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Thesen und Texte zu allem Möglichen.

Mein Beinaheleben in Kamen-Methler

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Ich weiß nicht, wie mein Leben gewesen wäre, hätte ich es ab dem Jahr 1982 oder 83 in Kamen-Methler gelebt. Aber ich dachte erstmals darüber nach, als ich kürzlich auf einer Reise mit dem Zug dort hielt. Fast nämlich wäre es so gekommen. In der Schule dort war ich bereits angemeldet. Angeblich, so sagte mir damals meine Mutter, freuten sich die Jungen der Klasse auf mich, denn es gab dort mehr Mädchen.

Meinem möglichen Leben in Kamen-Methler auf der Spur

Ich finde es nicht eigenartig, 40 Jahre später darüber nachzudenken. In dem Moment nämlich, in dem mein Zug dort hielt, war alles so präsent, dass die Jahrzehnte nur irgendwelche Zahlen waren.
Natürlich ist alles Spekulation eines über 50-Jährigen, der sich einen möglichen Lebensweg seines 11- oder 12-jährigen Ichs vorstellt. Was immer ich mir vorstelle, geht von meinem heutigen Kenntnisstand meines wirklich gelebten Lebens aus. Alles, was im Leben nicht erfreulich verlief, gerät sofort auf die Liste „Was mir erspart worden wäre“. Eigenartig, dass erst später die Liste „Was mir alles entgangen wäre“ wichtig wurde.

Kamen-Methler. Eigenartig, dass wir seit damals immer Kamen-Methler sagen anstatt Kamen. In anderen Städten sagt man auch nicht automatisch den Ortsteil. Ich habe in Osnabrück gewohnt, in Hamm, in Waldbronn, in Karlsruhe. Nie spielte der Ortsteil je eine Rolle. Nie haben wir gesagt, in Osnabrück-Eversburg zu wohnen oder in Hamm-Süden, Waldbronn-Busenbach oder Karlsruhe Südstadt.

Bei Kamen-Methler schon. Vielleicht ist das der Grund der genauen Erinnerung. Die Spezifizierung als Trigger eines Neubeginns, der letztlich zum Beinahe-Neubeginn geworden war.
Wären wir wirklich dorthin gezogen, wäre es mir leichter gefallen als 1985, als wir letztlich nach Hamm zogen. Kamen-Methler war fortan fast vor der Haustür, aber Kamen bin ich nur auf der Autobahn oder im Ikea nahegekommen. Methler habe ich seither niemals wieder betreten.

1982 oder 83 wäre mir der Wechsel zwar nicht willkommen gewesen, aber es wäre in Ordnung gegangen. Ich war noch nicht so gefestigt in Osnabrück, obwohl ich diese Stadt immer so geliebt habe. Ich wäre ein 11- oder 12-jähriger Junge gewesen, der in einen anderen Ort gezogen wäre. Ein Neubeginn wäre nicht einmal ein Neubeginn gewesen, sondern ein Weitermachen unter anderen Vorzeichen. Dass man mich angeblich auf mich freute, hatte es mir einfach gemacht. Es kann gut sein, dass man mir es damals nur gesagt hatte, um mir den Wechsel zu erleichtern. Heute will ich gar nicht wissen, ob dem so war. Wahrscheinlich könnte sich meine Mutter auch gar nicht mehr daran erinnern.

Was wäre aus mir geworden? Schwer zu sagen. Ob ich nach der Realschule dort auch weiter aufs Gymnasium gegangen wäre wie in Wirklichkeit, kann ich nur spekulieren. Schon damals habe ich ständig Geschichten geschrieben, arbeitete an einem Science-Fiction-Roman, dessen handschriftliches Original ich tatsächlich noch besitze. Er blieb unvollendet. Nach einem gewissen Kapitel hatte ich keine Lust mehr, und heute kann ich nicht mehr sagen, wie er hätte weitergehen sollen.

Dass ich mit dem Schreiben in Kamen-Methler aufgehört hätte, kann ich mir nicht vorstellen. Meine Stärke in der Schule ist immer Deutsch gewesen. Das wäre auch dort nicht anders gewesen. Es ist also nicht unwahrscheinlich, dass ich auch dort aufs Gymnasium gegangen wäre, später wie in meinem wirklichen Leben an die Uni. Die Anlagen dessen, was mich heute noch ausmacht, waren damals schon ausgeprägt genug, dass ich sie guten Gewissens prägend nennen kann.
Auch kann ich sagen, was ganz sicher nie passiert wäre: Ich wäre nie in einen Fußballverein gegangen und hätte mich nie für Autos interessiert. Das weiß ich, weil mein Desinteresse daran schon damals ausgesprochen klar war.

Haarscharf am Leben in Kamen-Methler vorbei

Aber hätte ich nicht doch eine Lehre begonnen, weil ich „weg von zu Hause wollte“ oder weil sich eine tolle Gelegenheit bot? Und würde ich noch in der Nähe wohnen?
Mit dem Zug am Gleis stehend, fotografierte ich die Anzeigetafel im Zug, auf der Kamen-Methler stand. Ich fragte meine Mutter später, ob unsere Beinahe-Wohnung in der Nähe eines Gleises lag, doch sie entsprach meiner eigenen Erinnerung: Nein.

Wie kommt es aber, dass Kamen-Methler noch derart präsent sein kann? Weil es so unglaublich knapp gewesen war. Wir hatten bereits eine Wohnung dort. Sie war bereits tapeziert, die Tapete meines Zimmers hatte ich mir selbst ausgesucht. Ich hatte in dem tapezierten Zimmer gestanden und mich gefragt, wo meine Möbel stehen sollten. Das Einzige, was noch gefehlt hatte, war der eigentliche Umzug. Die Trennung meiner Mutter von ihrem damaligen Lebensgefährten kam buchstäblich in letzter Sekunde. Gedanklich hatte ich mich damals bereits ganz auf mein Leben in Kamen-Methler eingestellt.

Überall gibt es Geschichten

Ich bin neugierig, was ich über Methler finden mag, und erlebe einige Überraschungen: Methler hat einen eigenen Wikipedia-Eintrag. Darin ist zu lesen: „Die erste urkundliche Erwähnung des Namens Methler geht auf eine Schenkungsurkunde vom 11. April 898 zurück“ – Donnerwetter. Und es geht noch weiter: „Die Bodenfunde in Westick, einem germanischen Handelsplatz mit hohem Anteil römischen Fundmaterials, weisen aber auf weitaus ältere Besiedelung im Bereich Methler hin.“ Im Hammer Museum kann man sich Funde ansehen. 2006 wurde im Zuge der Fußball-Weltmeisterschaft die spanische Mannschaft in Kamen-Methler untergebracht.

Überall gibt es Geschichten, meine eigene hat einen anderen Verlauf genommen. Meine Geschichte ging bis 1985 in Osnabrück weiter. Wen ich kennengelernt hätte, wessen Freund ich geworden wäre – und ob ich vielleicht sogar bis heute mit mindestens einer dieser Menschen befreundet wäre – wer weiß. Eines jedoch ist klar: Meine Geschichte wäre vollkommen anders verlaufen. Ich hätte andere Erfahrungen gemacht und gewisse Erfahrungen, die mich auszeichnen, dafür nicht. Ich wäre eine Version von mir geworden, die mit mir Heutigem nur die Anlagen gemeinsam hätte.

Kamen-Methler war und ist ein bedeutsamer Abzweig in meinem Leben. So vieles wäre anders geworden, als es jetzt ist. Sich damit zu befassen, ist inspirierend. Es erlaubt einen Blick auf Möglichkeiten und mein eigenes Leben.

Es ist erstaunlich: Während meines Zugstopps sah ich so gut wie nichts. Aber der Name an der Anzeigetafel und später auch auf den Schildern am Gleis öffneten eine Tür zu einer Vergangenheit, die 40 oder 41 Jahre zurückliegt. Das ging ganz schnell. Die Tür öffnete sich, und etwas sagte mir „Schau hin.“ Das Nachsinnen über damals, darüber, wie knapp das Ganze war, und welches Leben ich hätte führen können, dauern indes länger.

Was soll dieses Nachdenken über derart ungelegte Eier? Es zeigt die Mechanik des Erinnerns, denn wie schon erwähnt, war zuerst die Liste mit all den Dingen präsent, die mir erspart geblieben wären. Ist das nicht seltsam, und ist das nicht eine Art von Sehnsuchtsort, den sich nur der ersehnt, der mit dem eigenen Leben unzufrieden ist?

Tatsächlich nicht. Auch diese Erkenntnis gehört zum Nachdenken dazu, und ich bin froh, dass es mich zu ihr geführt hat. Als ich 1985 letztlich nach Hamm zog, war es schwer für mich. Mit 14 hatte ich einen festen Freundeskreis und wollte niemals aus Osnabrück weg und ganz sicher nicht jemals nach Hamm ziehen. Aber Hamm war gut zu mir. Natürlich war die erste Zeit dort schwer, aber schnell schlug ich Wurzeln dort – eine große Hilfe: Mein Schreiben. Es machte mich unabhängig, und genau das war es, was ich damals gebraucht habe. Die Freunde stellten sich ein, ich erlebte großartige Zeiten in Hamm, und nein, ich möchte es nicht missen. Tatsächlich habe ich dort Freunde gefunden, die es bis heute geblieben sind. Meine Geschichte ist auch so gut geworden, und auch wenn es Schwierigkeiten, Niederlagen oder Rückschläge gab, bin ich mit meiner Geschichte ganz zufrieden.

Aber über alternative Welt– und Lebensläufe nachzudenken, auch die eigenen, finde ich einfach interessant. Und warum sollte ich damit fertig sein? Wenn ich die damalige Geschichte schon nicht beginnen konnte, kann ich sie mir jetzt einfach ausmalen. Und dafür habe ich viele bunte Stifte.

Warum ich Twitter doch nicht verlasse

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Fast hätte Twitter mich in die Flucht geschlagen. Wieder einmal. Wieder einmal nur fast.
Dabei habe ich kürzlich gepostet: Ich gebe meinen Twitter-Account auf. Ich sei dafür bei Mastodon.
Nach der Ankündigung fühlte ich mich befreit. Twitter ist Last und Problem. Das war schon vor dem Irrsinn von Elon Musk so. Es gibt für mich viele Gründe, Twitter entnervt zu verlassen.

Zu extrem, zu viel und keine Lust und Zeit

Zu viele extreme Menschen sind dort. Zu viel Agitation, Wut und Empörung gegen alles und jeden.
Zu viel Unsinn. Zu viel Überflüssiges. Twitter hat mich seit 2009 gelehrt, Ironie kaum noch zu ertragen, weil es dort für meinen Geschmack Überhand nimmt.

Aber ja: Mir fehlen auch Zeit und Lust. Das für mich Interessante von dem für mich Uninteressanten zu trennen, finde ich auf Dauer anstrengend. Ich möchte nicht ständig präsent sein oder anderen bei ihrem Präsentsein verfolgen.

Ich poste kaum noch Privates, weil ich Privates inzwischen entweder lieber für mich behalte oder auf anderen Kanälen anders mitteile.

Eine Entfremdung

Wir haben uns entfremdet, Twitter und ich. So war es mir genug – wieder einmal. Und wieder einmal kommen mir Zweifel, je näher der Tag rückt.

Warum? Die Motive ändern sich. Zuletzt fühlte ich mich endgültig davon abgestoßen, dass Elon Musk die Reichweite zahlender Kunden gegenüber nichtzahlenden erhöht – und dabei vor allem Rechte bevorzugt hat. Es war das Tröpfchen, das mein Fass zum Überlaufen brachte. Nicht in Wut oder Verzweiflung. Sondern aus Resignation und Protest. Ich wollte in diesem Umfeld nicht mehr sein.

Da bleiben aus Protest

Warum werde ich nun doch nicht gehen? Aus Protest. Nicht, weil ich glaube, ich hätte wundervolle Inhalte. Sondern weil ich mir sonst selbst sagen müsste, vor Rechten, Wahnsinnigen und Pöblern, aber auch den ganzen Dauerempörten aus allen Ecken zu kuschen. Ihnen einfach ihre Spielwiese zu überlassen, wollen sie doch nur. Endlich wären sie unter sich.

Solche Milieus freut es, wenn sie denken, gesiegt zu haben. Sie beglückwünschen und bestärken sich. Dieses Feld haben sie eingenommen, okay, welches reißen wir uns als nächstes unter den Nagel? Die anderen gehen ja einfach. Damit lässt man Brunnenvergifter weiter Brunnen vergiften.

Ich bin daher zum Schluss gekommen: Ich denke nicht daran, das Feld zu räumen. Zumal es eine Menge anderer Menschen gibt, denen ich folge und sie mir, die wie ich darüber klagen können, dass immer mehr Leute aufgeben. Denen ich gerne folge, deren Inhalte mich interessieren. Denn es gab und gibt dort Tolles!

Aufgeben ist keine Option

Aufgeben? Nein, ich denke nicht daran. Ich ziehe lieber meine Ankündigung zurück als mich vertreiben zu lassen. Mehr noch: Ich habe mir nun sogar vorgenommen, Twitter stärker zu nutzen. Meine Themen dort zu erweitern. Schon aus reinem Trotz. Aber auch, um die vergifteten Brunnen mit anderen Inhalten zu verdünnen, die nichts mit dem ganzen Unfug zu tun haben, vor dem ich fast geflohen wäre
Ich werde auch Mastodon entsprechend bespielen. Und man findet mich weiterhin bei Twitter.

Auf geht’s!

Wissen aneignen, Neues lernen: So mache ich es

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Nein: Es gibt nie genug Wissen, das man sich aneignen kann. Die Welt ist dermaßen vielschichtig, dass sich ständige Aneignung von Wissen immer lohnt – auch und ganz besonders auch bei Themen, die nicht immer deckungsgleich zu eigenen Hobbies und Interessen sind. Den Schritt zur Seite, der Blick nach oben oder unten vervollständigt vielmehr das Verständnis von Welt und Umwelt.

Wie eignet man sich neues Wissen an? Das hat viel mit eigener Präferenz zu tun, aber auch damit, was man am besten verarbeiten kann.

Ich gebe zu: Bei mir sind und bleiben es Bücher und Zeitschriften. Nicht, weil ich so groß geworden bin (was ich bin), und auch nicht aus Liebe zu Gedrucktem (die ich habe). Sondern weil ich damit nachweislich am besten umgehen kann. Beim Lesen bin ich auf besondere Weise aufmerksam und lernfähig.

Das wird auf Dauer teuer, denn die meisten Titel kaufe ich mir selbst. Je nach Buch bevorzuge ich sogar die gedruckten Ausgaben, um mir mit Stift und Handschrift eigene Notizen zu machen. Das geht in eBooks natürlich auch. Aber für mich schrecklich unpraktisch. Doch es ist, wie es ist.
Ich bin ein Bücherfresser, und derzeit ganz besonders. Fast kann man sagen, ich atme sie ein – fast alles Sachbücher übrigens. Romane haben da zunächst Sendepause, und es wird noch eine Weile so bleiben.
Es gibt es so viel zu wissen, und ich WILL es wissen! Am Wochenende las ich ein Buch, in den Tagen davor ein anderes, nun steht das nächste auf der Agenda. Gekauft habe ich mir allein in zwei Wochen fünf Bücher – als eBook.
Man könnte sagen, ich habe ja ordentlich zu tun. Das stimmt. Und ja: Das ist gut so.

Ich bin für etwas da oder: Was heißt schon Talent?

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„Ich bin für etwas da.“ Sagt man sich manchmal ganz gerne, wenn es darum geht, sich sich selbst zu vergewissern. An diesem Punkt ist diese Methode aber auch schon zu ihrer größten Entfaltung gekommen. Das ist unterm Strich eher wenig. Denn was wollen wir uns oder anderen damit sagen? Dass ich ein Talent habe? Eine Bestimmung? Gar die Pflicht, mein Talent meiner Bestimmung gemäß zur Entfaltung zu bringen?

Alter Falter, lassen wir den doch besser auf seinem Zweig sitzen und schütteln uns.

Habe ich Talent? Ja, ich denke schon. Ist es das Talent zum Schreiben? Möglich – aber kommt es darauf an? Fakt ist: Seit 20 Jahren bin im schreibenden Beruf. Seit ich elf Jahre bin, schreibe ich Geschichten und Bücher. Da darf ich eher von Erfahrung sprechen statt von Muse, Begabung oder Talent. 

Mozart hatte Talent, als er keine vier Jahre alt war. Ab dann konnt er’s, vermutlich besser als die meisten, was möglicherweise auch mit seinem Talent zu tun hatte – aber Talent wozu überhaupt? Zur Musik oder zur Mathematik, zu Methodik, Harmonielehre? Vielleicht bestand sein Talent mehr darin, aufmerksamer und lernwilliger gewesen zu sein als andere und damit schneller Fertigkeiten erlernt zu haben, die ihn schon früh über jedes Maß hinaushoben. Verbunden mit frühen Erfolgserlebnissen, die ihn dazu brachten, kontinuierlich am Ball zu bleiben, eine entsprechend frühe, permanente Erziehung durch sein musisches Umfeld und durch ständiges Üben immer besser zu werden, entwickelte sich dieser Mensch zu dem Meister, der er schließlich wurde. 

Was ich damit sagen will: Ich weiß nicht, ob es Mozarts Bestimmung war, erst Wunderkind der Musik und dann einer der größten Komponisten der Musikgeschichte zu werden. 

Die Tatsache, was er wurde, hat eben auch viel mit seinem Umfeld, mit Förderung, Übung und der Gabe zu tun, Erlerntes anzuwenden. Welche weltbewegenden Torten hätte er also kreiert und gefertigt, wenn er in einer Konditorenfamilie hineingeboren worden wäre?

Die Aussage „Ist bin für etwas da“ ist an sich leer und damit wertlos. Dass man dafür da ist, was man beruflich tut oder was einen erfüllt, ist nur so dahingesagt.

Wer weiß schon, was passiert wäre, wenn andere Verhältnisse geherrscht hätten. Wäre ich ein „begnadeter“ Mechaniker oder ein „passionierter“ Physiker geworden, wenn die Dinge anders gelaufen wären?
Habe ich also ein Talent zum Schreiben, oder ist mein Schreiben anderen Tatsachen zu verdanken, die nichts mit Talent, Gabe, Begabung zu tun haben?

Bleibt am Ende gar nichts weiter als die Kombination aus Auffassung, Prägung, Übung, Praxis und Erfahrung? 

Ich weiß es nicht. Und wenn ich ehrlich bin, ist es auch völlig nebensächlich. 

Der Bildungsbürger. Eine Tragödie im Schlussakt

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Es ist etwas passiert mit dem Bildungsbürger: War er aus Gewohnheit einer oftmals selbst erklärten Filterblase geistiger Elite nicht gebildet genug und von ihr mit dem abwertenden Prädikat des Bildungsbürgers verunglimpft, ist er seit geraumer Zeit auch jenen zu dumm, die es nicht einmal ansatzweise in ihren Bildungsstand schaffen. Besitzt der Bildungsbürger für die Hochgeistigkeit einfach nicht Bildung genug, besitzt er für die Ungebildeten einfach zu viel an Nutzlosem – was ihn letztlich überflüssig machen soll, da Bildung weder nötig, noch erstrebenswert, noch respektabel ist. Ein Vorwand, der den eigenen Mängel an Wissen und Bildung kaschieren soll.

Der Bildungsbürger als solcher ist bereits schon soweit, dass er sich selbst nicht mehr als solcher bezeichnen würde, weil er das Dauerfeuer von zwei Seiten nicht mehr abwehren kann oder will. Er muss sich nicht nur ständig Kommentare und Fragen nach seinem Stand, seiner Bedeutung und seiner nicht vorhanden Wichtigkeit gefallen lassen, er fragt sich mittlerweile selbst: Schadet diese Bildung eigentlich, und wäre ich nicht besser dran, wenn ich einfach auf sie pfeife? Und ist es unangenehm, meine Bildung zu zeigen und zu ihr zu stehen?

Was ist Bildung dann in letzter Instanz? 

Sie ist Mittel zur Abgrenzung und Waffe. Wer elitär ist, nutzt diesen Stand meist nur aus sozialen Gründen und verschanzt sich hinter Mauern. Und wer wenig bis keine Bildung besitzt, relativiert sie, indem er sie als Waffe gegen den Bildungsbürger einsetzt.

Nun kann man sich fragen, wohin das führen soll in einer Gesellschaft, in der man noch von „Mittelschicht“ als gegeben und für den sozialen Frieden und soziale Stabilität erforderlich spricht. Wo sie schrumpft, verhärten sich die Ränder um ein Vakuum, das über kurz oder lang gefüllt werden muss – fragt sich nur, mit was.

Schaut man hin, was gemeint ist, wenn man allgemein von Bildung spricht, so wird ersichtlich: Bildung wird immer mehr das, was den Einzelnen zum Ausüben einer langen Tätigkeit in einer sich rasch wandelnden Gesellschaft befähigt – und das ist in erster Linie immer mehr Fachwissen und praxisorientiertes Know-how, das dem Gesetz der Geschwindigkeit und der Spezialisierung unterliegt. Schnelle Ergebnisse und Lösungen sind gefragt, die man später hübsch agil modifizieren und verwerfen kann.

Bildung als der Wert, der sie einmal war, heißt nur noch Bremse und Ablenkung vom vermeintlich Wichtigen. Der Bildungsbürger ist somit ein Bremser von allem, der zudem zu langsam ist und über keine Kenntnisse verfügt, schnell erfolgreiche und vor allem verwertbare Lösungen zu erzielen.

Aus dieser Warte ist verständlich, dass der Bildungsbürger verliert, denn er wird durch diese neue Brille betrachtet ein Amateur, der selbst den Ungebildeten unterlegen ist und bleibt, weil er offenbar aufs falsche Pferd gesetzt hat und einen Wasserkopf an Wissen durch die Gegend trägt, mit dem er keinen Blumentopf mehr gewinnt. Er versteht nicht, weiß nicht, kann nicht mithalten. Und ist somit nichts mehr wert, weil es immer weniger Menschen gibt, die Bildung als solche für sinnvoll, erstrebenswert und wichtig halten. 

Durch Abwertung seiner Bildung verliert er an Existenzberechtigung als Bürger, womit wir bei undemokratischen Tendenzen wären. Denn wer nur noch geschätzt und geduldet wird, wenn er einsatzfähig und verwertbar ist, unterlässt zahlreiche Dinge, die ihm demokratisch zustünden, weil sie sozial geächtet sind. Es bedarf nicht erst Gesetze, um etwas zu verbieten: das übernehmen die Gesellschaftskreise schon von ganz allein.

Wir haben es also nicht einfach nur mit einer Ironisierung und Abwertung einer wie auch immer gearteten Gesellschaftsgruppe zu tun. Sondern mit einer schrittweisen Auflösung an Grundwerten und -rechten zugunsten eines Marktes, der sich um Verfassungen nicht schert: Bildung und Bürger nämlich. 

Wir sollten besser aufpassen.

Kalender und Zeitnöte

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Kalender zu führen ist ja so einfach. Immerhin hat jedes Smartphone die passende App gleich als Standard installiert. Dem heutigen Menschen ist offenbar in die technische DNS geprägt, als Basisdisziplin des Lebens alle Termine verfügbar und – wohl noch wichtiger – jederzeit eintragen und verschieben zu können.

Mir ist das zu beiläufig. Wie geschnappter Atem werden da Wochen zerhackt und Wochenenden verplant, einfach weil es so einfach eingetragen ist. Es ging nicht um Lust und Vergnügen an der Sache, sondern lediglich um den nächsten freien Termin; und mein Privatleben bestand fortan nicht mehr aus Verabredungen und Vorhaben, sondern nur noch aus Time Slots und Einträgen – und ich sah mich oft mit Dingen konfrontiert, die ich letztlich gar nicht wollte. Weil ich keine Zeit hatte, sie zu bedenken, bevor ich angesichts der Einfachheit des Eintragens meine Lebenszeit verschleuderte. 

Denn was in all den Kalenderapps immer fehlte, war das, was keine App mir geben kann: Die Zeit für mich – es sei denn, ich bin so wahnsinnig, und trage mir die entsprechend auch noch als Termin in einen freien Time Slot ein oder ergebe mich der Peinlichkeit, für die Beurteilung dessen, was wann gut für mich ist, eine App zu benötigen und damit wirklich jeden Rest der menschlichen Freiheit über mich selbst einem Progrämmchen anderer Leute anzuvertrauen.

Andere mögen sich die Frage nicht stellen, ob sie so leben wollen, und bitte sehr, dann eben nicht. Ich jedoch nehme mir diese Freiheit ganz ausdrücklich.

Und das hat Folgen.

Seit Langem schon weigere ich mich, Verabredungen als Termine in freie Time Slots einzutippen. Ich weigere mich, bei jeder Idee sofort das Gerät zu zücken und zu schauen, ob ich da Zeit habe. Stattdessen gewinne ich Zeit, sage nicht sofort zu sondern sage: „Ich muss nachschauen.“ 

Denn zu Hause liegt mein wirklicher Kalender, ein Buch mit Papierseiten, den ich mit Bleistift und Füller führe. 

Auf diese Weise nämlich gewinne ich notwendige Zeit, die ich brauche, um mir eine ganz besondere Frage zu stellen: „Will ich das überhaupt? Ist mir das in dieser Woche eigentlich recht?“ Der zeitliche Aufschub bewahrt mich vor der Leichtfertigkeit, die mich so häufig in Bedrängnis gebracht hat. Die Entschleunigung bringt mir Entscheidungsfreiheit zurück, die ich in der Hochgeschwindigkeit der technischen Machbarkeit und Allverfügbarkeit nicht wie gewünscht habe. Meine Verabredungen haben wieder mehr mit mir zu tun und meiner eigenen Geschwindigkeit. 

Hinzu kommt: Es ist eine Frage der Ästhetik. Auf einem Smartphone in was auch immer herumzutippen, hat nichts Ästhetisches. Im Gegenteil. Seit es die Geräte gibt, sehen wir alle aus wie Affen, die sich lausen. Statt von Haptik ist jetzt nur noch von Usability die Rede – dabei liegt zwischen Fühlbarkeit und Bedienbarkeit ein ganzes Universum. Auch dies ist etwas, das mir verloren ging, und das ich wiederfand. In der Hochgeschwindigkeit des Bedienens und Eben-schnell-mal-Machens fällt das nicht weiter auf und dürfte nicht vermisst werden.

Das ist legitim.

Ich jedoch mache es mir gerne und mit Freude in meinen Entscheidungen gemütlich. 

Vom verfluchten Sommer

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Nun, da endlich Sommer ist und mit Ende Mai tatsächlich noch zu früh, endet das Lamento, das seit April den Alltag prägte, dass nämlich immer noch kein Sommer sei. Die letzten Jahre brachten mit all der Hitze, Dürre, Sturm und Platzregen nur eine Apokalypse, nämlich dass die Welt stets untergeht, wenn gerade heute einmal kein Sommer ist. Das Hoffen, der Klimawandel könne bitte ausbleiben oder wenigstens kleiner ausfallen als befürchtet, hat angesichts des Hoffens aller auf noch mehr Hitze, möglichst schon von März, April an und bitte unterbrechungsfrei, keine Chance.

Da ist es nun Ende Mai und plötzlich 25 Grad warm, und alles jammert über all die vergangenen Tage, an denen es nicht auch schon so warm oder wärmer gewesen ist. Erstaunlich, das Ganze. Einhergehen wird der nun so plötzlich, heftig – und eigentlich immer noch zu früh – hereingebrochene Sommer statt dem Glück über seinen ersehnten Anfang mit zwei ganz anderes Dingen:  Dem Jammern darüber, dass es nicht 40 Grad ist, und dem Jammern bei jedem Tröpfchen, jedem Wölkchen, jedem Lüftchen, das ab abends bald die Hitze aus den Ecken wirbelt. Denn dann werden bei 25 Grad im Schatten fröstelnd Jacken angezogen, was soll denn das, wenn es abends irgendwann so kalt wird, und außerdem war heute auch mal kurz bewölkt, das ist doch kein Sommer sowas.

Nun also ist er da, der Sommer, begleitet von Weh und Ach, um dann im Herbst und Winter wieder zuverlässig betrauert zu werden, weil man von dem Sommer ja gar nichts Schönes hatte, und natürlich nicht genug.

Das war es also mit den Sommern, die man erwartet und ersehnt, genießt und sich an ihnen erfreut. Immerhin warten nun alle auf ihn, um wenigstens seine langen Tage dazu zu nutzen, sich zu beklagen und zu bemitleiden.

Ich vermisse diese Sommer.

Geschichten im Turbo-Boost: Schreibprozess und Berlinale

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Warum es mich seit 2006 fast jedes Jahr zur Berlinale zieht, obwohl ich sie stets zu anstrengend finde? Weil sie für mich eine Inspirationsquelle sondergleichen für mein eigenes Schreiben ist.

Das Erweitern und Aufbrechen des eigenen Mindsets ist mir wichtig, und so kehre ich zwar immer völlig erschöpft, manchmal gar entnervt nach Hause zurück, aber auch vollgetankt mit Ideen und Eindrücken, die ich sonst in dieser Dichte und diesem Reichtum nicht bekommen hätte, und von denen ich anschließend noch lange profitiere.

Denn Stoffe, Motive, neue Erzählweisen und Perspektiven: Mehr Unterschiedliches auf engstem Raum als Inspiration und Schulung des eigenen Schreibens ist kaum möglich als auf einem Filmfestival wie die Berlinale. Vor allem ist es eine ungemein abwechslungsreiche Schule der eigenen Wahrnehmung: Was sieht man, was löst ws aus und wie geht man damit um? Gwrade hinsichtlich des bereits erwähnten eigenen Mindsets bin ich immer sehr dankbar für die zahlreichen Erweiterungen, die ich hier erleben darf:

Hier bekommt man zu sehen, was in den meisten Fällen nirgendwo sonst zu sehen sein wird. Mit über 400 Filmen aus aller Herren Länder in zahlreichen Sektionen, die auch wagemutig und experimentell Stoffe entwickeln und ohne finanziellen Druck ganz besondere Geschichten erzählen, kann man innerhalb einer Woche von Ideen und Herangehensweisen förmlich überrollt werden – aber es lohnt sich. Denn die meisten Produktionen erreichen den regulären Kinobetrieb erst gar nicht.

Für mich sind Filme seit jeher hervorragende Schreibschulen. Schnitt, Motiv, Beleuchtung, all diese Handwerkskünste wecken Assoziationen. Häufig geht es mir gar nicht so sehr um die Story an sich, sondern vielmehr um ihre Montage und das, was Bild und Ton bewirken.

Es kommt vor, dass ich mich frage, wie man die Szene imitiert Worten erzählen könnte, und dabei erlebe ich häufig positive Überraschungen.

Ebenso häufig erlebe ich, dass eine bestimmte Einstellung des Grundstein zu einer eigenen Geschichte legt – die mit der Story des Films nichts zu tun hat, sondern mit dem, was mir plötzlich dabei einfällt: Eine Assoziation, ein Charakter, eine Stimmung, ein Gefühl. Und da die Filme eines Filmfestivals häufig den Mainstream verlassen, ihn variieren oder biegen, bin ich mir sicher, sie sonst nicht und vor allem nicht in dieser Konzentration bekommen hätte.

Die Folge: Ein überreicher Fundus an Szenen und Ideen, die sich im Laufe der Zeit zu Erzählung formen und verdichten müssen. Manchmal entsteht daraus ein eigener Text, manchmal reichern sie andere Texte an, schleichen sich ein.

Kehre ich von der Berlinale heim, bin ich so erledigt wie voll. Aber ich zehre lang davon. Weswegen auch die kommenden Berlinalen mit mir rechnen können.

Daten-Hoheit

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Es ist ein besonderes Gefühl, sich einmal mit seinen diversen digitalen Accounts zu befassen und sich zu fragen: Welche Daten von mir und über mich liegen wo und wozu eigentlich herum? Da kommt es zu interessanten Überlegungen:

Wir kämen nie auf die Idee, in jedem stationären Ladengeschäft schon beim Betreten oder bei der Mitnahme eines Flyers eine Visitenkarte abzugeben, auf der zudem Zahlungsarten und Zutrittsdaten stehen, geschweige denn kommen wir auf die Idee, diese bereitwillig auch in der Innenstadt zu verteilen. Wir sagen niemandem, in welchem Laden ich schon vorher war und in welche ich gleich noch gehen will. Wir legen weder Ausdrucke von persönlichen Fotos auf Bartresen oder an Supermarktkassen, spielen keinem Berater in einem Bekleidungsgeschäft unser neuestes Urlaubsvideo vor und zeigen auch keinem Fremden, was auf der Party am Wochenende nach der dritten Runde alles so gelaufen ist. Und wer unsere Familie und Freunde sind, wissen die netten Leute in der Bäckerei auch nicht.

Geht ja niemanden etwas an.

Erst recht fiele uns nicht ein, all dies anzugeben, nur um dafür Werbung von unseren Favoriten in den Postkasten zu bekommen und es als Service anzusehen, dass wir dadurch wenigstens keine ungewollte Werbung mehr erhalten.

Da ist es doch verwunderlich, wie liederlich wir hinsichtlich unserer Daten-Hoheit sind, wenn es um digitale Dienste und Anbieter geht – offenbar ist es für uns leichter, Misstrauen gegenüber realen Personen zu empfinden, die uns mit ihren echten Augen ansehen und deren Reaktionen wir sofort sehen können; wie es auch leichter ist, einem realen Menschen gegenüber Scham zu empfinden angesichts der Dinge, die wir preisgeben. Die Menschen, die all das nichts angeht, sehen wir im Digitalen nicht, und die Unsichtbarkeit und Automatisierung vieler Prozesse machen es uns leicht zu glauben, niemandes Interesse zu erregen.

Die Sache ist nur: Darum geht es ja gar nicht. Es geht vielmehr darum, dass ich die Hoheit über meine Daten und Dateien abgebe. Solange ich sie für mich aufbewahre, kann ich ermessen, was mit ihnen geschieht. Verteile ich sie jedoch auf anderen Diensten, gebe ich die Verantwortung über sie ab und verliere meine Hoheit über sie. Mir kommt es so vor, als sind wir uns dessen entweder gar nicht bewusst, weil wir aus Bequemlichkeit vertrauensselig sind, oder wir geben die Hoheit absichtlich ab, um damit die Sorge für ihren Verbleib auf andere abzuwälzen, die ich im Falle einer Panne verantwortlich machen kann – aus meiner Sicht erst recht ein Bequemlichkeitsargument. 

„Meins“ im Sinne von „gehören“ verwässert sich immer mehr zu „immer verfügbar“. Das ist jedoch ein Unterschied, der uns gar nicht mehr auffällt, weil hier der Nutzen an sich mit Eigentum gleichgesetzt wird – die eigentlichen Güter, um die es hier geht wie Daten, Dateien, Inhalte, erkennen wir gar nicht mehr als Eigentum, sondern nur noch die Bequemlichkeit, sie allseits nutzen zu können.

Das wäre in etwa so, als stellten wir unsere Besitztümer öffentlich in Schränke und Regale, damit wir bequem etwas herausholen können, ohne extra nach Hause zu fahren.

Das Problem ist meiner Ansicht nach, dass wir von Eigentum nur noch dann sprechen, wenn wir die Dinge konkret sehen und anfassen können. 

Mir ist das unheimlich. Dabei geht es mir überhaupt nicht um Missbrauch, Hacks, Spionage – sondern einfach nur darum, dass ich über Daten und Dateien von mir die Hoheit abgegeben habe: Fotos bei Flickr: Wozu? Es spielt keine Rolle, ob es dafür ohnehin „bessere Dienste“ gibt. Der springende Punkt ist, dass ich nicht mehr das alleinige Zugriffsrecht mehr habe. Wir sagen gern „Daten-Sicherung“ dazu. Wenn mal zu Hause etwas schief geht, sind sie einfach noch woanders, praktisch! Warum sollte ich meine Videos nicht bei YouTube bunkern, damit ich sie noch habe, wenn die Festplatte abraucht?

Das leugne ich nicht.

Nur: So viele abrauchende Festplatten kann die Welt gar nicht hervorbringen, wie wir uns einreden, das sei unser Grund. 

Ebenso Logindaten für welche Dienste auch immer: Natürlich kann man gewitzt genug sein und  fiktive Daten angeben – allerdings funktioniert das gerade dann nicht, wenn es um wirklich sensible Daten geht, wie z.B. Bankdaten, Adressen für Bestellungen und so weiter. 

Wir haben uns einfach angewöhnt, unseren Besitz gegen Verfügbarkeit einzutauschen. Der Preis dafür ist Vertrauen in Anbieter, Dienste und Services, die wir nur deshalb so nennen, damit wir uns einreden können, sie seien für uns da und sie stünden in unserer Pflicht. Wir reden uns ein, ihre Produkte zu nutzen, um die Tatsache ignorieren zu können, dass wir mit unseren Daten Produkte für sie sind. 

Wir wissen all das, und wir kommen trotzdem nicht auf die Idee, etwas dagegen zu unternehmen. Wir lassen uns von einfachen Logins verführen und wundern uns, dass dabei unsere Privatsphäre verletzt wird wie im Fall Facebook und Google Analytica. Wundern wir uns wirklich? Oder haben wir uns eher die ganze Zeit wider besseres Wissen einfach darauf verlassen, dass schon alles gut gehen wird, weil es so schön einfach für uns ist?

Wir argumentieren gern mit dem Begriff der Freiheit, unserer Freiheit – und meinen damit nichts weiter, als uneingeschränkt immer und überall auf alles Zugriff zu haben; die technische Verfügbarkeit ist Grund und Ursache, ist alles und alleinig das Erstrebenswerte, weil es technisch machbar ist. Es ist eine schöne, verführerische Illusion von Freiheit, die mit der Unfreiheit einhergeht, nicht mehr Herr über unsere Daten und Dateien zu sein.

Das kann man achselzuckend hinnehmen oder sich einschränken, denn auch das gehört zur individuellen Freiheit dazu: Sich zu entscheiden, manche Dinge einfach nicht mehr einfach deshalb zu tun, weil sie technisch möglich sind, sondern es zu unterlassen, um damit wieder unabhängiger zu werden und nicht dem Gefühl zu erliegen, mich ausgeliefert zu haben. Es ist eine Art von Datenhygiene, die ich in letzter Zeit sehr gerne betrieben habe. Zahlreiche Accounts habe ich stillgelegt, zahlreiche Dienste nutze ich nicht mehr. Es fühlt sich an, als habe ich die Liebsten nach Hause geholt. Und habe endlich wieder mehr Hoheit über meine Daten.

Datenschutz als Futter für Dystopien

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Kürzlich schrieb ich über meine neue SF-Story Der Gärtner von Eden und Lächeln anlässlich der Lesung „Future Monday“ zum Thema „Wir wissen, was du machst! Datenkraken & Sammelwut“ im Karlsruher KOHI.
Als ich mich erstmals mit dem Thema für eigene Geschichten befasste, machte ich die erstaunliche Entdeckung, dass sich Datenschutz und Datenmissbrauch noch besser für Dystopien eignen als die Angst vor Atomschlägen in Zeiten des Kalten Krieges – das sagte ich auch während meiner Lesung zu dem Publikum.

Zwar stand Der Gärtner von Eden sofort für mich fest, aber die Flut an möglichen Geschichten, die mir möglich und geeignet erschienen, geschrieben zu werden, hat mich dann doch beeindruckt. Gut ein Dutzend Ideen hatte ich nach kürzester Zeit im Kopf, und ich bezweifle, dass dies auf meine Phantasiebegabung zurückzuführen ist. So war auch schnell mein Entschluss klar, als zweite Story zum Thema Lächeln zu schreiben, die als zweite meiner Texte in der Lesung ihre Premiere gefeiert hat.

Stattdessen scheint dies ein reichhaltiges Angstthema zu sein, das sowohl aktuellen Zeitbezug hat, als auch eigene Erfahrung: Denn wir werden schließlich tagtäglich mit Daten und ihrem Umgang konfrontiert – als Anwender, als Kunde, privat und beruflich. Jeder hat etwas dazu zu sagen, weil in unser aller Leben Erfahrungen mit diesen Technologien und den damit verbundenen Organisationen und Systemen stecken. Wir teilen diese Erfahrungen alle.

Fast scheint es, als haben wir uns selbst in Daten verwandelt – was auch das unbestimmte Unbehagen erklären mag, das da unter der gesellschaftlichen Folie vibriert:
Ein Unbehagen davor, dass wir selbst zu nur noch auf Datenebene verwertbare Einheiten verkommen, deren Wert sich an verwendbaren Daten misst, die wir darstellen.

Ein Unbehagen davor, dass wir selbst zu Daten werden und darüber unser Menschsein verlieren. Aber auch ein Unbehagen davor, als Daten ausgebeutet zu werden – was in früheren Gesellschaften ausgebeutete Arbeiter darstellten, werden wir nun als ausgebeutete Datensammlungen. Schön kann das niemand finden.

Vor allem ist da aber das Unbehagen vor der Verletzlichkeit und des Kontrollverlusts: Der Privatsphäre, des Vertrauens, der Eigenständigkeit. Und auch wenn das Private eine ausgesprochen junge Erfindung der Menschheitsgeschichte ist, so ist es doch ein grundlegender Pfeiler.

Es war nicht so, dass ich lange über einzelne Themen nachdachte: Stattdessen drängten sie sich mir auf – und das, obwohl ich selbst Verfechter der Tatsache bin, dass es „gute“ Daten gibt und er Erkenntnisgewinn durch gewonnene Daten durchaus humane, menschliche und ethisch hoch stehende Ziele verfolgen kann.

Aber es stimmt natürlich: Geschichten schreibt man nie über Dinge, die gut laufen, wo bliebe da der Konflikt, die Spannung, ohne die keine Story auskommt?
Und doch hat es mich überrascht, wie viel Themen mir plötzlich im Kopf standen: Gesundheitsdaten, die missbraucht, aber auch fehlinterpretiert werden können, stets gepaart mit der Technologiehörigkeit, die seit Jahren in dem Maße stärker wird, in dem die Massen sich weniger als Mensch, sondern als bloße „Anwender“ begreifen (dieses Thema werde ich beizeiten übrigens in einem eigenen Text aufgreifen).

Ich musste mir die Frage stellen: Steht da wirklich derart Schlimmes vor unserer Tür, oder sind wir mittlerweile Menschen, denen Alarmismus zur Gewohnheit geworden ist?

Auch ohne werten zu wollen ist klar: Da kommt etwas auf uns zu. Etwas, für das es noch kein Beispiel gibt und damit auch kein so sehr beliebtes Best-practise-Beispiel, das uns die Listen zum Abarbeiten zur Verfügung stellt. Etwas, dessen Funktionsweisen im Geheimen von Technologie wirken, die die meisten weder beherrschen, noch in den Grundzügen verstehen – gepaart mit krimineller Energie und wirtschaftlicher Rücksichtslosigkeit kommt beim Nachdenken erstaunlich schnell an den Rand einer Apokalypse.

Ich stehe nun da mit vielen Geschichten im Kopf und staune über die Vielzahl. Und erschrecke, wie real die meisten davon bereits heute sind.

Die Lüge aller Sorrys

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Das tut mir aber leid/Wir entschuldigen uns/Kommt nicht wieder vor – Was aussieht wie ein sich verbreitender Hang zur Höflichkeit und Demut ist vielmehr Indikator für die Unsitte, sich zunächst zu viel erlaubt zu haben. Die Entschuldigung für Vergehen ist dabei kein Zeichen von Demut, sondern eine Reaktion auf den öffentlichen Druck, den man sich durch diese Geste offensiv zu nehmen versucht. Ein Ziehen aus einer Affäre, bei der man erwischt worden ist.
Das entwertet den wahren Wert einer Entschuldigung und damit eine sittliche Veranlagung, die selbstverständlich sein sollte. Auf den Stand eines bloßen Tricks degradiert, vergeht niciht nur das Tugendhafte in dem Akt der Entschuldigung, sondern auch das in dem sittlichen Verhalten, sich gar nicht erst entschuldigen zu müssen.
Das Fehlen von Scham und Unrechtsbewusstsein ist überall zu verorten und wird gerade öffentlich zur Normalität: In Politik, Wirtschaft und Gesellschaft.

Wer immer im Fernsehen rumpöbelt, entzieht sich schon dadurch meist der Verpflichtung zur Reue, weil zahlreiche Gleichgesinnte gern mit Begriffen wie „Spaßbremsen“ am Werk sind. Reue und Benehmen als Indikator von Langeweile.

Verantwortliche von Krisen machen weiter, als wäre nichts gewesen und suchen sich entweder neue, ähnlich gelagerte Wirkungsfelder, oder können einfach ihren Job fortführen.
Politiker lassen sich zunächst bitten und schließlich in die Ecke drängen, bevor sie Anstand walten lassen – nachdem sie durch ihr reuwürdiges Verhalten bereits allen Anstand haben vermissen lassen.
Unternehmen geben zu, Daten nicht zu löschen oder ungefragt zu sammeln und zu verwerten – kommt es heraus, entschuldigen sie sich und geloben Besserung.

Entschuldigungen also als Beweis von Sitte und Anstand?

Eher eine Notlösung inzwischen, die marktschreierisch dazu dienen soll, durch sie öffentlich Werbung für sich zu machen.

Ein Armutszeugnis dem, der so handelt.
Eine Blamage für den, der ihnen glaubt.
Eine Warnung an alle.

Dieser Text erschien bereits in meinem Blog www.gedankenzirkus.de im Jahr 2012.

Gleich nebenan wartet die bessere Welt

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Gleich nebenan ist sie: Die bessere Welt.
In der Milch und Honig fließen, in der alles besser ist, in der das glückliche Leben auf uns wartet – Physiker halten Paralleldimensionen für möglich, auch wenn hier der wissenschaftliche Beweis fehlt. Wenn er denn je kommt. Oder sich das Ganze nur als Hirngespinst herausstellt.
Paralleldimensionen, unendliche von ihnen heißt: Unsere Realität immer leicht abgewandelt. Man könnte hineintreten und auswählen, welche einem lieber ist. Eine Realität, in der es 9/11 nicht gab und damit den darauf eingeschlagenen Lauf der Weltgeschichte nicht. Eine Realität, in der wir einen beruflichen Weg nicht verlassen, sondern weiterverfolgt haben. Eine Realität, in der ein Mensch, den wir liebten, noch lebt. Eine, in der wir den Lottogewinn von etlichen Millionen doch abgestaubt haben. Eine, in der wir Mut hatten, Dinge zu tun und Schritte zu gehen, die wir in unserer Welt zu feige sind, anzugehen.
Das klingt zunächst verlockend.
Wenn da die Gier nicht wäre.

Denn glauben wir allen Ernstes, wir werden in der Parallelwelt glücklicher? Sicher, die Euphorie nach dem erfolgten Übertritt wäre immens! Geschafft, erreicht, gesiegt! Doch da sind ja die vielen kleinen Nadelstiche, die diese Realitäten für uns nach wie vor bereithalten. Schließlich wäre nicht automatisch alles korrigiert, was uns stören könnte. Und so begänne die Mäkelei dennoch, wenn nicht gar das pure Unglück. Plötzlich oder im Lauf der Zeit stellen wir fest, dass das Bett, in das wir gestiegen sind, voller Flöhe ist oder der Wunschpartner schnarcht, furzt, uns betrügt, ein Tyrann wird oder Invalide, der Job, wegen dem wir den Übertritt getan haben, endet durch eine Firmenpleite oder wir werden ausgeraubt oder das Haus brennt nieder und dann stehen wir da und rufen den Bauchladen herbei, der uns bitte die möglichen Alternativwelten reichen möge, auf dass wir erneut auswählen könnten.
Sorry, die Realität war nix, ein Fehler, kann ich die umtauschen? Habe ich nicht ein Recht auf Umtausch? Und überhaupt, was ist mit Kulanz? Das ist doch kein Service!

Gleich nebenan ist sie: Die bessere Welt.
Denken wir.
Und ja, der Gedanke an die zumindest hypothetisch möglichen Parallelwelten, -dimensionen oder -realitäten (welcher Begriff zu einem besser passt, möge jeder selbst entscheiden), ist verlockend. Ein Lügner, wer ein Inbetrachtziehen nicht wenigstens einmal in Betracht zieht.
Nur um dann herauszufinden:
Gleich nebenan, da ist sie: Eine Welt wie jede andere. Und irgendwie auch wie unsere jetzige. Andere Dinge sind anders, besser möglicherweise auch, nur der Rest der ist ja auch noch da. Wir werden schon Wege finden, unzufrieden zu sein.
Irgendwas ist schließlich immer.

Blind – oder: Mit anderen Augen als den Augen sehen

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Ich hatte einen Traum. Er war nicht schön. Ich verlor darin das Augenlicht, ich sah mich selbst mit geschlossenen Augen, dabei sind blinde Augen geöffnet. Ich sah nichts, orientierte mich nicht. Meine Hände waren nach vorn ausgestreckt. Wie ein Zombie tastete ich mich vor, langsam, unsicher, allem beraubt. Es war so grässlich, als sei mein Leben mit dem Ende des Augenlichts zu Ende. Oder, wieder bildhaft, als erlösche mein Leben mit dem Erlöschen des Augenlichts.
Wie ist das ohne Augenlicht? Die Welt, sie ist noch da, in all ihren Formen und Farben, aber sie verbirgt sich hinter Blindheit. Und man selbst? Alles vorbei? Ich schreckte auf. Panisch atmete ich in die Nacht hinein, in die Dunkelheit und war froh, mein Augenlicht zu haben. Es dauerte, bis ich mich wieder fing. Ich schaltete das Licht ein, blickte mich um – und war mir meiner gewiss. Als sei ich es nicht, sobald ich nichts mehr sehen könnte.
Bücher lesen? Vorbei. Filme sehen? Vorbei. Schreiben? Erledigt. Blind zu sein: Das ist ein Abschneiden von Orientierung. Dabei ist das gar nicht wahr. Wer nie sah, wird womöglich nichts vermissen.
Doch wie ist es, etwas zu verlieren? Das Augenlicht – ein schönes Wort, so wahr vor allem: Es wirft Licht in die Augen, es bringt Licht der Erkenntnis, Kenntnis der Orte, der Umgebung, der Menschen.

Aber ja, das Licht lügt ja auch. Wir sehen nichts in Infrarot, dabei ist es um uns herum. Was Insekten sehen, ist nicht weniger wahrhaftig und Teil der Welt als das, was wir mit unseren Augen sehen. Wer richtig sieht und wer nichts von beiden, ist nicht ermittelbar. Beide sehen die Welt, wie sie ist, wenn auch nur einen Ausschnitt. Was also ohne Augenlicht und ohne der Illusion der alleinigen Erkenntnis und Kenntnis? Verzweifelt wär ich. Stolperfallen, auch wenn Serien und Filme von blinden Superhelden sagen, dass man Augenlicht nicht braucht.

Blind. Als ich sehend in der Nacht um mich blickte, blieb mir fast das Herz stehen vor Schreck. Ich will nicht blind sein. Ich kann mir nicht vorstellen, mich umzugewöhnen. Der Verlust wäre so stark, dass ich ihm hinterher weinen, ja schreien würde. Seht, was ich verloren habe! Würde ich mich daran gewöhnen? Wie könnte und würde ich schreiben? Wäre es so schnell und einfach wie jetzt?
Eines wäre es jedenfalls nicht mehr: So beiläufig wie jetzt. So zwischendurch. Es wäre ein Akt der Erkenntnis, der Kenntnis, durch die größere Mühe hellsichtiger in Form und Art und Inhalt. 
So sähe ich die Welt. In gewisser Hinsicht auch wieder besser als zuvor.
Blind sein heißt also alles und nichts.

Wer bin ich?

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In Not und höchstem Übel kommt die Frage plötzlich: Wer bin ich? Was bin ich? Wenn die Frage kommt, weiß ich, dass ich vom Weg abgekommen bin. Dann wacht man auf und fragt sich, wie es nur geschehen konnte, dieses Abkommen vom Weg.
Als sei erst das Abkommen und Verlieren der Akt der Erkenntnis seiner selbst und seiner Wünsche. Und man fragt sich, ob man in letzter Zeit außer Besinnung und Kontrolle war und dann, wie und warum das hat geschehen können.
Immerhin: Kommt die Frage nach dem, wer und was man sei, ist damit ein Aufwachen verbunden, ein Erkennen eines Fehlers. 
Zugegeben, das macht keinen Spaß. Plötzlich im Morast zu stehen und in schmatzendem Schlamm nach Hilfe zu rufen, die ohnehin nicht kommt. Die Anstrengung, wieder zurück zum Weg zu kommen, ist eigene Aufgabe.
Es klingt schlecht, und in gewisser Hinsicht ist es das auch, aber hey, sehen wir es so: Solange die Frage und mit ihr das Erwachen kommt, erscheint der Weg auch wieder.
Heutzutage würde man das vielleicht lebenslanges Lernen nennen. Und dazu Kanäle basteln oder sie verfolgen, in denen es Tipps und Tools hagelt, damit umzugehen. Orientierungspunkte, Eckpfeiler, Meilensteine – Milestones nennt man das heute. Listen, die man macht und abarbeitet, weil das Entlanghangeln an Geländern welcher Art auch immer vor Sturz und Absturz bewahrt und beim Weg zurück zum Weg unterstützt.
Es ist gut, diese Stützen zu haben.
Doch letztlich ist es die Frage „Wer bin ich?“, die uns umtreibt und beschäftigt und damit letztlich alles bei uns selbst ablädt. Wo sonst sollte es auch hingehören, die Auseinandersetzung mit sich selbst, ohne auf Fremdbestimmung hereinzufallen?
Wer bin ich: Das bringt Ideen und Vorstellungen in den Geist zurück. Wer dabei stehen bleibt, träumt. Wer nun aber handelt, kommt weiter. Handeln kann übrigens auch aktives Unterlassen oder Loslassen heißen – soweit zu dem, was Tat und Aktion bedeuten. 
Wer bin ich: Das beantworte ich am besten selbst. Und gehe von hier aus auch weiter. Aus eigener Kraft. Und in gewisser Weise auch allein. Somit ist der Weg zurück zum Weg der Weg zu einem selbst, zu diesem untrennbaren Kern. Und hier lauern Überraschungen. Kompromisse und Flausen, die man sich als alleingültige Wahrheit und Möglichkeit des eigenen Lebens antrainiert hat, nur um dann festzustellen, dass man geirrt hart.
Aber so ist das mit Kompromissen, die man immer machen muss und machen sollte. Alles andere wäre rücksichtslos, und von den Ichlingen, die alles für sich verlangen und nichts erkennen wollen außer ihrer eigenen Großartigkeit, von diesen Typen haben wir genug.
Gehört eben auch etwas Charakter und Kenntnis dazu, zu unterscheiden zwischen Charakter und Einbildung.
Das öffnet den Kompromissen ihr Schlachtfeld. Sie treiben in Abhängigkeit, Illusion, in Routinen und Abläufe, heutzutage gern als „Workflow“ geschönt, einer dieser englischen Begriffe, die deshalb so glatt durchgehen, weil sie keinen Trigger im Kopf setzen, weil sie nichts auslösen.
Die neoliberale Welt braucht diese englischen Begriffe. Worte ohne Klang, ohne Bedeutung und ohne Wert – sind sie in der Welt, kann man sie füllen und damit kontrollieren. Damit macht man uns zu Zombies. Wie praktisch, weil wir es nicht merken. Immerhin ist dies der Lauf der Welt und der Dinge, oder?
Aber dann stehen wir irgendwann plötzlich doch da und fragen uns auf einmal: Wer bin ich? Und können, obwohl es so negativ klingt, doch froh darüber sein. Dass wir es gemerkt haben. Und aufgewacht sind.
Fragen wir uns also ruhig: Wer bin ich?

Herr der Wolken

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Als ich neulich in die Wolken blickte, geschah es: Ich hielt sie an. Nicht alle, sondern eine. Ich brachte sie dazu, einfach stehenzubleiben. Wie weit sie von mir entfernt war, kann ich nicht sagen, es war ein großartiger Sommertag, und weiße Wolken schoben sich wie Gebirge über mich hinweg. Auf eine fixierte ich mich – oder ich hatte vielmehr das Gefühl, dass sie sich mich aussuchte, um von mir fixiert zu werden, soll heißen, im Prinzip fixierte sie mich – und brachte sie, während ich sie anblickte, zum Stillstand, während alles andere und auch alle Wolken um sie her weiterzogen. Ich konnte sowohl die Bewegungen der anderen Wolken anhand eines Daches erkennen, wie sie sich millimeterweise weiterschoben, wodurch mir auch klar wurde, dass die eine bestimmte Wolke indes stehenblieb.

Wie konnte das sein?

Ich denke, wir haben uns beide angeschaut und uns zu durchdringen versucht. Während ich sie ansah, stellte ich mir vor, dort hineinzufliegen. Ich spürte, wie es dort weit kühler war als die 30 Grad, in denen ich mich befand. Ich stellte mir vor, in ihrem Nebel zu sein und nichts anderes mehr zu sehen als ihr nebelweißes Innengewölk.

Still war es dort, beeindruckend still, und alles, was von unten heraufgequollen wäre, wurde wie in Watte gepackt und drang nicht zu mir. Es ist übrigens nicht allzu schwer, sich im Tagträumen in das Innere einer dieser großen, weißen Wolken hineinzudenken. Man muss es nur wollen. Das ist kein Akt an sich, sondern ein Erleben, das sich ergibt, ein Finden, ohne gesucht zu haben.

Nein, ich beginne nicht damit, zu sagen, wir hätten eine gemeinsame Basis oder hätten gar miteinander kommuniziert. Wir waren, so kam es mir zumindest vor, eins, jeder in dem anderen. Schließlich atmete ich sie ein, während ich mich in ihr befand.

Hier, weit oben, war die Welt so anders. Still vor allem. Und entrückt. Entrückt, weil hier alles gleichgültig war und nichts wichtig. Hier wabert man vor sich hin, mehr nicht, ist reines Sein, ohne Funktion, ohne Wille. Schön ist das.

Es muss durch diese Einheit geschehen sein, dass die Wolke anhielt. So als wollte sie nicht aus meinem Blickfeld und mich nicht weiter belasten. Wie ein Bett, das da steht und dich einlädt: Komm. Leg dich hin.

Minuten verstrichen. Ich weiß das, denn ich bemerkte später beim Blick auf die Uhr einige Minuten, die verstrichen waren, ohne dass sie mir wie Minuten vorgekommen waren.

Zu sagen, dass ich irgendwann einmal wieder zu mir kam, ist zu viel gesagt, ich war schließlich nicht weg oder weggetreten, sondern vielmehr ganz und gar da gewesen. Immerhin erkannte ich nun, dass die Wolke nicht stillgestanden hatte. Dass ich sie also auch nicht zum Stillstand gebracht habe. Man darf auch fragen, wie ich das geschafft hätte. Denn erst jetzt bemerkte ich, dass die Wolke, die mir eine Zeitlang so vertraut gewesen ist, eine weitaus massivere war als alle um sie herum – will sagen: vor ihr. Denn ich war einer optischen Illusion erlegen: Alle anderen Wolken waren viele Kilometer vor ihr, und wirkten dadurch schneller. Wie der Harz sausten sie vor den Anden oder dem Himalaja vorbei, und solche Wolkenmassen schieben sich nicht so hastig, vor allem nicht aus dieser großen Entfernung.

Aber schön war der Gedanke dennoch: Dass ich es vermocht hatte, eine Verbindung zu einer Wolke aufzunehmen oder es erlebt zu haben, wie eine Wolke mich dafür ausersehen hatte und der Möglichkeit bewusst zu werden, Dinge in der Welt zum Anhalten bringen u können.

Müsste doch, so denke ich mir, möglich sein, alles andere macht keinen Sinn. Immerhin ein Gedanke, der nun da ist und mit dem ich ab nun immer wieder beschäftigen kann. Ein Gewinn, möchte ich sagen.

Fugen

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Viel steckt in den Fugen. 30 Jahre meines Lebens haben sie gesehen, und man sieht es ihnen an. In ihnen steckte viel, über sie ging ich längst, als ich noch jugendlich war und voller Ideen und Träume. Außer den Fugen ist nichts davon geblieben. Wir sind gemeinsam alt geworden. Wer hätte das gedacht, als ich sie zum ersten Mal sah.
Hineingelugt hab ich in das Badezimmer ohne Licht, noch unbezogen von uns, von mir und unseren Leben. Da war es neu, unbenutzt, und ich war ihm herzlich egal wie es mir. Ich wusste nur: Ich wollte hier nicht hin. Nicht in dieses Haus, nicht in diese Stadt. Ich ließ mein Leben hinter mir, weil ich es musste.
Da waren die Fliesen und die Fugen noch neu.
Heute blicke ich sie an, mehr noch als die Flesen, weil sie Sollbruchstellen sind und Verbindungen, und weil sie die Patina des Alters annehmen und der Jahre, die über uns hinweg gegangen sind inzwischen.

Ich habe mit all dem hier nichts mehr zu tun, und obwohl ich an mich an vieles erinnere, an das Gefühl damals, an das ein Damals, das Leben, die Träume, die Illsionen, die Freunde und der Hund, die allesamt darüber geschritten sind, sind sie hier vollends fortgewischt.
Keine Hautschuppe von mir findet sich mehr hier, ich habe mich zu sehr gehäutet in der Zwischenzeit, bin ein anderer geworden.
Dieses Bad jedoch ist immer noch gleich. Die gleichen Fliesen, der gleiche Farbton. Früher war das zeitgemäß, heute wirkt es alt. Und die Fugen: Schmutzig wirkend, ohne schmutzig zu sein, streben sie einklemmt zwischen Fliesen den Wänden und Begrenzungen entgegen, seit 30 Jahren schon. So banal und doch auch nicht.
Ich schaue sie an, sie sind mein Leben irgendwie, oder zeigen sie wenigstens die Zeit, die hier vegangen ist. 30 Jahre. Alt weden will ich nicht, und nein, alt werden, das werde ich auch nicht, nicht alt in dem Sinne, in dem ich aufwuchs damals, alt zu sein.
Alt und Alter hat eine andere Bedeutung bekommen. Es hat einen Klang, den nur die Alten sprechen können. Alter spielt keine Rolle mehr, nicht so wie damals. Vor 30 Jahren, als ich die Fugen, damals unberührt, das erste Mal berührte, hatte ich vom Alter keine Vorstellung. Auch nicht von einem neuen Jahrtausend, das lag 15 Jahre noch entfernt, das Doppelte meines damaligen Lebens. Jahrtausendwende? Lag weit entfernt. Mein späteres Leben? Undenkbar. Mein damaliges als jetziges damals war genug.

Ich sehe nun auf diese Fugen und frage mich, was die Fugen meines Lebens sind, ob sie Brüche bekamen, ihre Farbe verändert haben, sich abgenutzt haben in letzer Zeit. So beharrlich, wie sie hier im Bad liegen zwischen den ewigen Fliesen, sind die Dinge meines Lebens nicht. Hier gab es immer wieder Renovierung, Ausbau, Umbau, mehr als nur ein Anstrich.
So ist dies hier ein Relikt, dieses Bad mit diesen Fliesen, ebenso wie diese Fugen. Meine sind Dehnfugen, zwischendurch erneuert und ausgewechselt, weil sich alles so geändert hat.
Ich schaue es mir an und denke mir gut so. Dass es so war, wie es war. Und dass es nun vorbei ist und ist, wie es nun ist.

Mein Buchladen und ich

Ja, ich liebe es, in den Buchladen zu gehen. Ich sage bewusst „in den“ und meine es stellvertretend für alle Buchläden.
Ich möchte dabei gar nicht damit anfangen, über den Geruch von Papier und all diesem für mich eher esoterisch aufgeheizten Getöse zu reden, auch wenn ich den Geruch von Papier in Buchhandlungen durchaus schätze.
Es geht mir auch weniger um die Beratung, die ich dort erhalte, da ich in den wenigsten Fällen auf Beratung angewiesen bin und sie beim Stöbern meist auch ausdrücklich nicht wünsche.
Meines Erachtens gehört das Buch in ein Geschäft. In einen eigens dafür angelegten und eingerichteten Raum. Schon bei Bücherecken in Supermärkten, die wie große Stände für Obst und Gemüse Bücher feilbieten, bekomme ich Probleme dahingehend, dass ich mich darin nicht wohl fühle. Dies ist – natürlich nur nach meinem eigenen Befinden – einfach nicht der richtige Ort für Bücher. Sie sind dort Ware, und nicht Wert.
In Buchhandlungen ist genau dies anders. Natürlich ist es illusorisch zu glauben, in der Buchhandlung sei das Buch keine Ware, natürlich ist sie das. Aber eben auch Wert. Es ist der Wert an der Arbeit, an den Gedanken und der Arbeit der Autoren, aber vor allem der Wert der Zeit, die ich mit den Büchern verbringen möchte. Ja, ich kann sagen, dass Buchhandlungen diese Arten umbauter Räume sind, in denen ich ganz bei meinem Behagen sein kann, das ich empfinde, wenn ich das Buch lesen werde. Eine Buchhandlung ist für mich dahingehend ein Vorschuss auf das, was mich erwartet.
Dies ist im Übrigen ein sehr privater Aspekt der Empfindung. Mehr als ein Hobby an sich, ist mir die Zeit mit einem Buch wichtig, wichtiger als jene Zeit, die ich anderweitig verbringen könnte, wenn ich nicht lese.
Man kann also sagen, dass der Besuch einer Buchhandlung und damit das Betreten des für einen für Bücher geschaffenen Raum eine Beschäftigung mit mir selbst ist. Wenn ich an den Büchertischen und den Regalen entlangschlendere, Titel greife, umdrehe, mich mit Klappentext und Haptik beschäftige, ist dies ein ungemein intimer Vorgang, ein Empfinden. Dieses Empfinden ist äußerst intim, und ich meine damit nicht rein die taktilen Vorgänge des Greifens und Blätterns. Wie oft kommt es vor, dass man das Personal fragt, ob es nicht die Zelophanhülle entfernen könne, damit man mehr zu sehen und zu greifen hat. 
Was hier passiert, ist ein Akt der Aneignung, nicht nur mit den taktilen Sinnen, sondern auch mit den geistigen. 
In einem Supermarkt ist mir dies kaum möglich, hier stimmen Licht und Laut nicht, hier gibt es Unterbrechungen, die ich nicht erwarte und nicht will.
Zugegeben, das ist eigen von mir. Aber so ist es halt, ich kann es nicht ändern. Und muss es übrigens auch nicht.
Das Betreten einer Buchhandlung ist für mich die Einladung, neugierig zu sein, ganz bei der Beschäftigung mit dem Wert Buch an sich, nicht mit der Ware als solcher. Ich fühle mich hier ernst genommen, weil ich weiß, dass dieser Raum eigens für mein Interesse und meine Neugier geschaffen wurde.
So lasse ich mir Bücher in Buchhandlungen liefern. Ja, ich bestelle sie häufig online, aber abholen und bezahlen, das sind Akte, die ich in der Buchhandlung persönlich erledige. Ja, es geht bequemer, wenn es zu mir nach Hause käme.
Allerdings ist die Bequemlichkeit ein Trugschluss. Passt das Buch nicht in den Briefkasten – und das ist plus Verpackung schnell geschehen – werden ohnehin wieder Sendungen daraus, die ich abholen muss. Packstation? Praktisch natürlich. Jedoch fahre ich zu ihr ebenso weit wie zu der nächsten Buchhandlung, ein Glück, ich weiß, ein Privileg, vielleicht. Mir ist es lieber, der Buchhändler um die Ecke, ob nun für mich gut sortiert oder nicht, erhält meinen Namen für sein System mit meinen Bestellungen als Online-Versandhäuser (die ich übrigens nicht pauschal verteufeln möchte).
Mein Name und meine Anschrift geistern je nach Wohnsituation von einer Buchhandlung zur nächsten. Die nächstgelegene hat gewonnen. Sicher, beim Bummeln in der Stadt kann ich an andere Buchhandlungen geraten und somit an Bücher, die ich direkt dort kaufe. Ein Widerspruch ist das für mich nicht.
Ich empfinde schlichtweg Freude dabei, in die bsagten eigens geschaffenen Räume zu treten und mich dort angemessen auseinandersetzen mit dem, was mir lieb und wichtig ist. Ich werde sie betreten, mein bestelltes Buch kaufen und das Gefühl haben, in „meiner“ Buchhandlung zu stehen.
Mehr Aneignung als dieses Gefühl: Das geht nicht. 

The Shining oder: Der Totalausfall des Stanley Kubrick

Stephen King hat es schon wieder getan: Er hat öffentlich gesagt, wie missraten er mit der Verfilmung seines Romans The Shining von Regie-Großmeister Stanley Kubrick ist. Dass King den Film regelrecht hasst, ist längst bekannt. Diesmal hat er sich im Interview mit Deadline genauer geäußert.
Die Äußerungen geben mit Anlass, selbst etwas zur Verfilmung von Kubrick zu sagen:

Auch Genies haben schlechte Tage. Und Regisseure ihre schlechten Filme, die dann als das Pendant der schlechten Tage gelten. Auch bei Genies wie Kubrick ist das nicht anders. Natürlich heißt es im Rückblick, alles, was Kubrick gedreht hat, sei ein Meisterwerk, aber das ist nicht wahr. Erst kürzlich sah ich Shining nach vielen Jahren einmal wieder, oder besser gesagt, ich versuchte es. Dass ich den Film langweilig fand, war mir noch bewusst, und auch, dass Autor Stehen King Kubricks Version gehasst hat.

Ich kann ihn verstehen.

Klar, es wirkt immer etwas anmaßend, wenn man einen Meister kritisiert, aber ich frage mich: Warum eigentlich? Weil es sich bis zur Sakronsanz durchgesetzt hat, dass es über jeden Zweifel erhaben ist, dass eine Kritik zwangsläufig falsch, unpassend und anmaßend ist?
Shining ist ein langweiliger Film. Mehr noch: Er ist purer Trash. Ein monsterhaft ins Künstlerische aufgeblasene Nichts ohne Spannung mit miesen Schauspielern, lächerlichen Charakteren und schlechten Dialogen.
Dass Jack Nicholson, ausgerechnet er, schlecht sein soll, ist gerade einer dieser Punkte, die schwer zu glauben sind, zumal es auch hier einem Sakrileg gleichkommt, ihn zu kritisieren – aber es liegt nun einmal auch an dem, was er spielen musste und an dem, was der Regie-Wahnsinnige Kubrick von ihm wollte. Eben das macht alles nur tragischer.
King ist mit Nicholsons Darstellung alles andere als einverstanden, und die Vorwürfe, die King erhebt, sind schwerwiegend. Nicholsons spiele seine Figur des Jack Torrance „verrückt wie eine Scheißhausratte“ ( he’s crazy as a shit house rat). Und alles liefe darauf hinaus, dass er nur verrückter werde, ohne dass er sich mit seinem eigenen Verstand auseinandersetze. Und ja, dies ist wirklich die deutlichste Diskrepanz zwischen Vorlage und Adaption. Im Buch kämpft die Figur mit sich und seinem Verstand, doch im Film rastet er einfach nur aus. King hatte nach eigenem Bekunden den Fall der Figut des Jack Torrance als Tragödie geplant, doch Kubrick schien offenbar daran kein Interesse zu haben.

Es ist dies auch der Grund, aus dem mich der Film kalt lässt. Nicholson betreibt maßloses Overacting, ist das abgrundtief Wahnsinnige. Dies wird einfach nur dargestellt statt erklärt. Der Film ist klinisch und lässt einen kalt, weil ihm alles Menschliche und damit alles Tragische abgeht.

Kubrick wird gehypt, als habe er das Kino gefunden. Im Grunde ist er ein einziges Scheitern. Nicht deshalb, weil er vergleichsweise wenig Filme abgeliefert hat, sondern weil er ein endloser Planer war, der so weit forschte und vor allem theoretisierte, dass am Ende das Praktische hinten überfiel.
Sicher, 2001 ist ein Meisterwerk, eines der ganzen großen. Aber danach kam er nie wieder so richtig auf die Spur, und wir reden hier von 1968.

Sein Uhrwerk Orange ist irre, irre genial und irre radikal ebenfalls, aber nicht mehr der große Wurf, als vielmehr der große Skandal. Skandale ersetzen Meisterwerke nicht und machen sie nicht zwangsläufig zu welchen.

Barry Lyndon mag unterschätzt sein, aber auch hier fand Kubrick zur Meisterschaft nicht zurück. Wa sist von einem FIlm zu halten, über den am bekanntesten ist, dass hier erstmals bei echtem Kerzenlicht gedreht wurde? Weswegen anschließend ein Knaller her musste, und das sollte nun Shining sein.

Kubrick biederte sich damit einer Horrorwelle an, überhaupt einer Welle, die ihn vor sich hertrieb und in ein Genre hinein, das nun einfach nicht seins war. Seine Art und seine Sichtweise vertragen sich nicht mit Horror, so einfach ist das.
Und als habe er gewusst, dass er scheitern muss, blies er alles auf ins Kubrickhafte, in der Hoffnung, wenigstens das könne die Kritik am Werk dämpfen – die dann aber erbarmungslos war. Nicht nur lieb der Erfolg aus, auch die Kritiker waren nicht angetan. Und Kubrick tat Unglaubliches: Er kürzte den Film aufgrund der Reaktionen um knapp 30 Minuten für den internationalen Markt. Das sei, so sagte er später, die eigentliche Fassung.
Doch so etwas widerfährt einem unantastbaren Genie wie Kubrick? Nicht im Ernst.
Nein, Shining ist das Produkt eines Scheiterns, und ja, eines großen Regisseurs, dessen Erbe dadurch nicht kleiner wird.
Aber jemand, der sich in zugegeben große Kamerafahrten flüchtet, sich einem Geschmack anbiedert, den er nicht versteht und ein zahmes, ödes und übertrieben verkünsteltes Horrordrama macht, der ist einfach gescheitert.
Immerhin liefert der Film DAS ikonographische Highlight des Horror-Kinos: Jack Nicholson, der diabolisch durch die die vom ihm mit einer Axt zerschlagene Tür schaut.
Ja, immerhin hat Kubrick damit ein Erbe gesichert. Das Einzige. Neben seinem Scheitern.

Jurassic World und das digitale Kino

Als vor 22 Jahren die Dinosaurier erstmals realistisch auf der Kinoleinwand zu sehen waren, sprach jeder von Steven Spielbergs Meisterwerk Jurassic Park. Heute sieht zwar scheinbar jeder Jurassic World, mit dem die Reihe nun nach vielen Jahren recht solide weitererzählt wird – doch ich vermisse etwas.

Ja, wir staunten alle mit offenen Mündern im Kino, damals 1993. Da war von Spielbergs neuem Film schon weit im Vorfeld die Rede, weil man von einer digitalen Innovation sprach, die Effekte erschaffen sollten, wie man sie bis dato noch nicht gesehen hatte. Schon zwei Jahre zuvor hatten wir mit Terminator 2 eine Trickeffekt-Fahrt gesehen, die gar kühnste Vorstellungskraft sprengte – wenn nun ausgerechnet Spielberg einen nie gekannten Realismus von Effekten ankündigte, konnte man gespannt sein. Und das waren wir. Auch, weil die Romanvorlage seit Jahren ein Bestseller war und die Frage kursierte: „Wie wollen die das denn bloß verfilmen?“ Trotz aller Hoffnungen, Spielberg werde es schon hinbekommen, gab es da auch die Zweifel in das, was Kino und Effekte abbilden können, zumindest glaubhaft.

Als wir dann im Kino saßen, war das unbeschreiblich. Wir sahen, was wir noch nie zuvor gesehen hatten. Wir sahen auch, was wir uns nie zuvor vorstellen konnten, jemals zu sehen – eine Überwältigung, die ihre Spuren in der Kinogeschichte hinterlassen hat.

Als Technik die Erzählung sprengte

In den 90er-Jahren war das noch aufregend: Da sahen wir plötzlich ganz neue Dinge – und damit auch neue Erzählungen. Geschichten emanzipierten sich dank neuer Tricktechnik, die alles zeigen konnte, aus dem Korsett des Darstellbaren. Nun konnte man Geschichten erzählen, die man vorher nie hatte erzählen können. Denken wir an Twister, Independance Day, Titanic, und nicht zu vergessen Anfang des Jahrtausends die Herr-der-Ringe-Trilogie. Die Technik vollbrachte mit dem Wunder neuer Bilder auch das Wunder neuer Erzählungen. Das war großartig.

Die digitale Ermüdung heute

Inzwischen ist all das abgenutzt. Es gibt einfach nichts mehr, was wir nicht schon gesehen haben, digitale Tricktechnik macht’s möglich.

Wie viel Rechnerleistung in Spider-Man-Filmen steckt oder im Hobbit, ist nur noch eine technische Angabe, die keinerlei Anteil mehr an neuen Geschichten trägt. Vielmehr gehen in erstaunlich vielen Filmen erstaunlich viele Städte unter, möglichst viele Trümmer und immer noch mehr Trümmer. Transformers 3, Transformers 4, Avengers 2, Man of Steel: Hier müssen es gleich ganze Städte sein, die untergehen. Abgesehen davon, dass es zwar grafisch hochaufgelöst ist, haben diese unzähligen, überteuren Effektorgien noch immer eben die Künstlichkeit, die Distanz bringen zwischen dem Zuschauer und der Erzählung. Wir wissen nicht nur, dass von all dem kaum etwas echt ist – wir sehen es auch immer noch.

In Katastrophenfilmen der 70er-Jahre gab es Story und Dramaturgie. Der Terror einer Katastrophe war spürbar.

Und heute? Da fliegen und krachen die Pixel. Hochaufgelöst, quietschbunt. Wie bereits in dem Film davor. Und dem davor. Und dem davor. Neues bietet sich uns nichts mehr, nicht einmal mehr eine technische Innovation. Im Gegenteil: Ich werde das Gefühl nicht los, dass mit der Einführung von 3D 2009 nun alles verschossen wurde.

Es ermüdet nunmehr, dass es keine neuen maßgeblichen Bildtechniken und auch Erzählformen mehr entstehen, sondern wir in einer Endloschleife des Ewiggleichen und Schonlängstgesehenen gefangen sind.

Alles digital, schon hundertmal gesehen

Die unsägliche Trümmerflut der überzüchteten Hollywood-Blockbuster-Maschine ist nur noch langweilig und meist narrativ dumm. Nicht einmal mehr noch größer können die Schlachten und Final-Spektakel mehr sein. Transformers 3 gipfelte schon vor Jahren in einer über 45-minüten Trümmerorgie, wie es sie zuvor noch nie gegeben hat. Zack Snyders augeblasener Man of Steel ließ die übertriebenste Finalschlacht aller Zeiten auf uns Zuschauer los. Der 3. Teil der Hobbit-Trilogie artete in grobmotorisches, grauenhaft schlecht erzähltes Getümmel ohne Story, Spannung, Sinn und Seele aus – und selbst die so gelungenen Avengers gaben uns im 2. Teil nicht viel mehr als schon tausendfach abgenudeltes, ausgeleiertes, kurz: Höchst langweiliges, uninspiriertes Gekloppe.

Das Staunen und das Ansehen

Das bringt mich zurück zu Jurassic World.

Ich sitze da, ich war 1993 von Jurassic Park überwältigt wie alle. Ja, wir hatten so etwas noch nicht gesehen.

Bei Jurassic World ist das nicht so. Wir werden ganz sicher alles schon einmal irgendwie irgendwo schon mal gesehen haben. Und richtig: Wo Jurassic Park 1993 Überwältungskino de luxe war, ist Jurassic World 2015 nichts weiter als einfache Unterhaltung.

Jurassic Park brachte uns 1993 das Staunen.

Jurassic World bringt uns 2015 einfach nur bessere digitale Dinos als damals.

Jurassic Park startete vor 22 Jahren in einer Zeit, da die Filme in den USA im Sommer anliefen und im Rest der Welt im Herbst. Filme hatten Wochen, teilweise gar Monate Zeit, einen Hype zu entwickeln, der dann nach und nach mit Verzögerung die anderen Länder erreichte.

Von Jurassic Park las ich im Sommer 1993 in der Tageszeitung die Headline „Die Dinos brechen alle Rekorde“. Da wusste man, Spielberg hat es geschafft. Und wir würden wirklich etwas zu sehen bekommen, das man so noch nicht gesehen hatte.

Heute starten die Filme weltweit nahezu zeitgleich. So kam Jurassic World ganz anders als sein großes Vorbild einfach in die Kinos. Was einst ein Werk war, ist heute Produkt, das zur Vermeidung der illegalen Raubkopien im Netz möglichst breit startet, damit die Einnahmen maximiert werden können.

Der vermisste Moment

Nun saß ich in Jurassic World und er gefiel mir. Aber wenn ich ehrlich bin, liegt das auch zum großen Teil daran, dass er die Geschichte von vor 22 Jahren geschickt aufgreift, weitererzählt und damit in seine eigene Erzählung integriert. Da man mich in Jurassic World immer wieder an Jurassic Park erinnert, erinnere ich mich auch an die Wirkung des Originals vor 22 Jahren – die letztlich auf den neuen Film abfärbt.

Natürlich ist das richtig, notwendig, vernünftig und überdies geschickt gemacht. Aber wären die Dinos heute genauso erfolgreich wie ohne das Original?

Spielbergs Film ist Legende. Alles danach profitiert von ihr.

1992 saß ich im Kino die Auflösung der Grenze zwischen Realität und Spezialeffekt. Heute im hochauflösenden Zeitalter sind neben den Gewöhnungseffekten die Tricks oft nicht überzeugend genug, um nicht künstlich zu wirken.

Deshalb: Ja, ich vermisse etwas. Das Besondere. Das Einzigartige. Den Kinomoment, der prägt und den ich mitnehme. Bilder, die ich nie vergesse, wie ich auch ihre Wirkung auf mich nie vergesse.

Man kann es auch Magie nennen. Das ist den meisten Filmschaffenden in der Blockbuster-Industrie (die sich übrigens markant von der übrigen Filmindustrie unterscheidet) inzwischen ein Fremdwort. Ob nun unfähige Regisseure, schlechte Drehbücher, omnipotente Produzenten, gegen die sich Kreative nicht durchsetzen können: Sie arbeiten nur noch selten an Geschichten, die Tricktechnik erfordert – Cameron ist so einer – sondern an Produkten und im schlimmsten Fall an Franchises.

Nein. Das macht mir keinen Spaß.

Gegen den Begriff Homo-Ehe

Das Wort macht keinen Spaß: Homo-Ehe. Es zeigt in kürzester Weise, dass nicht alles gleich ist. Denn wenn eine Ehe nun zwischen Hetero- oder Homosexuellen geschlossen wird,  sollte sie einfach „Ehe“ heißen. Begrifflich und inhaltlich unterschiedslos – schließlich tendieren Unterschiede in diesem Zusammenhang zur Wertung. Solange eine Ehe unter Homosexuellen nur mit dem Zusatz „Homo-“ auskommt, ist sie nichts weiter als eine Variation einer Norm, die woanders liegt.

Glücklich sollte man damit also keinesfalls sein; auch nicht, wenn das Karlsruher Bundesverfassungsgericht urteilte, dass die Ungleichbehandlung zwischen Ehen und eingetragenen Lebenspartnerschaften verfassungswidrig ist. Und auch nicht, obwohl nun in den USA der Supreme Court sein maßstäbesetzendes Urteil sprach, das gleichgeschlechtliche Ehen in den USA sowohl verfassungsgemäß macht und damit in allen US-Staaten zur Pflicht macht. Auch der Volksentscheid zur gleichgeschlechtlichen Ehe in Irland sei nicht vergessen.

Erfolge, zweifellos. Und wichtige, maßgebliche Schritte zu mehr Gleichberechtigung ebenso. Doch es bleibt, gerade hierzulande, politisch viel zu tun und aufzuholen.

Vor allem aber kommt es nun auch auf die Beseitigung der letzten Reste an, und die sind auch sprachlicher sowie gedanklicher Natur. Der Konsens, dass Ehen Ehen sind, ganz gleich, ob sie Mann und Frau, Mann und Mann oder Frau und Frau schließen, muss sich in Folge manifestieren. Dazu gehört die Überwindung der mittlerweile zweifelhaften christlichen Ethik, die der deutschen Gesellschaft als maßgeblich immer nur dann untergejubelt wird, wenn Entwicklungen verhindert werden sollen.

Überhaupt ist die punktuelle Auslegung der christlichen Ethik seitens der Politik seit jeher äußerst bizarr:
Waffenlieferungen werden nicht unter dieser Prämisse diskutiert, ebenso wenig die Überschwemmung Afrikas mit billigen Lebensmitteln aus der EU. Auch die Praktiken von Bekleidungsketten, die in Billiglohnländern an Sklavenarbeit grenzende Ausbeutung betreiben, wird seitens der Politik nicht nach den Maßstäben eben jener christlichen Ethik diskutiert, die doch angeblich allgemeiner Konsens der deutschen Gesellschaft sind.

Nicht so beim Thema Ehe zwischen gleichgeschlechtlichen Partnern. Hier sollen – zumindest vordergründig bei CDU/CSU – jene Werte allgemein gültig sein. So kühn wie erstaunlich.

Dass auch die Institution Kirche ihr Scherflein dazu beiträgt, ist so selbstredend wie rückwärtsgerichtet. Überhaupt spielt sich Religion immer wieder als fortschrittsfeindlich auf. Alte Werte, so der Tenor, seien die eigentlichen Stärken der Gesellschaft, die nach religiöser Definition ausschließlich die Religion selbst schützt. Das Verängstigen der Menschen vor Veränderung ist Motor viele religiöser Strömungen, so auch jener christlichen Kirchen, die trotz Trennung von Staat und Kirche noch immer zu großes Gewicht in der Politik haben – ein Umstand, der endgültig beseitig gehört.
Weder Staat noch Gesellschaft sind dazu da, den Kirchen ihr kleingeistiges Weltbild zu retten, in dem es ihnen letztlich nur um eines geht: Ihre eigene Haut, ihr Ansehen, ihre Macht.

Wir brauchen weder Parteien noch die Kirchen, die hinter ihr stehen und ihren Vorteil darin sehen. Vollziehen wir den Wandel aus uns selbst – auch aus unserer Sprache und unserem Empfinden.
Beenden wir die Herrschaft des Begriffs Homo-Ehe und nennen jede Ehe zwischen welchen Geschlechtern auch immer einfach einheitlich Ehe. Und übertragen deren Wert auf alle derart geschlossenen Partnerschaften.
Die Wegstrecke liegt noch vor uns. Die müssen wir noch gehen.