Der-Wind-Von-Irgendwo-Oliver-Koch-Kapitel-5-lesen

Mystery-Roman von Oliver Koch

 Der Wind von Irgendwo von Anfang an lesen
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Das Feldfrucht-Fest ging spät zu Ende, sehr spät, jedoch nach der Meinung mancher Feiernden zu früh. Es war schon lange neuer Tag, als die Letzten die rauchenden Feuerreste verließen und in ihre Häuser zurückgingen, um dort ihren Rausch auszuschlafen, und die meisten üblichen Arbeiten ruhten für einen Tag oder wurden später in Angriff genommen.
Viele Stunden war es so ruhig, als wäre das Dorf vollkommen verlassen. 
Niemand sah, wie Tirata aus ihrem Haus trat und ihrem mysteriösem Treiben nachging, das niemand verstand. Hätte es jemand gesehen, hätte man sich die Köpfe darüber zerbrochen; doch Tirata nutzte die Gelegenheit, in denen sie unbeobachtet war. Sie nutzte Dunkelheiten und Momente wie diese, um unbemerkt aus dem Haus zu gehen, ohne dass man spekulierte. Selbst wenn sie nur Holz holte, war es für die Leute verdächtig, denn es blieb den Leuten nur die vage Gewissheit, dass Tirata ihr Haus verlassen hatte und irgend etwas tat. Aus der Entfernung wirkte alles mysteriös und geheimnisumwittert.
In Momenten wie diesen hatte Tirata so manches getan, wovon niemand wusste. Es war seltsam, dass Tirata wie alle Wahrsagerinnen vor ihr nur Mädchen gebaren, niemals Jungen.
Tirata schlich sich ins Dorf uns hielt Ausschau. Sie nutzte die Betäubtheit der Leute und kam ins Dorf, wenn niemand es bemerkte. Schon oft war sie nach dem Feldfrucht-Fest ins Dorf gekommen wie jetzt, mit wehendem Rock und leisen Schritten, als wäre der Wind ihr Boden, mit wachen Augen Ausschau haltend nach einem geeigneten Haus mit einem geeigneten Mann, der betrunken genug gewesen war.
Es war durchaus Methode, den Menschen beizubringen, dass es religiösen Zwecken diente, sich bis zur Besinnungslosigkeit zu betrinken. All ihre Vorgängerinnen hatten es ihr gleichgetan, und nur sie wussten davon. Es galt, einen Mythos aufrechtzuerhalten.
Die Spitzen der Häuser bohrten sich in das strahlende Azur des Himmels. Tirata war darauf bedacht, auch von den Kindern nicht gesehen zu werden, die am Abend natürlich nicht getrunken hatten, und die nun sehr wohl wach sein konnten. Jedoch hieß es im Dorf, dass am Tag nach dem Feldfrucht-Fest erst dann das Licht des Tages in die Häuser einfallen durfte, wenn die Eltern erwachten, denn der Schlaf nach dem Feldfrucht-Fest galt als heilig. Somit blieben die Kinder liegen oder tappten durch das dunkle Haus, ohne herauszusehen oder gar zu gehen.
Tirata fand ein Haus, von dem sie wusste, dass dort Toma mit seiner Frau wohnte, die ohne Kinder waren; das sollte noch folgen. Toma hatte erst im letzten Jahr die Frau seines Herzens gewählt, und nun warteten sie auf das erste Kind. 
Zudem war Tirata nach wie vor noch eine Frau, die für den jungen Toma eine Vorliebe hatte; er war gut gebaut und hübsch und jung, und so wollte sie der Sache auch einiges Vergnügen abgewinnen.
Sie schlich in das Haus, und suchte sich den Weg in den Schlafraum. Dort war es dunkel, und die Luft war abgestanden. Sie nahm ein Tuch, das sie mit Pflanzenextrakten getränkt hatte, und hielt dieses Tomas Frau ins Gesicht, die daraufhin in eine zuverlässige Ohnmacht fiel. So konnte sich Tirata sich daran machen, Toma in seinem Rausch und seiner Unzurechnungsfähigkeit zu erregen, um ein Kind von ihm zu empfangen. Sie tat dies rasch und genau, ohne große Euphorie, aber mit ein wenig Genuss. Als es vorbei war, schlich sie sich wieder in ihr Haus zurück und hoffte, dass es ein Mädchen werden würde. Wenn nicht, so würde Erde den Zwischenfall bedecken und aus der Chronik des Dorfs für alle Zeiten streichen und so weiter den Mythos nähren, dass Wahrsagerinnen nur Mädchen gebaren.
Wirre Träume begleiteten Marks Schlaf. Träume von intensiver Schönheit, aber auch von ebensolcher Merkwürdigkeit. Mark sah Vieles und zugleich nichts, und er wachte bereits nach zwei Stunden unvermittelt aus dem Schlaf auf. 
Sarah ging ihm nicht aus dem Kopf. Das, was er am Abend mit ihr erlebt hatte, war einmalig gewesen. Wie warm sie war, wie weich, wie rundherum wunderbar. Er hatte ihr Haar zwischen seinen Fingern entlanggleiten lassen, er hatte ihre Lippen gespürt, hatte das Geräusch mit Entzücken vernommen, wenn sie sich schmatzend von seinen lösten. War dies immer so herrlich?
Er verglich seine Erlebnisse und fühlte sich verwirrt. 
Mit Tsam hatte er derlei noch nicht erlebt, zumindest nicht ganz so. Es war wunderbar gewesen, ihn zu spüren, zu fühlen und zu riechen, aber sie hatten sich nie auf den Mund geküsst. Und das, was sie getan hatten, dieses staunende, zittrige Berühren und Spüren: war es nun ungewöhnlich und verboten, weil er herausgefunden hatte, dass es mit einem Mädchen auch schön war?
Pepe hatte ihm einmal gesagt: »Die Zeit wird kommen, da wirst du sehen, was du willst.«
Darauf hatte er gefragt: »Dann muss man beides probieren?«
»Du musst gar nichts. Aber in einem gewissen Alter kannst du oft nicht anders, als an beides zu denken.«
Und so hatte er sich nicht davor gefürchtet, wenn er mit Tsam irgendwo in den Feldern oder auf dem Boden einer Scheune gelegen hatte, um den anderen anzusehen oder hin und wieder auch zu berühren, um festzustellen, wie schön dies war. 
Aber nun war alles ganz anders. Nun kannte er Sarah. Nun kannte er die Gegenseite intensiver als die bisher bekannte. Nun wusste er wohl, was er wollte. Oder doch nicht? Und wenn er wusste, dann war ihm klar, dass Sarah ihn weitaus mehr reizte als Tsam. Und was war es dann mit Tsam gewesen? 
Er schämte sich dafür. Man kann nicht anders in einem gewissen Alter. Woher wollte Pepe das wissen? Und wie konnte er nur so leicht Reden haben? Auch hatte er ein schlechtes Gewissen, wenn Tsam sich irgendwann noch einmal ihm annähern sollte – dann müsste er ihm erklären, dass er es nicht mehr duldete, und würde seinen Freund wohlmöglich verletzen.
Es war alles so seltsam.
Er hoffte, dass Tsam genau das widerfuhr, was ihm selbst war im Schutz der Dunkelheit widerfahren war, umgeben von fernem Geflacker der Feuer und etwas anderem.
So wälzte er sich im Bett herum und verfing sich in seinen Gedanken.
Neben ihm lag Jessica, und sie war noch weit entfernt von dieser Art von Sorgen und Gedanken. Für sie waren alle Menschen nett oder nicht nett, hübsch oder hässlich; alles andere galt nicht, existierte nicht.
Dennoch hatte sie mit anderen Gedanken zu tun. Für sie hatte sich eine neue Welt aufgetan, sie hatte Neues entdeckt, das sie weiter ergründen wollte.
Die Wahrsagerin hatte ungeahnten Eindruck auf sie gemacht, und sie wurde sich dessen in ihrer kindlichen Art und Weise dessen bewusst. Für die war es einfach nur Gefallen und Neugierde.
So angsteinflößend war Tirata gar nicht – zumindest nicht für sie. Was für ein herrliches Gefühl es sein musste, Tirata als Freundin zu haben, mit ihr zu sprechen, zu ihr herüberzulaufen in ihr altes, seltsames Haus, nur um sie zu besuchen. Wie verängstigt würde man ihr hinterhersehen, wenn sie dorthin aufbrechen würde, und ihre Eltern würden sich Sorgen um ihre Tochter machen, aber niemand würde sie daran hindern können, dass sie ging. Jeder hätte Angst vor Jessicas großer, mächtiger Freundin. Und man würde so auch Respekt vor ihr selbst haben. Was für eine Sache! Jessica, die Freundin von Tirata!
Aber Jessica empfand mehr als nur dies banale Gefühl des Stolzes und der simplen Freude an den Vorteilen, die dies mit sich bringen würde.
Sie sah auch Geheimnisse, große Geheimnisse. Solche von einer Tragweite, dass es den Menschen beim bloßen Gedanken daran die Sprache verschlug. Das war reizvoll für Jessica. Mehr darüber zu erfahren. Überhaut Dinge zu erfahren. Vielleicht würde Tirata sie irgendwann einmal in die Corrin-Höhle mitnehmen, tief in diesen fernen, grausigen Schlund, den man meistens nur aus sicherer Entfernung ausmachte, als kleinen dunklen Fleck unbekannten Stück Erde, das sich aus der Ferne nur bei klarer Sicht zeigen wollte, und selbst nur dann nur unter der Voraussetzung, wenn man sehr genau hinsah. Selbst dazu fehlte den Leuten der Mut. Ihre Äcker und Koppeln waren zumeist in die anderen Richtungen angelegt, und nur ein wenig in Richtung Berge.
Die Corrin-Höhle war die Hölle für alle. Sie war das Zentrum alles Unbekanntem, alles Gefährlichem. Dort, und nur dort sollte und konnte das wohnen, was das Dorf mit allen Einwohnern auf irgendeine mysteriöse Art bedrohte. Tief in ihrem Schlund lauerte das Monster, lauerte die Angst. 
Wenn ein Mann oder eine Frau während der täglichen Arbeit zufällig auf die Corrin-Höhle blickte und aus Ehrfurcht und blanker Angst mit den Augen dort verharrte, wurde dies abends am Feuer als böses Omen gewertet und Tirata zu Hilfe gerufen, die mit ihren seltsamen Worten beruhigte, aber auch warnte. Die Leute waren anschließend zwar beruhigt genug, um schlafen zu können, doch die Angst vor dem, das sie nicht kannten, blieb,
Tirata wusste über all dies Bescheid. Sie war schon oftmals in der Höhle verschwunden, und jedes Mal war sie wiedergekommen. Mit noch mehr Wissen, mit noch mehr Macht und noch mehr Respekt.
Und wenn die Möglichkeit bestand, sich ein wenig davon anzueignen und selbst zu einer derart respektablen Person zu werden, dann wollte Jessica die Möglichkeiten ausschöpfen.
Ob ihre Eltern nun wollten oder nicht – sie fühlte sich plötzlich zu etwas Größerem berufen.
Der Tag wollte nicht zu Ende gehen. Draußen herrschten Windstille und Ruhe. Es war, als wäre kein Leben auf der Welt. Die Vögel schwiegen in die Hitze hinein, und nur Insekten flogen durch die heiße, flirrende und stehende Luft, die alles wie Bernstein einschloss.
Die Sonne stand hoch und neigte sich wieder ihrem Untergang, und noch immer hatte sich kein Mensch vor die Haustür gewagt. Manche schliefen noch, manche dösten vor sich hin, und nur einige wenige taten die nötigste Arbeit, indem sie die Tiere versorgten, die auf den Weiden standen.
In dieser Ruhe langweilte sich Jessica und schlich durch die Stille des Hauses, dass sie sich manchmal erschrak, wenn die Holzbohlen knarrten. Sie schlich in die Wohnküche, in der es nach Holz und abgestandener Luft roch. Die Sonnenstrahlen fielen in Fäden hinein und beleuchteten Dinge oder kleine Punkte wahllos.
Sie öffnete leise die Tür. Heiße Luft stieg ihr entgegen. Der dunstige Innenraum des Hauses war im Gegensatz zur flirrenden, betäubenden Hitze draußen wahrlich angenehm. Insekten schwirrten um sie herum, und sie vergewisserte sich, dass sie von niemandem beobachtet wurde, und niemand war zu sehen.
So brach sie auf, und ihr Ziel war klar: Bald schon sah sie das Haus mit dem brüchigen Dachholz in einiger Entfernung vor sich, um das die Bäume standen. Tiratas Haus war der Kehlkopf von einem gewaltigen, fremdartigen Etwas, und die Bäume darum herum waren die Stimmbänder. Aber zur Zeit schwieg das etwas, es schien zu schlafen.
Was, wenn auch Tirata noch schlief? Schließlich war sie nicht lange beim Fest geblieben wie  jedes Jahr. Sie kam, sprach und ging, und Jessica kam der Gedanke, dass Tirata sich langweilen musste, wenn sie immer so allein war. Tirata bekam nie Besuch, sie besuchte das Dorf selbst höchst selten, und wenn, dann atmete jeder erleichtert auf, wenn sie wieder ging. Waren all die Geheimnisse, mit denen sie sich immerfort zu beschäftigen schien, tatsächlich so ausfüllend und so spannend? Wenn ja, dann wurde es Zeit, dass Jessica den Mut zusammennahm.
Der Boden schluckte die Geräusche ihrer Schritte, und die stehende Luft trug diese nicht weiter. Das Haus kam näher. Warum sich alle nur so fürchteten! Es lag doch ganz still da und tat nichts weiter! Und diese alte Frau! Wenn alle nur ein wenig neugieriger wären, dann würde nicht Furcht, sondern Wissensdurst deren Leben bestimmen. Aber nein – sie wollten es nicht so. Sie wollten sich nur fürchten.
Was Tirata jetzt wohl darin tat. Vielleicht kochte sie etwas Geheimnisvolles? Für was? Oder sprach sie gerade mit ihren Geistern?
Jessica hatte so wenig Ahnung.
Vögel jagten tonlos über sie hinweg.
Entschiedenen Herzens kam Jessica näher, und der ruhige Felsblock, als der das Haus von Weitem aus erschien, strahlte Ruhe aus. Nein, darin konnte es nichts geben, vor dem man sich fürchtete, über das man sich Sorgen zu machen brauchte. Jessica bewegte sich beim Näherkommen zwar entschlossen, aber immer andächtiger.
Das Dorf lag hinter ihr, als hätte sich eine Tür hinter ihr geschlossen. Kühle überkam sie trotz der Hitze. Sie durchschritt die Gras- und Baumreihen auf dem Weg plattgetretenen Grases, und wilde Ähren links und rechts neben ihr schienen Gebete abhalten zu wollen, ruhig und andächtig zu Tiratas Haus hin geneigt. Über all dem war das hohe Dach des Himmels; Bäume streckten sich wie ihn stützende Säulen nach oben und Tiratas Haus lag als Mittelpunkt dem allem voraus, so dass es schien, als wollte dahinter ein Bauwerk enden, durch das Jessica nun hindurchging, um sich zu bekennen.
Kaum war sie nahe genug an das Haus herangetreten, das wie von den umherstehenden Bäumen wie von einer Apsis umrahmt vor ihr stand, wurde ihr die Kehle trocken und sie spürte ihren hämmernden Herzschlags und das Rumoren im Bauch. Es juckte und kniff darin, und sie fühlte sich eigenartig nervös.  Sie stand nur noch wenige Meter von dem Haus entfernt, das wie ein schlafendes Etwas vor ihr stand, und das sie atmen zu hören meinte.
Sie klopfte leise und fragte sich still, ob sie gut genug war, darauf zu hoffen, in Tiratas Geheimnisse eingeweiht zu werden. Was würde die Wahrsagerin zu ihr sagen? Würde sie böse werden, da sie Jessicas Begehren als anmaßend erachtete? Würde sie sie auslachen oder ihr letztlich doch böse Träume bescheren?
Sie bekam keine Antwort, und während es um sie still war, als spräche alles um sie herum ein stilles Gebet, klopfte sie vorsichtig  noch einmal, ohne eine Reaktion zu bekommen.
Das Haus war und blieb still. So stand sie da, allein und ungehört in der Dumpfigkeit. Sie blickte sich um, richtete ihren Blick auf die Bergkette, wo sie Tirata vermutete, und suchte mit scharfem Blick die Corrin-Höhle; jenes dunkle, schwarze und abgrundtiefe Loch in den Bergen. Und als sie es fand, meinte sie ein Flüstern in sich zu vernehmen, und es war ihr, als sprachen all die ungelösten Geheimnisse zu ihr. Sie fühlte sich auserwählt. Aber niemand war da, und obwohl sich der rege Wunsch in ihr ausbreitete, Tirata hinterherzugehen in die Höhle, dort nach ihr zu rufen und sie zu finden, erschauerte sie bei dem bloßen Gedanken daran und machte sich alsbald auf den Heimweg, um wieder in die Außenwelt zu treten, in die Romantik und Verschlafenheit des Dorfs, der sie bald zu entkommen wünschte.

Ende des 5. Kapitels – Der Wind von Irgendwo geht weiter mit Kapitel 6: Der Himmel weint