auf die Nerven, und sie wollten endlich wieder frische Luft atmen. Sie prügelten ihn aus dem Dorf. Er lief, so schnell ihn seine fetten Beine trugen, und als er weit genug fort war, ließ man ihn in Ruhe. Man meinte, endlich Ruhe vor ihm zu haben. Aber falsch gedacht. Er schlich sich wieder ans Dorf heran und wartete. Was er nicht wusste, war, dass er so unerträglich stank, dass man ihm im Dorf roch. Und die Männer wussten, was sie zu tun hatten. Sie schlichen sich eines Nachts zu ihm. Er war ungefähr hier, wo wir jetzt sind.«
Erstaunte Blicke huschten über die Landschaft, und Mark und Tsam merkten, dass vor den geistigen Augen der Kinder der hässliche, stinkende Fremde auftauchte.
»Sie warfen ihn ins Wasser, als er schlief, und er fiel nicht nur ins Wasser, er fiel auch in Schlamm und Kacke, in Berge aus Schlamm und Kacke. Er verfing sich darin, und aus lauter Angst machte er sich in die Hose. Er riss sich im Wasser die Hose runter, die Frösche behüpften ihn. Und die Kacke aus seiner Hose vermischte sich mit dem dem Schlamm und der Kacke. Der Mann lief davon und wurde nie wieder gesehen. Aber seine Kacke schwamm im Wasser. Lange war es still im Dorf, aber irgendwann kam eine andere Gestalt – es war Maraim! Er war eine Mischung aus dem Schlamm und der Kacke des grässlichen Fremden. Er ist kein Mensch. Er ist eigentlich nur Abfall. Stimmt doch, oder?«
»Ja, ja«, riefen die Kinder, und Tsam lachte lauthals, weil er die Beschreibung und die ganze Geschichte so komisch und treffend fand.
Mark sagte weiter: »Vor ihm muss man keine Angst haben. Oder habt ihr etwa vor Pferdeäpfeln Angst?«
»Nein, nein!«
»Also. Wenn ihr ihn aus dem Dorf haben wollt, müsst ihr ihn mit Fröschen und Schlamm aus dem Bach bewerfen, denn davor ekelt er sich maßlos. Bewerft ihn heute beim Fest damit und gebt es ihm zu essen, dann wird er aus dem Dorf verschwinden. Macht ihr das?«
Die Begeisterung für diesen Plan war ausufernd, und sogleich machten sich die Kinder des Dorfes mit Ausnahme derer, die ihren Eltern hatten helfen wollen oder müssen – darunter auch Jessica – daran, den Bach und das Ufer nach Fröschen abzusuchen, und es gab genug davon. Im Bach fanden sie massenhaft Schlamm, und sie legten alles in Eimer.
Maraim sollte am Abend die Rache der Kinder zu spüren bekommen.

Nach getaner und schwerer Arbeit setzte sich Lorn in seine Wohnküche. Er musste ein wenig ausruhen, und das hatte er sich auch verdient. Das Licht der Sonne flutete durch die Fenster, und es war angenehm kühl. Die Luft roch holzig, und es war nur eine Frage der Zeit, bis das Haus sich mit Hitze aufgeladen hatte. Für jeden Mann im Dorf war jedes Fest mit Alkohol ein wahres Fest. Es war eine gute Angelegenheit, sich einen hinter die Binde zu kippen und um berauscht zu tanzen ebenfalls. Das Fest konnte nur gut werden, denn es gab da nichts, was irgend jemandem das Fest hätte vergällen können.
Es klopfte an der Tür.
»Ja«, sagte er lapidar, ohne sich umzusehen. Er vernahm Schritte und eine männliche Stimme, die sagte: »Tag, Lorn. Mit der Arbeit fertig?«
Lorn hörte schon an der Stimme, dass es Alkon war, der da hineinkam und schließlich in seine Sicht trat, um sich vor ihn zu setze. Der Besucher, etwa so alt wie Lorn, brachte einen Schwall Frischluft mit sich.
»So ziemlich«, entgegnete Lorn. »Es gibt noch einiges zu tun, aber das ist nicht so eilig. Ich habe mich erst mal hingesetzt.«
»Das gönne ich dir, wenn ich bedenke, was ich noch alles zu tun habe …«
»Ach, und du ruhst dich auch bei mir ein wenig aus?«
»Eigentlich nicht.« Alkon schürzte die Lippen.
»Was ist denn los?«, fragte Lorn leicht verunsichert.
»Nun, wir haben beraten, und du bist es diesmal, der Tirata einlädt und abholt.«
Lorn erstarrte. »Was, ich?«
»Es war eine gerechte Entscheidung. Jeder muss einmal gehen, und du hast nun das richtige Alter. Es ist ja auch nur ein Mal.«
»O, nein, ich …«
»Du musst ihr doch nur Bescheid geben. Du musst nicht einmal zu ihr hinein. Rufe es am besten durch die Tür, nachdem du angeklopft hast.«
»Das … das … schaffe ich nicht.«
Jessica kam mit einem Eimer voll Schlamm hereingestürmt. »Hallo, Pepe«, rief sie und stellte den Eimer in eine Ecke. Sie war heilfroh, dass Lorn nicht fragte, was in dem Eimer war.
»Warum war ich nicht dabei?«, wollte Lorn wissen.
»Na, na, das hört sich sehr nach Misstrauen an, Lorn. Meinst du, man will dir was Böses? Jeder muss es einmal tun, und diesmal hat man dich gewählt. Ganz einfach. Warum sollte es dich nicht treffen?«
»Jaja, du hast ja recht, aber …« Er schluckte schwer, und Jessica kam zu ihm. »Was ist denn, Pepe?«
»Dein Pepe muss zu Tirata, um sie zum Fest abzuholen.«
Begeisterung keimte in ihr auf. »Ich komme mit, Pepe!«
»Nein, Jessica, nein. Du bleibst schön hier.«
»Och, Pepe. Was soll sie denn tun? Uns fressen? Oder frisst sie nur kleine Mädchen?«
»Jessica, bitte.«
»Was soll das? Lass sie doch mitgehen.«
Und so blieb Lorn noch ein wenig sitzen, um seinen Mut zu sammeln.

„Der Wind von Irgendwo geht weiter mit Kapitel 3: Bei Tirata

Mein Mystery-Roman „Der Wind von Irgendwo“ komplett im Blog lesen

Mein Roman „Der Wind von Irgendwo“ entführt uns in das einfache Leben der Menschen in einem Dorf ohne Namen. Umgeben von Wiesen, Weiden und Feldern ist es für die Bewohner der einzige Ort, an dem Menschen leben. 

Alles Unheil beginnt damit, dass die besten Freunde Mark und Tsam beschließen, Tsams verhasstem Bruder Maraim während des großen Feldfruchtfests eine Lektion zu erteilen, die dieser nicht so schnell vergessen soll. Dabei können sie sich auf die Unterstützung der Kinder im Dorf verlassen. Der Streich gelingt – sehr zum Spaß aller Dorfbewohner. 

Doch was als Spaß beginnt, markiert den großen Wendepunkt im Leben aller: Denn der betrunkene Maraim verschwindet und kehrt nicht mehr zurück. Was ist geschehen? Und was droht nun dem Dorf?

Hat sich Maraim mit der seltsamen Gestalt aus einem noch seltsameren Buch verbündet, die in der rätselhaften Corrin-Höhle in der Nähe lebt, und in die niemand je einen Schritt hineinwagen würde? Die allabendlich am Dorffeuer erzählten Geschichten über die Mysterien der Umgebung künden von zahlreichen Schrecken und lassen Böses erahnen. Denn überall um sie herum lauern Gefahren:

Da ist der Frauenbaum unweit des Dorfes in den Feldern und Wiesen, der das Profil eines Frauenkopfes hat, und dem sich niemand zu nähern wagt. 

Und dann ist da die Wahrsagerin Tirata, die in ihrem Haus umgeben von Pappeln abseits der Gemeinschaft lebt. Was weiß sie, was verheimlicht sie, und warum ist so sehr an Marks kleiner Schwester Jessica so interessiert?

Das Dorf fürchtet nun Rache – und alle spüren, wie der Wind von Irgendwo auf sie zukommt. Das Leben im Dorf wird nicht mehr das Gleiche sein, und für Mark und seine Schwester Jessica beginnt ein Aufbruch ins Ungewisse …

Der Roman wird ab kommendem Sonntag, 21. März 2021, kapitelweise in diesem Blog veröffentlicht. Hier geht’s zur Ankündigung

Kapitelübersicht

Kapitel 1: Am Tag vor einer großen Schuld
Kapitel 2: Der Streich 
Kapitel 3: Bei Tirata
Kapitel 4: Maraim und die Frösche
Kapitel 5: Die Last der Schuld
Kapitel 6: Der Himmel weint
Kapitel 7: Ein neuer Tag
Kapitel 8: Jessica bei der Wahrsagerin
Kapitel 9: Am Feuer
Kapitel 10: Beginn einer Odyssee
Kapitel 11: Die Geißel der Angst
Kapitel 12: Gewitternacht
Kapitel 13: Der Frauenbaum
Kapitel 14: Der Mut der Verzweiflung
Kapitel 15: Der Wind von Irgendwo

Ich veröffentliche meinen Mystery-Roman „Der Wind von Irgendwo“ komplett im Blog

Eine lange Reise geht zu Ende: Ab kommendem Sonntag, 21. März 2021, starte ich die Veröffentlichung meines kompletten Mystery-Romans »Der Wind von Irgendwo« hier im Blog – pro Woche je ein Kapitel, 15 Kapitel insgesamt. 

Damit entscheide ich mich bewusst gegen die lange geplante Veröffentlichung als eBook, für die ich bereits ein Cover habe erstellen lassen – übrigens mit dem Pseudonym Sasha Scott, dass ich mir dafür ausgedacht habe.

Warum?
Weil ich es reizvoller finde. Ich finde es persönlicher im Blog und mich reizt die wöchentliche Veröffentlichung. Ich kann und möchte auch Einblicke geben in die Entstehung, die als Kurzgeschichte bereits 1985 (!) begann und 1993/94 zur ersten Romanversion wurde. Ja, es gibt viel zu erzählen über die Entstehungsgeschichte und die Hintergründe: Was war die erste Idee und woher kommt sie? Welche Rolle spielen Soundtracks und Musik? Was hat mich ganz besonders beeinflusst? Und wie kam es, dass ich den Roman 2016 nach so vielen Jahren wieder herausholte, um ihn zu überarbeiten? Wieso habe ich ein Pseudonym gewählt und was steckt überhaupt dahinter?
Genau deshalb eignet sich »Der Wind von Irgendwo« meiner Ansicht nach so gut für eine Veröffentlichung im Blog: Weil ich Roman und Schreibprojekt gleichzeitig vorstellen kann – wie Film mit Bonusmaterial, Making-of und Featurettes auf DVD und Blu-ray.
So wird es mir am meisten Spaß machen – und ich hoffe, den Leserinnen und Lesern auch.

Morgen veröffentliche ich die Inhaltsangabe, die ich als Klappentextes des geplanten eBooks vorgesehen hatte.
 

Ab Sonntag geht’s dann richtig los mit dem 1. Kapitel.

Ich bin gespannt!

Fehler als Glücksfall: Mein Roman „Dickhäuter“ reloaded

Da druckt sie aus: Die neue 2019er-Version meines Romans „Dickhäuter“, den ich ja eigentlich vor Kurzem erst mit neuem Cover erneut als eBook veröffentlicht habe – was ist passiert? 

Manchmal sind Fehler Glücksfälle. Jemand wird mich auf einen Fehler gleich auf Seite 1 hin, der auch in den Vorschauen zu sehen war, und der bislang niemandem aufgefallen war. Ich zog die Veröffentlichung zurück und entfernte den Roman aus allen Shops. Und nahm dies zum Anlass, noch einmal ans Manuskript zu gehen. Es geriet zum Glücksfall.

Ich habe „Dickhäuter“ bereits 2001 geschrieben und bei der letzten Überarbeitung lediglich beschriebene Technologien und Verhaltensweisen angepasst – 2001 war nicht zu ahnen, was mit mobilem Internet und Sozialen Medien über uns kommen sollte …

Doch nun 2019 erkannte ich, dass ich noch mehr ändern musste. Es begann schon auf Seite 1, Kapitel 1 hat nun komplett neue Dialoge, Kapitel 8 und 9 haben sogar neue Szenen. Außerdem strich ich einige Passagen auch einfach ersatzlos und formulierte andere um. Der Ton hat sich verändert und der Dickhäuter hat nun als Person eine Facette hinzu bekommen. Der Roman ist weniger anklagend, dafür differenzierter geworden. Von einer Neuversion kann also wirklich die Rede sein. Und das alles wegen eines Fehlers, den niemand zuvor bemerkt hat. Manchmal muss man für Fehler dankbar sein. Voraussichtlich in eine Woche lade ich ihn wieder hoch, sodass er erhältlich sein wird.

Ich gebe Bescheid.

Oliver Koch: Dickhäuter – Mein Roman als Ebook

Künstlerroman? Die Geschichte einer Depression? Kapitalismus- und Kulturkritik?

Bereits seit dem Jahr 2000 existiert mein Roman Dickhäuter.

Damals schrieb ich Dickhäuter in einer schweren Phase innerhalb von nur einer Woche. Die Tage verliefen stets auf gleiche Weise: Aufstehen, frühstücken, ran an die Tastatur. So schrieb ich im Schnitt mehr als ein Kapitel pro Tag.

Um was geht es in Dickhäuter?
Der Roman handelt von Markus, dessen Bindung zum Leben sich mehr und mehr auflöst: Er versteht im wahrsten Sinne des Wortes die Welt nicht mehr, die nur noch aus Marketing-Parolen und Oberflächlichkeit zu bestehen scheint.
Trost und Ausdruck findet er lediglich in seiner Malerei, in der er auch der Instanz ein Gesicht gibt, die sein Leben beherrscht: Die „Schwarze Majestät“, mit der er seine verarbeitet.

Und obwohl er alles hat, hält ihn auch seine Liebe zu seinem Freund nicht vor seinem Fall, den er als Künstler zum Programm erklärt: Er wird zu einem Dickhäuter: Einem Menschen, der sich für das eigene Leben ein derart dickes Fell antrainieren musste, dass er nichts mehr spürt.

Vor diesem Hintergrund zieht er sein Programm bis zum bitteren Ende durch. Und findet damit zu Ausdruck, Erlösung und Bestimmung.

Der Künstler, das Leben und das Scheitern: Dickhäuter und die zerstörerische Macht des Kapitalismus
Mich hat an diesem Stoff das Scheitern interessiert: Scheitert er wirklich? Und wenn ja, als Mensch? Als Künstler? Oder scheitern er als Mensch, aber erlangt dadurch als Künstler ein einzigartiges Programm? Was heißt Scheitern überhaupt?

Dann ist da natürlich die massive Kritik an unserer Welt: Keep Reading

Drohnenland von Tom Hillenbrand: Vom Lesen zur Sucht

Ja, es gibt einen wirklich guten Grund, Drohnenland von Tom Hillenbrand auf keinen Fall zu lesen: Man wird süchtig danach! Drohnenland ist einer dieser Romane, in denen man so versinkt, dass man die Welt um sich herum vergisst – weil man gar nicht anders kann.

Für eine derartig dreiste Lese-Nötigung muss Tom Hillenbrand eigentlich bestraft werden. Sein futuristischer Thriller, eine geniale Mischung aus Science Fiction und Kriminalroman, hat internationales Format und müsste sich – entsprechende internationale Auswertung in möglichst viele Sprachen vorausgesetzt – zu einem weltweiten Bestseller entwickeln. In den USA erklimmen solche Erzählungen nicht einfach nur die Bestesllerlisten, sondern werden auch entsprechend international erfolgreich ausgewertet und anschließend würdig verfilmt. Angemssen dramaturgisch aufgebaut und flott erzählt ist Drohnenland in jedem Fall.

Die zahllosen Einfälle im Roman sind durchaus interessant, der sog. „Mirrorspace“ ist gar großes Kino. Überhaupt Kino: Hillenbrand schafft es, eine Welt vor den Augen des Lesers ablaufen zu lassen wie in einem Kinofilm, und das trotz recht sparsamer Beschreibungen. Plastisch und klar konturiert, reißt der Plot den Leser in das Roman-Universum und lässt ihn nicht mehr los.

Die zukünftige Welt, die Hillenbrand in Drohnenland beschreibt, ist schlüssig und auf diese Weise in vielerlei Hinsicht erschreckend. Da ist natürlich die technologische Dimension der nahezu lückenlosen Totalüberwachung sowie die politischen, technischen und gesellschaftlichen Handlungen daraus.

Da sind aber auch die geschickt beiläufig in das Handlungsgerüst montierten Beschreibungen des Klimawandels und der politischen Verwicklungen (Solar-Kriege). Das ist geschickt gemacht und bietet die ganze Strecke hindurch immer wieder neue Einsichten in die beschriebene Welt, die der heutigen zwar um einige Jahrzehnte voraus ist, aber noch immer vorstellbar im Hier und Jetzt verankert ist – so strahlt Drohnenland eine Aktualität und Authentiziät aus, die man so nur selten findet.

Drohnenland publikumswirksam als „Kriminalroman“ zu verkaufen, ist zwar nicht falsch, aber drängt den Roman viel zu weit in eine Ecke, in die er nicht gehört. Er ist sowohl SF-Thriller als auch Tech-Thriller. Ihn von Verlagsseite so offensiv in die Krimiecke zu drängen, wird dem Stoff mit all seiner brisanten Tragweite und seinen überraschenden Einfällen bei Weitem nicht gerecht – zumal die deutsche Krimi-Szene weder internationales Format, noch internationale Klasse hat. So werden SF-Fans an dem Buch eher vorbeilaufen und sich der typische Krimi-Leser eher befremdet fühlen.

Perfekt geschrieben, ist Drohnenland ein Sog, der nicht mehr loslässt, dass man dem Roman wie dem Autor einen verdienen internationalen Bestseller wünscht.

Herr Hillenbrand, Sie haben mich mit Ihrem Roman gekidnappt.

Ich danke Ihnen dafür!