Der Wind von Irgendwo von Oliver Koch Kapitel 1 - www.oliverkoch.net

Mystery-Roman von Oliver Koch

Inhaltsangabe und Kapitelübersicht

Der längste Tag des Jahres begann ruhig. Dabei würde es später noch hoch hergehen. Irgendwann zwischen Nacht und Morgen entzündete sich ein Funke und ließ das Dorf erwachen. Nicht, dass alle nachts geschlafen hätten – denn heute war der längste Tag des Jahres und damit der Tag des Feldfrucht-Fests. Heute würden sie alle Gaben feiern, die die Natur ihnen in diesem Jahr geschenkt hatte und noch schenken würde. Jedes Jahr war das ganze Dorf rund um das Feldfrucht-Fest außer Rand und Band, denn alle freuten sich auf einen Tag und eine Nacht voller Musik, Tanz, Schlemmen und Trinken. 

Deshalb weckte der Funke dieses besonderen Tages nicht alle – denn viele hatten die ganze Nacht hindurch für das Fest geschuftet oder hatten vor Aufregung nicht schlafen können. 

Für diesen Höhepunkt des Jahres war keine Mühe zu groß, keine Arbeit zu schwer. 

Im jungen Licht des aufstrebenden Tages, das sich langsam in Dunkel fraß, verhüllten die Dinge noch weitgehend ihre Farben. Die Wiesen und Felder rings um das Dorf waren nicht mehr als eine Ebene, die westwärts bis zur großen Bergkette reichte, in deren Nähe sich noch nie jemand gewagt hatte – diese Bergkette dort, wie viele Stunden oder Tage Fußweg sie auch entfernt sein mochte, brach die Ebene, und was in den Wäldern dort oben vor sich gehen mochte, war ein Geheimnis. Niemand wollte das wecken, was dort leben mochte, von der schrecklichen Höhle ganz zu schweigen. Die Corrin-Höhle, von der man sich Grauenhaftes erzählte. Wenn abends die Feuer in der Dorfmitte flackerten oder bei Regen in der großen Scheune, gingen die Schreckgestalten der Corrin-Höhle von Mund zu Mund, von Ohr zu Ohr – niemand würde je dorthin gehen, dazu war ihnen das eigene Leben viel zu kostbar. Wenn man schon mit dem Grauen dort leben musste, so wollten sie wenigstens hier bleiben, während der Schrecken in welcher Art auch immer dort bleiben sollte.

Am kommenden Tag und vor allem am Abend und in der Nacht sollten derlei Dinge unerwähnt bleiben, denn es gab ein Fest zu feiern.

Es war der Juniriam, und heute brach der längste Tag des Jahres an. Der Tag, an dem sie alle das jährliche Fest zum Dank für die Feldfrüchte feierten.

Sie hatten eigens dafür Vorräte über den Winter gehortet, um das Festbrot zu backen, Trockenobst, Kartoffeln, Räucherfleisch, Alkohol, Äpfel des letzten Jahres und vieles mehr. Ohne das Fest mit all seinem Rausch und seiner Freude würde das Jahr kein Gutes werden. Niemand rührte daher die Vorräte an, die nur darauf warteten, feierlich verspeist und getrunken zu werden.

Es war einmal dieser Morgen, der sich über dieser alten Landschaft entzündete, eine sehr alte Landschaft. Niemand hatte sie je verlassen, niemand war je zum Horizont aufgebrochen. Die weite Ebene mit dem Dorf in der Mitte, um das sich einzelne Bäume und Baumgruppen mit wilden Wiesen und bestellten Feldern spannten, mit Weiden für das Vieh, um die sich Zäune spannten, veränderte sich kaum in einem Menschenleben. Bäume begannen als Schösslinge und reiften heran, Stämme knickten bei Sturm ein, Felder wuchsen zaghaft weiter in die Landschaft hinein, doch abgesehen von derlei Dingen hatte sich seit Urzeiten nichts verändert, so sagte man sich. 

In der Mitte einer großen, wilden Wiese, die noch nie jemand urbar zu machen gewagt hatte und deren Gras hüfthoch wuchs, stand ein einzelner Baum, der größte und älteste von allen einzelnen Bäumen in dieser Welt, die das Dorf umgab. Sein Profil zeigte das einer alten Frau mit wuchtiger Nase. Hierher ging kein Kind allein, und auch nur in Gruppen wagten sie sich mit größtem Unbehagen. Denn niemand hatte die Geschichten über den Baum vergessen, die ihm während seiner Kindheit erzählt worden waren, auch die Ältesten im Dorf hatten sie als Kinder gehört, dessen Frauengesicht seit jeher unverändert geblieben war und das auch die Erwachsenen ängstigte, seit man im Dorf zurückdenken konnte. Und seit man zurückdenken konnte, waren erst vier Häuser hinzugekommen, um weitere Bewohner aufzunehmen – von denen es nur ein paar Dutzend gab. Vor gut einem Menschenleben hatte eine Krankheit zehn Menschen dahingerafft, andere sprachen von zwölf, da war man sich nicht mehr sicher. Damals war zum letzten Mal die Erzählung des Heiligen hervorgeholt worden, die niemand lesen konnte bis auf die Wahrsagerin des Dorfs, die seit Menschengedenken stets ihre Nachfolgerin bestimmte und die als Einzige Dinge wusste, über die alle anderen nicht einmal zu flüstern wagten. 

Das zunehmende Licht hauchte den Dingen langsam ihre Farbe ein, und auch die Pferde auf ihren Koppeln, die langsam erste lange Schatten warfen, begannen zu grasen. 

Der Geruch von gebackenem Teig quoll aus immer mehr Fenstern, und immer häufiger hoben sich Köpfe aus Kissen. Die Geschäftigkeit ließ Böden knarren, erste Worte wurden gewechselt. Zwischen den Kühen draußen saßen melkende Bauern, noch von Müdigkeit ermattet, die heute keinen Schlaf mehr finden würden, obwohl die Nacht lang zu werden versprach wie jedes Jahr. Denn an keinem anderen Tag würden sie so viel schlemmen und trinken, obgleich das Fest des Heiligen mitten im Winter lag, das kaum mehr war als jeder andere Tag im Winter auch. 

In dieser Frühe an diesem Morgen in dieser Zeit erwachten die Eltern von Jessica und Mark. Mark hörte, wie die Eltern aus ihrem Bett stiegen und tat so, als würde er weiter schlafen. Er wusste, dass die Eltern ihn und seine Schwester noch in Ruhe lassen würden, solange ihre Hilfe nicht nötig war. Doch er hatte sich am letzten Abend sehr früh zu Bett gelegt, um am Tag des Festes wohlauf zu sein – vielleicht zu früh, denn kein Schlaf wollte sich mehr einstellen, und so lag er im Bett und sah den Tag durch die dünnen Vorhänge zaghaft anbrechen. Würde auch er aufstehen, wäre dies mit ungeliebter Arbeit verbunden gewesen, und er war schlau genug, lieber seinen Vater die schwere Arbeit erledigen zu lassen. Zudem würde er auch noch Jessica wecken, und sollte das geschehen, würde das Haus unter ihrem Gekichere und Geschwätz erzittern. 

Schließlich war sie mit ihren zehn Jahren sechs Jahre jünger als er, und er vermied, wie man es mir jüngeren Geschwistern tat, möglichst jeden Kontakt mit ihr. Das war allerdings leichter gesagt als getan, denn die Kinder des Dorfes erlebten viel miteinander, und so kam es, dass er mit einigen wenigen gleichaltrigen Freunden eine Schar Kinder in Jessicas Alter mit sich nahm, beziehungsweise umgekehrt. Manchmal spielten sie allesamt miteinander. Manchmal wurden die älteren Jungen zu Bullen, und die Kleinen waren entweder die Opfer, die gefangen werden mussten, oder sie waren die Reiter. In diesem Fall ließen es sich alle Kinder des Dorfes nicht nehmen, der Reiter von Mark oder seines Freundes Tsam zu sein, denn die beiden Jungen waren bei allen im Dorf die beliebtesten. Jeder mochte sie, denn sie waren höflich und zuvorkommend, schlichteten Streitigkeiten unter anderen und nahmen tröstend in die Arme, beziehungsweise strafend in die Mangel. Wenn Mark und Tsam zu Gericht gingen, dann war das triumphal für den, der Recht hatte, katastrophal für den, der es nicht hatte. Große Gemeinheiten wurden nicht selten mit einer Tracht Prügel bestraft. Diese Eigenschaft der Ritter und Rächer machten sie zu den beiden Dreh- und Angelpunkten des ganzen Dorfes. Und Jessica war die Schwester eines dieser beiden; so verwies sie auf ihren Status als Schwester von einem der beiden, und schon hatte sie ihren Vorteil. Es lebte sich gut als Jessica, Schwester von Mark, zumindest besser als Jessica, irgendeine Freundin der Schwester von Mark. Dieser Status hätte Jessica nicht gereicht, wohl aber ihren Freundinnen, die sich damit brüsteten, ihre Freundinnen zu sein. Nur mit ihren Dingen – mit denen hätte nicht einmal der Schöpfer aller Dinge spielen dürfen. 

So entschloss sich also Mark, liegenzubleiben. Er sah einer langen, herrlichen Nacht entgegen, in der er tanzte und den Mädchen an den Haaren zog, obgleich er auch gern etwas anderes mit ihnen tun würde, dessen er sich nicht so ganz sicher war. Manchmal jedenfalls gab es da Regungen in ihm, derer er sich vor Jessica schämte, wenn er bemerkte, dass diese Regungen etwas an ihm wachsen ließen. Er empfand sie bei so Vielem, so viel Merkwürdigem, und er konnte nicht begreifen, warum es geschah, wenn er Mädchen sah oder nur an sie dachte, aber auch, wenn er manchmal da stand und Tsam betrachtete. Das war so merkwürdig, dass er meinte, diese Regungen, sowohl die eine als auch die andere seien nicht normal. Und bevor man ihn zu Tirata, der Wahrsagerin schickte, die ihn wahrscheinlich ausziehen und mit ihren Fingern von oben bis unten berühren und ihm etwas Merkwürdiges raten würde, behielt er diese Dinge lieber zurück und war äußerlich einfach nur der beliebte, geachtete Mark.

Der gestrige Tag hatte einiges gebracht. Schon früh hatte man in Anbetracht des Festes mit der Arbeit aufgehört, schon früh hatte man sich um das große Feuer in der Mitte des Dorfes versammelt, hatte erzählt, phantasiert, zitiert, rezitiert und getrunken, und Mark war früh wie alle anderen zu Bett gegangen, schließlich wollte man feiern. Und zu feiern wusste man im Dorf, denn dann wurde nicht unterschieden zwischen Kindern und Erwachsenen, dann trank jeder Alkohol, wenn einem danach war. Wenn die Kinder es vertrugen, war das gut, wenn nicht, dann eben nicht.

Mark hatte sich viel vorgenommen: Er wollte sich erstmals betrinken, auch wenn er in den letzten Jahren keinen Alkohol gemocht hatte. Wenn aber alle davon schwärmten, wenn es alle taten, die etwas auf sich hielten, dann war es ihm Pflicht, sich endlich mit seinem Freund Tsam zu betrinken, bis die Lichter ausgingen.

So hoffte er, doch noch etwas einschlafen zu können, eine Stunde konnte er sicherlich heraus schinden, denn es war eigentlich noch mitten in der Nacht, und an normalen Tagen hätten erst vor wenigen Minuten die Letzten der Glut des abendlichen Feuers den Rücken gekehrt und wären zu Bett gegangen, zögen sich wahrscheinlich jetzt erst um und röchen ihr Bett, hörten das gleichmäßige Atmen der Schlafenden ringsum, sofern es sie denn gab, und waren trotz allen Vergnügens am Feuer froh, endlich schlafen zu können. 

Mark schloss die Augen und stellte sich den Wind vor, der über die Wiesen strich und das Gras, hoch und dicht und dunkelgrün, zu welligem Wogen brachte, so dass sich die Landschaft zu drei Seiten hin zu einer tiefgrünen, gräsernen See verwandelte, einem Ozean, wie ihn nur der kennt, der einmal durch seine Wellen geschwommen ist.

Mark hatte dies oft getan, und im Geist die Leinwand hinter seinen geschlossenen Lidern betrachtend, sah er diesen Ozean, dessen Fische Hasen und Mäuse, Heuschrecken und fliegende Insekten waren, hörte das Rascheln des Grases, hörte die Schritte Tsams hinter sich, hörte dessen Atem hinter sich, hörte seinen eigenen. Er sah sich auf den Boden fallen und in den Wogen verschwinden, und Tsam sprang über ihn hinweg, da er nicht so schnell hatte anhalten können. Die beiden waren gerade Jessica und ihren Freundinnen fortgelaufen, mit denen sie eigentlich hatten spielen sollen. Aber dann hatten sie es sich anders überlegt, hatten sich angesehen, angegrinst und mit einer unbekannten Art der Gedankenübertragung beschlossen, den Kindern einfach aus den Augen zu laufen. Er und Tsam waren gute Läufer, und so stand es außer Frage, dass sie die anderen abhängen konnten. Manchmal kam der Drang in beiden durch, für sich zu sein, nur sie beide, und wenn dieser Drang kam, dann sprachen sie über so Vieles und Verschiedenes, gingen Richtung Corrin-Höhle, um aus sicherer Entfernung in deren tiefschwarzen, nicht ergründeten, gefährlichen Schlund zu sehen, ohne ihm zu nahe zu kommen; oder sie wagten sich zum Frauenbaum, um so lange unter ihm zu liegen oder auf ihm herumzutollen, bis es dunkel wurde, denn dann kam die mysteriöse Angst vor dem Baum wieder zum Vorschein, oder sie sagten nichts und erfreuten sich an der bloßen Präsenz des anderen. Manchmal lagen sie da, und einer hatte den Kopf auf der Brust des anderen, womit sie sich abwechselten, und so bildeten sie von oben gesehen einen rechten Winkel. Ihre Freundschaft war geradlinig und perfekt und tief und würde bis an ihr Lebensende dauern in tiefster Verbundenheit, bis einer der beiden eines Tages einmal sterben musste. Aber derlei Gedanken kamen ihnen kaum. Über den Tod nachzudenken war es jetzt noch nicht an der Zeit, obwohl der Tod ein allgegenwärtiger Zustand für die beiden war. Im Dorf starben immer wieder die Menschen, sie starben innerhalb ihrer Familie, im gewohnten Bett liegend, um von dem Vertrauten zu etwas anderem Wunderbaren zu gelangen. Er war so selbstverständlich wie der Sonnenuntergang. Man dachte nur über das nach, was man zu sehen vermied.

Die schöne, eingebildete Szenerie ließ ihn in den Nebel des Schlafs gleiten, er spürte, wie seine Glieder wieder schlaffer wurden, wie die Müdigkeit auf ihn herabsank.

Die Farben seines Traums nahmen zu, da rüttelte es an ihm, und seine Decke wurde fortgezogen. Kälte fraß sich in seinen Körper. »Mark«, sagte eine helle Stimme. »Mark, komm, steh auf.«

Es war Jessica, und Mark hätte sie ermorden können. »Lass mich schlafen«, entgegnete er müde und blieb liegen.

»Mark, die Sonne geht gleich auf.«

»Sie geht auch ohne mich auf.«

»Aber wir müssen doch heute bei Sonnenaufgang aufstehen.«

»Dann sieh aus dem Fenster und erschrick die Sonne mit deinem Gesicht, dann verschwindet sie wieder und ich kann weiterschlafen.«

»Du bist gemein, Mark. Von mir aus kannst du den ganzen Tag über liegenbleiben, du bist mir nämlich egal, aber wir sollen jetzt aufstehen.«

»Wenn du nicht gleich verschwunden bist, versohle ich dir den Hintern.«

Das reichte, denn Jessica wusste nur zu gut, was geschah, wenn Mark seine Drohung wahr machte. Er hatte es schon häufiger getan, wenn sie sich wieder einmal zu viel erlaubt hatte.

Mark selbst war dies peinlich, fühlte er sich doch trotz all seiner Naivität stets zu einem Erwachsenen berufen, der sich wie ein solcher zu benehmen hatte. Und das, obwohl er noch längst nicht aus dem Alter heraus war, sich vor den Schatten nicht mehr zu fürchten. 

Die Schauergeschichten, die man sich am Feuer erzählte und für wahr hielt, waren das blanke Grauen, und die merkwürdige Wahrsagerin Tirata hatte schon zu oft von merkwürdigen Gestalten gesprochen, die nachts im Dorf herumliefen. Im Prinzip war er ein Kind, das jedes Märchen glaubte.

Jessica wich zurück und beschloss, ihren Bruder schlafen zu lassen. Sollte er doch verschlafen und sich Ärger einhandeln. Und obgleich sie keine Petze war, würde sie ihn gleich so richtig schlecht machen. Da sie zu jung war, die Schönheit eines gerade erst anbrechenden Tages zu sehen, stieg sie einfach daran vorbei und öffnete die Tür. Überall roch es nach Holz. Sie schlich den Flur entlang, der unheimlich dunkel war und kam schließlich in die Küche, wo ein Feuer brannte. Sie sah ihre Eltern inmitten von Aktivität, sie waren gewaschen und bereiteten das Frühstück zu.

»Mark kommt nicht«, waren ihre ersten Worte.

Ihre Mutter drehte sich um. »O, mein Schatz, hast du gut geschlafen?«

»Mhmmm. Mark kommt nicht.«

»Freust du dich schon auf das Fest heute?«

»Mhmmm. Mark schläft noch.«

Ihre Mutter stellte ihr eine Schale Milch auf den Tisch. 

»Hier, trink, Kleines. Wir haben viel zu tun.«

»Für Mark brauchst du keine Schale hinzustellen, Mama.«

Überall um sie herum war Holz, und die Wärme des Feuers saß in jedem Astloch.

Alles sah aus wie früh am Tag. In den Fenstern sah man Morgenrot, die Mutter trug ein Nachthemd und ihre langen Haare waren noch wirr, ihr vitales Gesicht besaß morgendliche Frische. Der Vater saß mit nacktem Oberkörper im Schein des flackernden Feuers am Tisch und trank seine Milch, die er eben erst frisch gemolken hatte. 

Die Mutter stellte Brot auf den Tisch.

»Du brauchst für Mark gar nicht erst mitzudecken, Mama, er will nämlich noch schlafen.«

Ihre Eltern ignorierten dies von Neuem, und die Mutter deckte trotzdem für ihn.

Jessica sah trotzig auf sein Gedeck und fragte grantig: »Soll ich Mark wecken und ihm sagen, er soll gefälligst hierherkommen?«

»Nein, lass ihn schlafen«, sagte ihr Vater bestimmt.  

So schwieg Jessica. Der Vater sprach weiter, ohne sie zu anzusehen, aber in einem viel weicheren Tonfall: »Er hat eine lange Nacht vor sich, mein Mädchen. Das Feldfrucht- Fest ist ein hohes Fest.«

»Er will sich betrinken.«

»Jeder Mann tut das.«

»Er ist mein Bruder.«

»Und dennoch ein Mann, Jessica. Niemand achtet ihn als Mann mehr als du, oder?«

Sie hielt den Mund und trank trotzig ihre Milch. Eine Zeitlang duldete sie die knisternde Idylle, dann platzte sie heraus: »Ich hoffe doch wohl nicht, dass ich hier etwas tun muss, solange Mark schläft.«

Ihre Mutter setzte sich an den Tisch und lächelte sie an. »Du wolltest mir doch so gerne beim Backen und beim Kochen helfen, Jessica.«

»Ja.«

»Und das kannst du wohl auch, wenn Mark schläft, oder etwa nicht?«

»Die Sonne ist doch schon aufgegangen.«

»Aber er ist müde.«

»Das ist gemein. Er kann schlafen, obwohl er es nicht soll. Ich bin aufgestanden, ganz von alleine, und ich wollte helfen. Mark will nur schlafen.«

»Schluss jetzt, Jessica«, sagte der Vater ruhig. »Ich werde ihn gleich wecken, gut? Er wird Holz hacken für heute Abend. Und er wird gleich mit mir Hasen schlachten. Wenn er wach ist.«

Jessica schwieg unversöhnlich, trank ihre Milch und nahm sich eine Scheibe Brot.

»Nimm Schmalz dazu«, sagte die Mutter, doch Jessica schüttelte den Kopf. »Wenn ich das mache, dann kann ich heute den ganzen Tag kaum etwas essen. Jola hat gesagt, dass es mal eine Frau gegeben hat, die ist an dem vielen Schmalz geplatzt, und die Leute wären gekommen und hätten sich die Fetzen der Frau aufs Brot geschmiert.«

»Ich glaube«, brummte ihr Vater, »ich werde mit Jolas Mutter heute sprechen müssen.«

Zur gleichen Zeit entschied sich Mark schließlich doch, aufzustehen. Es gab nur zwei Alternativen: entweder entstieg er nun dem Bett und war wach, oder er ließ sich aber wieder in den Schlaf fallen und war hundemüde, wenn er geweckt wurde. 

Der Abend sollte zu schön werden, als dass er müde sein wollte. So stand er auf und zog den Vorhang vom Fenster, um den herannahenden Tag zu betrachten. Mark war ein Träumer und Genießer, und daher befähigt, einen tiefen Seufzer auszustoßen. Schade nur, dass er keine Zeit haben sollte, sich dem Morgen hinzugeben. Arbeit wartete auf ihn, und sie sollte ihm nicht gefallen. Doch was machte es. Der Abend würde für alles entschädigen.

Als er gewaschen und angezogen in der Küche erschien, sagte sein Vater: »O, du bist doch schon aufgestanden. Das ist gut. Du musst gleich einiges Holz hacken.«

»Ich weiß, Pepe.«

»Und du musst mir gleich beim Schlachten helfen.«

Ein Schauer des Ekels überkam ihn. »Aber ruf mich bitte erst, wenn sie schon tot sind, ansonsten kann ich mir das nicht ansehen.«

»Du bist ja richtig feige, Mark«, meinte Jessica schnippisch.

»Ein Wort noch, kleines Luder, und ich werfe dich nach dem Schlachten in den Trog mit den Eingeweiden, und du kannst glauben, dass ich das tue.«

Jessica erschrak und nippte an ihrer Milch. 

»Ist gut, Mark.«, meinte der Vater. »Du sollst mir ja nur beim Auseinanderschneiden und Ausnehmen helfen. Töten werde ich sie schon alleine.«

Nach dem Frühstück ging Mark nach draußen, um Holz zu hacken. In der Rechten hielt er eine Axt, als er an die frische Luft kam. 

Es roch herrlich draußen nach Holz, Tau und taunassem Gras. Er hörte die Hühner gackern, und das Rot im Osten hatte einem Hellblau Platz gemacht; das Schwarz der Nacht war nun zurückgedrängt, und die Vögel trauten sich mit ihrem Gezwitscher mehr als eben noch.

Er ging um das Haus herum, wo viel Holz lag, und er griff nach einem großen Klotz. Währenddessen lief ihm Jolio über den Weg, ein älterer Mann, der am abendlichen Feuer häufig verrückte Geschichten zum Besten gab. Man erzählte sich ebensolche über ihn; so sollte er als Reaktion auf den Tod seiner Frau vor vielen Jahren, als es Mark noch nicht gegeben hatte, für mehr als eine Woche in der Corrin-Höhle verschwunden sein, in die sich normalerweise kein Mensch, der sie alle beisammen hatte, hinein traute. Nicht so Jolio. Er war tatsächlich hineingegangen und behauptete sogar, nichts Absonderliches in ihr gefunden zu haben.

»Ach, mein Junge.«, begrüßte er Mark. »Festvorbereitungen, wie, haha.«

»Allerdings, Jolio. Was ist daran so merkwürdig?«

»O, nichts, mein Junge. Mich wundert nur, dass ihr jungen Leute das um diese Uhrzeit so freiwillig tut.«

»Ich tue es nicht freiwillig, Jolio.«, bekannte Mark und zerhieb ein großes Stück Holz.

»Du bist ganz schön kräftig, Mark. Schön kräftig, jaja.«

»Das freut mich.« Mark wünschte sich, dass dieser alte, dürre Schwätzer mit seinen ewig dreckigen Lumpen, die er trug, und seinem löchrigem Hut auf seinem faltenreichen, kaum behaarten Kopf, dessen Mund kaum noch Zähne aufwies, möglichst schnell wieder verschwinden würde. 

»Als ich so alt war wie du, da sollte ich auch immer Holz hacken, mein Junge, aber ja, ich war einfach zu schwach dazu, viel zu schwach, ja. Ich konnte kaum die Axt halten.«

»Wie hast du denn dann deine Frau nach der Hochzeit über die Schwelle getragen Jolio?«

Der alte Mann sah betreten zu Boden, denn die Unverschämtheit hatte ihn getroffen. Dass man die Frau über die Schwelle trug, war eine notwendige Sitte, doch Jolio hatte es damals nicht geschafft, und so hatte man auf diesen Ritus verzichten müssen, sehr zur Blamage seiner Frau.

»Ach, nichts für ungut, Jolio. Was triffst du denn für Vorbereitungen für heute Abend?«

»Ich werde Eier holen, um daraus Eierschaum zu schlagen. Aus Schnepfeneiern. Ich hoffe, ich finde genug.«

»Schnepfeneier?! Igitt!«

»Ach, mein Junge, mein Junge, wenn du wüsstest, wie herrlich die schmecken, jaja, wie herrlich, wie herrlich …« Und so ging der alte Mann sehr zur Erleichterung Marks.

Ende des 1. Kapitels – Der Wind von Irgendwo geht weiter mit Kapitel 2: Der Streich