Ich habe mein altes MacBook Pro von 2012 als Schreibwerkzeug wiederentdeckt. Da es keine Sicherheitsupdates mehr für das Betriebssystem gibt, lasse ich
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MoreWer schreibt, hat immer zu tun. Denn es gibt immer etwas zu schreiben. Das ist kein Zwang, sondern Leben. Ich weiß nicht,
MoreViel steckt in diesen Fugen. 30 Jahre meines Lebens haben sie gesehen, und man sieht es ihnen an. In ihnen steckte viel,
MoreIch habe mein altes MacBook Pro von 2012 als Schreibwerkzeug wiederentdeckt. Da es keine Sicherheitsupdates mehr für das Betriebssystem gibt, lasse ich ihn nicht mehr ins Internet und WLAN. Lange war er eine Art Musik-Server für mich, das iPad hat auch einige Arbeiten übernommen – dabei liebe ich das Schreiben auf dem MacBook sehr, es ist für mich besser als das Tippen auf dem iPad.
Außerdem: Man hat beim Schreiben Ruhe. Kein Internet, keine Ablenkung, kein Mal-eben-Schauen. Dafür müsste ich auf den Nachfolger des MacBooks ausweichen, ein Mac Mini, den ich mit einer geliebten mechanischen Tastatur benutze.
Nun steht es also wieder häufig auf meinem Schreibtisch, mein altes MacBook, und ich freue mich darüber. Ein Gerät nur zum Schreiben und sonst nichts – das ist so gesehen Luxus in einer Zeit der All-in-One-Geräte.
Wie beim Schreiben mit der Hand bin ich beim Schreiben auf dem MacBook ganz für mich, das hat Charme. Natürlich könnte ich beim Mac Mini oder anderen Geräten einfach das WLAN deaktivieren und wäre auch ganz für mich – aber ein eigenes Gerät nur zum Schreiben zu haben hat etwas Charmantes an sich.
Ja, Texte speichere ich auf einem Stick, damit sie auf den neuen kommen – ja, ein Umweg, aber ein kleiner. Und einer, der sich lohnt, wie finde.
Ich liebe seine Tastatur, weil sie sich anfühlt, als sei sie nur für mich gemacht worden. Genau der richtige Anschlag, die richtige Höhe, die richtige Größe. Inzwischen schreibe ich viel auf dem alten Gerät, und es fühlt sich wunderbar an.
Schön.
Twitter und ich: Das war anfangs eine erfolgreiche Liebesgeschichte. Als es damals losging herrschte Aufbruchsstimmung. Man wollte Neues entdecken, Menschen kennenlernen, neue Möglichkeiten erkunden. Twitter war zum Start ein toller Ort. Mir brachte er viele Follower und ich glaubte eine Zeitlang, dass es meine Berufung werden könnte, das zu werden, was man heute Influencer nennt.
Das ist lange her. Inzwischen heißt Twitter X und hat einen Besitzer, den man nicht hassen sollte, weil Hass dumpf ist, und man sollte sich selbst sagen, dass man sich für Hass zu schade sei. Aber man kann ihn verachten.
Ein schrecklicher digitaler Ort war Twitter allerdings schon vor ihm. Nur: Er ist schrecklicher geworden. Und auch wenn ich schon seit Jahren meinen Bezug zu dem, was aus Twitter wurde, verloren hatte, hielt ich es lange Zeit für richtig, nicht klein beizugeben.
Ich verglich Twitter mit einem realen Ort in einer Stadt, der nach und nach weiter zur Müllhalde wurde. Lange Zeit meinte ich, es sei besser, dem Ort nicht ganz den Rücken zu kehren, denn wenn man Orte den falschen Menschen überlässt, verliert man diese Orte auf ewig.
Gegangen bin ich letztlich dennoch. Damit habe ich gegen meinen Ansatz verstoßen, Orte nicht freiwillig zu räumen, aber ich musste erkennen, dass es längst zu spät war. Noch immer tummeln sich dort gute Menschen, halten dagegen, zeigen Präsenz, bemühen sich. Letztlich aber diente mir das selbst auch als Ausrede, nicht klein beigeben zu müssen. Mein Beharren war bequemer als der entscheidende Schritt fort von dort.
Nun, da ich keinen Account mehr auf X, wie Twitter nun heißt, besitze, fühle ich mich tatsächlich besser und befreit. Ich ließ mich immer wieder dazu verleiten, dem Hass und Stumpfsinn zu folgen, der dort normaler Alltag geworden ist – und es regte mich auf, diesen Hass und Stumpfsinn zu sehen.
Womit ich wieder beim Hass bin, und warum ich der Ansicht bin, man solle sich für Hass zu schade sein: Hass ist keine Auszeichnung. Hass ist dumm, weil er allen die ominöse Erlaubnis gibt, die guten Sitten fahren zu lassen, die fadenscheinige Ausrede, warum man nun ein anderer Mensch wird, der alles Gute, alles Vernünftige fahren lässt, in der Annahme, Hass sei das einzige Mittel.
Denn ich bleibe dabei: Nein, das ist er nicht. Hass ist nicht die Lösung, Hass ist nie die Lösung. Hass ist das Ende der Zivilisiertheit, und je mehr wir uns selbst an Hass gewöhnen, umso mehr Zivilisiertheit geben wir von uns selbst ab. Wir verlieren sie nicht, sondern geben sie bereitwillig selbst ab, und als Mensch sollten wir uns sagen: Nein, ich lasse mich nicht dazu verleiten, nein, ich behalte meinen Charakter, bleibe zivilisiert.
Twitter aka X ist für mich nun also Geschichte, und siehe da: Abgesehen davon, dass ich mit meinen Posts dort ohnehin nichts und niemand mehr erreichte, weil meine Karawane längst weitergezogen war und ich wie in eine leere Halle hineinrief, findet in meinem Leben weniger Hass statt.
Der Ort in der Stadt, den ich mir stets vorgestellt habe, ist eine Müllhalde geworden, die krank macht. Und trotz all jener, die dort noch immer ernsthaft und vernünftig publizieren, ist dieser Ort genau der heruntergekommene, kaputte Ort, den man in Städten meidet, weil man weiß, dass man dort nichts Gutes mehr findet.
Twitter aka X ist für mich Geschichte und verachte den Eigentümer, verachte die dumpfen, lärmenden Pausenhofschläger, die dieses einstmals so schöne und blühende Stadtviertel für ihre Prügeleien, Streitereien und Auseinandersetzungen nutzen und damit zerstört haben.
Ich habe lange gehadert, und so stolz ich immer darauf war, mich nicht vertreiben lassen zu wollen, bin ich heilfroh darüber, es hinter mir gelassen zu haben.
Den offenen Bücherschrank nutze ich oft, um dort alte Bücher abzugeben.
Eigentlich sind es zwei Bücherschränke in der Nähe. Es ist ein gutes Gefühl, zu wissen, dass man den eigenen Büchern damit ein zweites Leben schenken kann – und anderen die Möglichkeit, interessante Bücher zu lesen, die sie sich vielleicht selbst nicht leistet könnten. Für mich haben Bücherschränke deshalb eine soziale Dimension, denn sie sind soziale Projekte und Begegnungsorte mit Mensch und Literatur.
Mich von Büchern zu trennen, fiel mir schon immer schwer. In meiner ersten Wohnung lagerte ich kistenweise in meinem Kellerraum ab. Beim Umzug entschied ich schließlich: Sie müssen fort.
Hätte ich niemals ein Buch abgegeben, hätte ich inzwischen, was ich mir immer erträumt habe: Eine eigene Bibliothek, mit vor Büchern überquellenden Regalen. Natürlich wären viele zweifelhafter Qualität darunter. Viele Romane, die ich mir schon als Schüler als preisreduzierte Mängelexemplare nach Hause schleppte. Doch es wären auch sehr viele interessante Titel darunter, heute manchmal gar wahre Schätze – genau das hat mich oft dazu bewogen, auch Fachliteratur aus dem Studium oder verschwenderische Gesamtausgaben zu verkaufen, zu teils enormen Preisen (die dreibändige Sammlung aller Gedichte von Theodor Fontane der Großen Brandenburger Ausgabe beispielsweise, deren Verkauf mir damals viel einbrachte, mich aber heute noch zur Verzweiflung treibt).
Und doch weinte und weine ich jedem einzelnen Buch noch heute hinterher. Einige habe ich inzwischen sogar antiquarisch wieder angeschafft.
Bücher sind für mich Liebe, eben gerade dann, wenn sie gedruckt sind. Diese Liebe empfinde ich eBooks gegenüber nicht, auch wenn ich sie sowohl kaufe als auch lese.
An den Bücherschränken habe ich einige Male bemerkt, wie sich Menschen auf die Titel stürzten, die ich dort abgelegt habe. Wenigstens das war jedes Mal ein gutes Gefühl. Da ist Interesse, Wertschätzung, sowohl an Thema, als auch an dem Buch als Medium.
Wenn ich sehe, wie sehr die Bücher dort Freude verbreiten, freut mich das besonders. Und so wandern immer wieder Bücher dorthin.
Aber nicht nur die: Ich gebe auch Magazine dort ab, denn auch für sie habe ich eine Schwäche. Thematisch ist es breit, die Magazine sind teils aufwendig und so teuer wie gängige Taschenbücher. Was ich an Text und Gestaltung, Könnerschaft und Herzblut darin sehe, ist beachtlich – sie stehen Büchern meist in nichts nach. Deshalb sollten sie auch so behandelt werden. Vielleicht werden derlei Magazine eines Tages auch als Buch angesehen, verdient haben es viele Publikationen.
Einige von ihnen sammle ich und behalte sie entsprechend. Aber viele auch nicht. Es ist ein breites Spektrum, und ich habe die Hoffnung, dass es Menschen inspiriert, dass sie Titel kennenerlernen, die sie vorher nicht kannten. So ist der Bücherschrank eine stimmlose Empfehlungsplattform.
Auch alte Filme, vorwiegend auf DVD, landen dort und haben den gleichen Effekt.
Jedes Mal also, wenn ich mich schweren Herzens auf den Weg mache, um dort etwas abzugeben, kann ich mir sicher sein, dass es nutzbringend ist.
Ja, das macht glücklich.
Unkraut nennt der gelernte Fachjargon das, was da zwischen zwei Bodenplatten meines Balkons wächst. Unkraut deshalb, weil es dort wächst, wo es nicht wachsen soll.
Wir lernen: Ob eine Pflanze Unkraut ist oder nicht, ergibt sich aus dem Ort, an dem sie das Pech hat, zu wachsen. Wo bestimmt wird, dass sie dort nichts zu suchen habe, wird aus einer Pflanze also ein Unkraut, ein abwertendes Urteil.
Ist das nicht bedauerlich?
Ich habe nachgeschaut: Was da zwischen zwei Bodenplatten sprießt, nennt sich Ruprechtskraut oder Geranium Robertianum. Sie gehört zu den Storchschnabelgewächsen, Paracelsus hat sie als Heilpflanze beschrieben. Erste Aufzeichnungen gab es laut Wikipedia bereits im 13. Jahrhundert – damals wurde dieses „Unkraut“ zu medizinischen Zwecken in Gärten angebaut.
Was da nach eingängiger Meinung wächst, soll helfen gegen Frauenleiden, Zahnschmerzen, Prellungen, Fieber, Gicht, Nieren- oder Lungenleiden, Herpes und Nasenbluten. Auf Wikipedia ist weiterhin zu lesen:
Der Aufguss von der Pflanze wurde als Stärkungsmittel eingesetzt und galt auch als wirksam gegen Durchfall. Auf Wunden aufgelegt sagt man ihm antiseptische Wirkung nach. Aufgrund des eigenartigen Geruchs der zerriebenen Blätter wird es auch als mückenabwehrende Pflanze angesehen.
Daher, meine Damen und Herren, bitte: DAS soll ein Unkraut sein?
Diese Pflanze da, die ich nun nachdrücklich nicht als Unkraut bezeichnen möchte, lasse ich wachsen, zwischen zwei Bodenplatten meines Balkons. Denn sie ist wertvoll – und sie sieht gut dort aus mit ihren kleinen Rosa Blüten. Woher kommt die Versessenheit auf das Ordnungsprinzip durchgehender Stein– und Betonflächen?
Ich freue mich über dieses unvorhergesehene Sprießen von Natur, die mein Leben eindeutig mehr bereichert als stört. Übrigens ist dieses eine Ruprechtskraut nicht allein auf meinem Balkon, denn ich habe weitere Geschwister entdeckt.
Was ich dazu sage? Schön! Kommt nur alle her.
Wir können aus diesem Beispiel lernen: Gängige Muster der Abwertungen sollten wir uns sparen, denn sie sagen mehr über uns selbst aus als über das Objekt der Abwertung.
Oberflächliche Betrachtung führt zu falschen Schlüssen. Ein Kennenlernen und Schätzenlernen findet nicht statt.
Und mehr noch: Man verkennt, von welcher Fülle man umgeben ist, wieviel Gutes, Schönes und Vernünftiges in der Welt ist, das wir allzu gern bereit sind, aus Unkenntnis und Unlust zu vergiften – und damit auch uns selbst.
Früher war mein Schreibort festgelegt: Der Schreibtisch.
Schließlich standen dort zunächst meine laute mechanische Schreibmaschine und später mein PC. Wir gut, dass diese Begrenzungen dank Laptop oder Tablet schon längst aufgehoben sind. Und wie schön, dass ich das Schreiben mit der Hand wiederentdeckt habe.
Samstagmorgen, 9 Uhr. Die Morgensonne scheint auf meinen Balkon. Seit Jahren ist er ein dicht bewachsenes Biotop mitten in der Stadt, eine kleine grüne Lunge jenseits der Balkontür.
Geschrieben habe ich bereits am Frühstückstisch bei einem großen Kaffee, in Stille eines Morgens, an dem alle noch schlafen.
Nun sitze ich in der Sonne, sie scheint morgens und abends auf meinen Balkon, da ist das Licht ohnehin am Schönsten.
Schreiben auf dem Balkon ist aber nicht so einfach bei all der Natur um mich herum, die ich sehen, ansehen, erleben möchte. Es freut mich einfach, hier zu sitzen und mir anzuschauen, was da teils in Dreierreihe wächst und blüht. Mit selbst gestehe ich wenig Platz zu, es reichen ein kleiner Tisch und ein Stuhl inmitten einer grünen Oase.
Ich bilde mir ein, dass die Texte, die ich hier schreibe, anders sind als jene, die ich nicht hier schreibe. Wer weiß.
Dass mir das Schreiben und die Natur und auf meinem Balkon guttun, ist indes unbestreitbar. Ich liebe diesen Schreibort!
Älterwerden und Altwerden sind glücklicherweise zwei verschiedene Zustände. Dennoch kommt es vor, dass ich mich frage: Werde ich alt? Nicht wegen körperlicher Gebrechen oder Vergesslichkeit, sondern wegen Verhaltensweisen, dir mir, als Älterwerdender, wie die eines Altwerdenden vorkommen.
Eine dieser schrulligen Verhaltensweisen, die sich mir angeheftet haben, ist das interessierte Durchblättern der kostenlosen Wochenendzeitung. Vor ewigen Jahren habe ich sie selbst eine Weile lang ausgetragen. Ich war durch meinen damaligen Wohnort gewandert und hatte fremden Menschen das in ihre Briefkästen gestopft, was im Fachjargon allen Ernstes „Werbeträger“ heißt – also gedrucktes Drumherum, um darin Werbeprospekte zu versenken. Damals war ich erstaunt, dass manche Leute schon in ihren geöffneten Fenstern lagen, weil sie so sehr darauf gewartet hatten. Es gab manche, die sich bei mir beschwerten, dass ich so spät kam. Ein Mensch beschwerte sich sogar bei der Firma über mich. Ich käme erst am Vormittag, dabei vermisste man das Blättchen bereits zum Frühstück.
Ich fragte mich damals, was diese Menschen nur an diesen kostenlosen Werbeträger-Blättchen finden mochten.
Nun bin ich selbst einer geworden, der sie Woche für Woche durchblättert. Immerhin vermisse ich sie nicht morgens, manchmal ist sie erst Sonntag da statt Samstag, und das ist mir noch immer egal. Aber wenn sie da ist, blättere ich sie aufmerksam durch, lese gar manche Beiträge.
Was ist bloß mit mir los?
Vielleicht einfach gar nichts oder vielleicht eine Menge.
Früher habe ich diese Druckerzeugnisse respektive Werbeträger mit dem Aufkleber „Keine kostenlose Werbung und kostenlosen Zeitungen“ abgewehrt. Bis die Hausverwaltung entschied, uns allen der schöneren Optik wegen einheitliche Aufkleber zu verpassen – auf denen lediglich „Keine kostenlose Werbung“ stand. Fortan also hatte sich das kostenlose Zeitungswerbeträgerding in meinen Briefkasten und somit in mein Leben geschoben. Nach dem Motto „Wenn sie schon da ist, kann ich auch reinschauen“ muss es irgendwann passiert sein: Gewöhnung setzte ein. Ich mutmaße, das es der gleiche Impuls so vieler Leute sein könnte, abends einfach den Fernseher einzuschalten, um „fernzusehen“ . Und wie stehe ich zu den kostenlosen Wochenendblättchen?
Ich habe mich gefragt, ob sie in den letzten Jahren möglicherweise besser geworden sind – so finde ich zuverlässig Artikel über Orte in der nahen und weiteren Region, die ich anschließend besuchen möchte.
Auch ist mir das ein und andere Mal eine Veranstaltung in der Stadt begegnet, die ich sonst verpasst hätte.
Mit diesem sonst so geschmähten Medium hat sich also ein praktischer Nutzen verknüpft. Hatte ich früher einfach keinen Sinn dafür, dass ich all das übersehen habe? War ich früher einfach zu jung dafür – als Antithese zur Frage, ob ich nun stattdessen alt werde? Und wenn dem so wäre: Ist das wöchentliche interessierte Blättern in diesen Wochenendzeitungen dann doch nur eine beruhigende Kombination aus positiv besetztem Älterwerden und dem damit verbundenen weiteren Blick auf Welt und Umwelt?
Wer weiß – ich denke, letztlich ist das alles nicht so wichtig. Schließlich mischt sich bei derlei Überlegungen schnell ein Meinungs-Cocktail aus verschiedenen Instant-Zutaten zusammen, die gemeinsam keinen guten Drink ergeben. Es stehen uns nämlich Vorurteile, Werturteile, Meinungen, Ansichten, Befürchtungen ebenso im Weg wie auf der anderen Seite Wünsche, Ziele, Ambitionen. All das zusammengerührt kann man Ego nennen, und das sehen nicht nur die Buddhisten als nicht objektiv, sogar als schädlich kritisch.
Auch dieses Wochenende habe ich mich also dem Printerzeugnis gewidmet und fühlte mich ganz gut damit.
Womit doch alles gesagt und entschieden ist.
Ich weiß nicht, wie mein Leben gewesen wäre, hätte ich es ab dem Jahr 1982 oder 83 in Kamen-Methler gelebt. Aber ich dachte erstmals darüber nach, als ich kürzlich auf einer Reise mit dem Zug dort hielt. Fast nämlich wäre es so gekommen. In der Schule dort war ich bereits angemeldet. Angeblich, so sagte mir damals meine Mutter, freuten sich die Jungen der Klasse auf mich, denn es gab dort mehr Mädchen.
Ich finde es nicht eigenartig, 40 Jahre später darüber nachzudenken. In dem Moment nämlich, in dem mein Zug dort hielt, war alles so präsent, dass die Jahrzehnte nur irgendwelche Zahlen waren.
Natürlich ist alles Spekulation eines über 50-Jährigen, der sich einen möglichen Lebensweg seines 11- oder 12-jährigen Ichs vorstellt. Was immer ich mir vorstelle, geht von meinem heutigen Kenntnisstand meines wirklich gelebten Lebens aus. Alles, was im Leben nicht erfreulich verlief, gerät sofort auf die Liste „Was mir erspart worden wäre“. Eigenartig, dass erst später die Liste „Was mir alles entgangen wäre“ wichtig wurde.
Kamen-Methler. Eigenartig, dass wir seit damals immer Kamen-Methler sagen anstatt Kamen. In anderen Städten sagt man auch nicht automatisch den Ortsteil. Ich habe in Osnabrück gewohnt, in Hamm, in Waldbronn, in Karlsruhe. Nie spielte der Ortsteil je eine Rolle. Nie haben wir gesagt, in Osnabrück-Eversburg zu wohnen oder in Hamm-Süden, Waldbronn-Busenbach oder Karlsruhe Südstadt.
Bei Kamen-Methler schon. Vielleicht ist das der Grund der genauen Erinnerung. Die Spezifizierung als Trigger eines Neubeginns, der letztlich zum Beinahe-Neubeginn geworden war.
Wären wir wirklich dorthin gezogen, wäre es mir leichter gefallen als 1985, als wir letztlich nach Hamm zogen. Kamen-Methler war fortan fast vor der Haustür, aber Kamen bin ich nur auf der Autobahn oder im Ikea nahegekommen. Methler habe ich seither niemals wieder betreten.
1982 oder 83 wäre mir der Wechsel zwar nicht willkommen gewesen, aber es wäre in Ordnung gegangen. Ich war noch nicht so gefestigt in Osnabrück, obwohl ich diese Stadt immer so geliebt habe. Ich wäre ein 11- oder 12-jähriger Junge gewesen, der in einen anderen Ort gezogen wäre. Ein Neubeginn wäre nicht einmal ein Neubeginn gewesen, sondern ein Weitermachen unter anderen Vorzeichen. Dass man mich angeblich auf mich freute, hatte es mir einfach gemacht. Es kann gut sein, dass man mir es damals nur gesagt hatte, um mir den Wechsel zu erleichtern. Heute will ich gar nicht wissen, ob dem so war. Wahrscheinlich könnte sich meine Mutter auch gar nicht mehr daran erinnern.
Was wäre aus mir geworden? Schwer zu sagen. Ob ich nach der Realschule dort auch weiter aufs Gymnasium gegangen wäre wie in Wirklichkeit, kann ich nur spekulieren. Schon damals habe ich ständig Geschichten geschrieben, arbeitete an einem Science-Fiction-Roman, dessen handschriftliches Original ich tatsächlich noch besitze. Er blieb unvollendet. Nach einem gewissen Kapitel hatte ich keine Lust mehr, und heute kann ich nicht mehr sagen, wie er hätte weitergehen sollen.
Dass ich mit dem Schreiben in Kamen-Methler aufgehört hätte, kann ich mir nicht vorstellen. Meine Stärke in der Schule ist immer Deutsch gewesen. Das wäre auch dort nicht anders gewesen. Es ist also nicht unwahrscheinlich, dass ich auch dort aufs Gymnasium gegangen wäre, später wie in meinem wirklichen Leben an die Uni. Die Anlagen dessen, was mich heute noch ausmacht, waren damals schon ausgeprägt genug, dass ich sie guten Gewissens prägend nennen kann.
Auch kann ich sagen, was ganz sicher nie passiert wäre: Ich wäre nie in einen Fußballverein gegangen und hätte mich nie für Autos interessiert. Das weiß ich, weil mein Desinteresse daran schon damals ausgesprochen klar war.
Aber hätte ich nicht doch eine Lehre begonnen, weil ich „weg von zu Hause wollte“ oder weil sich eine tolle Gelegenheit bot? Und würde ich noch in der Nähe wohnen?
Mit dem Zug am Gleis stehend, fotografierte ich die Anzeigetafel im Zug, auf der Kamen-Methler stand. Ich fragte meine Mutter später, ob unsere Beinahe-Wohnung in der Nähe eines Gleises lag, doch sie entsprach meiner eigenen Erinnerung: Nein.
Wie kommt es aber, dass Kamen-Methler noch derart präsent sein kann? Weil es so unglaublich knapp gewesen war. Wir hatten bereits eine Wohnung dort. Sie war bereits tapeziert, die Tapete meines Zimmers hatte ich mir selbst ausgesucht. Ich hatte in dem tapezierten Zimmer gestanden und mich gefragt, wo meine Möbel stehen sollten. Das Einzige, was noch gefehlt hatte, war der eigentliche Umzug. Die Trennung meiner Mutter von ihrem damaligen Lebensgefährten kam buchstäblich in letzter Sekunde. Gedanklich hatte ich mich damals bereits ganz auf mein Leben in Kamen-Methler eingestellt.
Ich bin neugierig, was ich über Methler finden mag, und erlebe einige Überraschungen: Methler hat einen eigenen Wikipedia-Eintrag. Darin ist zu lesen: „Die erste urkundliche Erwähnung des Namens Methler geht auf eine Schenkungsurkunde vom 11. April 898 zurück“ – Donnerwetter. Und es geht noch weiter: „Die Bodenfunde in Westick, einem germanischen Handelsplatz mit hohem Anteil römischen Fundmaterials, weisen aber auf weitaus ältere Besiedelung im Bereich Methler hin.“ Im Hammer Museum kann man sich Funde ansehen. 2006 wurde im Zuge der Fußball-Weltmeisterschaft die spanische Mannschaft in Kamen-Methler untergebracht.
Überall gibt es Geschichten, meine eigene hat einen anderen Verlauf genommen. Meine Geschichte ging bis 1985 in Osnabrück weiter. Wen ich kennengelernt hätte, wessen Freund ich geworden wäre – und ob ich vielleicht sogar bis heute mit mindestens einer dieser Menschen befreundet wäre – wer weiß. Eines jedoch ist klar: Meine Geschichte wäre vollkommen anders verlaufen. Ich hätte andere Erfahrungen gemacht und gewisse Erfahrungen, die mich auszeichnen, dafür nicht. Ich wäre eine Version von mir geworden, die mit mir Heutigem nur die Anlagen gemeinsam hätte.
Kamen-Methler war und ist ein bedeutsamer Abzweig in meinem Leben. So vieles wäre anders geworden, als es jetzt ist. Sich damit zu befassen, ist inspirierend. Es erlaubt einen Blick auf Möglichkeiten und mein eigenes Leben.
Es ist erstaunlich: Während meines Zugstopps sah ich so gut wie nichts. Aber der Name an der Anzeigetafel und später auch auf den Schildern am Gleis öffneten eine Tür zu einer Vergangenheit, die 40 oder 41 Jahre zurückliegt. Das ging ganz schnell. Die Tür öffnete sich, und etwas sagte mir „Schau hin.“ Das Nachsinnen über damals, darüber, wie knapp das Ganze war, und welches Leben ich hätte führen können, dauern indes länger.
Was soll dieses Nachdenken über derart ungelegte Eier? Es zeigt die Mechanik des Erinnerns, denn wie schon erwähnt, war zuerst die Liste mit all den Dingen präsent, die mir erspart geblieben wären. Ist das nicht seltsam, und ist das nicht eine Art von Sehnsuchtsort, den sich nur der ersehnt, der mit dem eigenen Leben unzufrieden ist?
Tatsächlich nicht. Auch diese Erkenntnis gehört zum Nachdenken dazu, und ich bin froh, dass es mich zu ihr geführt hat. Als ich 1985 letztlich nach Hamm zog, war es schwer für mich. Mit 14 hatte ich einen festen Freundeskreis und wollte niemals aus Osnabrück weg und ganz sicher nicht jemals nach Hamm ziehen. Aber Hamm war gut zu mir. Natürlich war die erste Zeit dort schwer, aber schnell schlug ich Wurzeln dort – eine große Hilfe: Mein Schreiben. Es machte mich unabhängig, und genau das war es, was ich damals gebraucht habe. Die Freunde stellten sich ein, ich erlebte großartige Zeiten in Hamm, und nein, ich möchte es nicht missen. Tatsächlich habe ich dort Freunde gefunden, die es bis heute geblieben sind. Meine Geschichte ist auch so gut geworden, und auch wenn es Schwierigkeiten, Niederlagen oder Rückschläge gab, bin ich mit meiner Geschichte ganz zufrieden.
Aber über alternative Welt– und Lebensläufe nachzudenken, auch die eigenen, finde ich einfach interessant. Und warum sollte ich damit fertig sein? Wenn ich die damalige Geschichte schon nicht beginnen konnte, kann ich sie mir jetzt einfach ausmalen. Und dafür habe ich viele bunte Stifte.
Fast hätte Twitter mich in die Flucht geschlagen. Wieder einmal. Wieder einmal nur fast.
Dabei habe ich kürzlich gepostet: Ich gebe meinen Twitter-Account auf. Ich sei dafür bei Mastodon.
Nach der Ankündigung fühlte ich mich befreit. Twitter ist Last und Problem. Das war schon vor dem Irrsinn von Elon Musk so. Es gibt für mich viele Gründe, Twitter entnervt zu verlassen.
Zu viele extreme Menschen sind dort. Zu viel Agitation, Wut und Empörung gegen alles und jeden.
Zu viel Unsinn. Zu viel Überflüssiges. Twitter hat mich seit 2009 gelehrt, Ironie kaum noch zu ertragen, weil es dort für meinen Geschmack Überhand nimmt.
Aber ja: Mir fehlen auch Zeit und Lust. Das für mich Interessante von dem für mich Uninteressanten zu trennen, finde ich auf Dauer anstrengend. Ich möchte nicht ständig präsent sein oder anderen bei ihrem Präsentsein verfolgen.
Ich poste kaum noch Privates, weil ich Privates inzwischen entweder lieber für mich behalte oder auf anderen Kanälen anders mitteile.
Wir haben uns entfremdet, Twitter und ich. So war es mir genug – wieder einmal. Und wieder einmal kommen mir Zweifel, je näher der Tag rückt.
Warum? Die Motive ändern sich. Zuletzt fühlte ich mich endgültig davon abgestoßen, dass Elon Musk die Reichweite zahlender Kunden gegenüber nichtzahlenden erhöht – und dabei vor allem Rechte bevorzugt hat. Es war das Tröpfchen, das mein Fass zum Überlaufen brachte. Nicht in Wut oder Verzweiflung. Sondern aus Resignation und Protest. Ich wollte in diesem Umfeld nicht mehr sein.
Warum werde ich nun doch nicht gehen? Aus Protest. Nicht, weil ich glaube, ich hätte wundervolle Inhalte. Sondern weil ich mir sonst selbst sagen müsste, vor Rechten, Wahnsinnigen und Pöblern, aber auch den ganzen Dauerempörten aus allen Ecken zu kuschen. Ihnen einfach ihre Spielwiese zu überlassen, wollen sie doch nur. Endlich wären sie unter sich.
Solche Milieus freut es, wenn sie denken, gesiegt zu haben. Sie beglückwünschen und bestärken sich. Dieses Feld haben sie eingenommen, okay, welches reißen wir uns als nächstes unter den Nagel? Die anderen gehen ja einfach. Damit lässt man Brunnenvergifter weiter Brunnen vergiften.
Ich bin daher zum Schluss gekommen: Ich denke nicht daran, das Feld zu räumen. Zumal es eine Menge anderer Menschen gibt, denen ich folge und sie mir, die wie ich darüber klagen können, dass immer mehr Leute aufgeben. Denen ich gerne folge, deren Inhalte mich interessieren. Denn es gab und gibt dort Tolles!
Aufgeben? Nein, ich denke nicht daran. Ich ziehe lieber meine Ankündigung zurück als mich vertreiben zu lassen. Mehr noch: Ich habe mir nun sogar vorgenommen, Twitter stärker zu nutzen. Meine Themen dort zu erweitern. Schon aus reinem Trotz. Aber auch, um die vergifteten Brunnen mit anderen Inhalten zu verdünnen, die nichts mit dem ganzen Unfug zu tun haben, vor dem ich fast geflohen wäre
Ich werde auch Mastodon entsprechend bespielen. Und man findet mich weiterhin bei Twitter.
Auf geht’s!
Da liegt wieder einer dieser Romane, die man schon wegen ihres Umfangs als Epos bezeichnen muss: 1000 Seiten und mehr sind eine Hausnummer für sich. So begeistert ich mich ihnen auch zuwende, so abgeschreckt bin ich von ihnen. Ich kann mich auf kein einziges von ihnen freuen und freue mich dann letztlich doch über sie, wenn sie mir gefallen. Manchmal ärgern sie mich auch.
Das zeigt: Zu 1000-Seitern habe ich eine innige Hassliebe. Je nach Buch überwiegt das eine oder das andere. Diese Ambivalnz hat verschiedene Gründe.
Gerade die US-amerikanischen Autorinnen und Autoren haben vielen erzählen. Das sollte man ihnen im deutschen Literaturbetrieb oft neiden: Hierzulande ist man lieber karg unterwegs, einen Roman aus Deutschland von mehr als 400, sogar 500 Seiten bekommt man selten zu Gesicht.
In den USA hingegen kann man offenbar kaum genug von diesen dicken Werken bekommen.
Das hat zahlreiche beeindruckende Roman hervorgebracht, was man von Deutschland nicht behaupten kann.
In Amerika wird gerne mit beiden Händen in den Erzähltopf gegriffen und reichlich Wort auf überlebensgroße Leinwände geschleudert. Das ist eine Freude am Erzählen, die ich in deutschsprachigen Werken vermisse, und das fast ohne Ausnahme. In Amerika scheint man gern immer noch Neues, noch Weiteres hinzufügen zu wollen. Hierzulande hingegen ist man hauptsächlich damit beschäftigt, nicht absolut zwingende Worte zu streichen, um das Ganze so knapp wie möglich zu halten.
Nun liegt also wieder eines dieser US-amerikanischen Ungetüme auf meinem Tisch. Mehr als 1000 Seiten recht dünn bedruckte Fabulierkunst, nah am und im Leben, wundervoll, beeindruckend. Und es kommt wieder einmal, wie bei mir kommen muss:
1000 Seiten, auch die wundervollsten, haben für mich einen Haken. Sie binden mich wochenlang. Wer Bücher in sich hineinfrisst und 300 Seiten in einer Nacht und 1000 locker nach Feierabend in einer Woche inklusive Wochenende schafft, ist da mir gegenüber im Vorteil.
Ich bin für dieses Netflixen von Romanen nicht geschaffen. Dafür lese zu langsam und lege zu häufig das Buch an die Seite. 200 Seiten am Tag sind für mich zwar nichts Besonderes, aber alltäglich ist es für mich auch nicht.
Damit wird ein derartiger Ziegelstein eines 1000-Seiten-Romans für mich eine Beschäftigung für Wochen. So gerne ich auch in diese Welten eintauche, fühle ich mich dabei jedoch zu sehr von einem Roman in Beschlag genommen. Und so sehr ich Erzählung, Geschichte und Sprache auch genießen mag, wird es mir zwischen Seite 300 und 400 für gewöhnlich zu viel. Ich mache dann eine Pause, um auch andere Dinge zu lesen: Sachbücher aus verschiedenen Themengebieten vor allem, aber manchmal mogelt sich auch ein kleiner, leichter Roman dazwischen.
Anschließend kann ich wieder entspannt und interessiert zum 1000-Seite zurückkehren und ihn mit Genuss zu Ende lesen.
Natürlich gibt es Ausreißer, sowohl zum Guten wie zum Schlechten.
Es gibt die 1000-Seiten-Schmöker, die ich nicht pausieren kann oder will. Das ist für mich jedes Mal ein Glücksfall, den ich sehr zu schätzen weiß.
Und es gibt die Monumentalbücher, bei denen ich mich schon ab Seite 100 langweile und bereits bei 50 Seiten weiß, dass wir keine Freunde werden. Das sind dann solche Bücher, in denen mir alles nur künstlich aufgeblasen scheint, um auf möglichst viel Umfang zu kommen. Sie lesen sich für mich zäh und interessieren mich schnell nicht mehr. Da fallen mir leider viele Bücher aus dem phantastischen Genre ein …
Von meinem aktuellen 1000-Seiten-Wälzer kann ich das glücklicherweise nicht behaupten: „Der Distelfink“ von Donna Tart ist einfach wundervoll – obwohl ich mich erst einlesen musste. Sprachlich auf höchstem Niveau, erzählt es so literarisch wie unterhaltsam eine Geschichte, die mich begeistert und eine Story, die mich wirklich interessiert.
Die Pause zwischen Seite 300 und 400 schlug bei mir aber auch hier zu. Ich las drei Wochen mehrere Bücher über Sachthemen und eine japanische Novelle. Nun bin ich aber wieder bereit, in die Welt des Distelfinks zurückzukehren. Und wenn es läuft wie immer, lese ich es von nun an auch ohne weitere Unterbrechungen zu Ende.
Was aussieht wie Abfall, waren einmal Originale meiner Texte. Viele meiner Texte schreibe ich zunächst per Hand mit Füller oder Bleistift auf Papier. Erst anschließend tippe ich sie ab. Dabei übernehme ich sie meist ohne Änderungen. Das Schreiben mit der Hand ist für mich etwas Besonderes. Es ist ein langsameres Schreiben. Tempo und Verwertbarkeit spielen dabei keine Rolle. Dafür konzentriere ich mich auf die Schrift selbst. Jahrzehntelang habe ich sie immer weiter verlernt, bis mir der Verlust aufgefallen war, den es bedeutete. Eine eigene Handschrift nicht mehr lesen zu können, kam mir seltsam vor, schließlich kam sie doch von mir. Ich hatte das Gefühl, dass da eine Verbindung unterbrochen war.
Seit Jahren schreibe ich wieder viel mit der Hand. Einerseits ist sie lesbar geworden, andererseits sogar richtig gut – wenn ich mich besonders anstrenge.
Das ist ein nennenswerter Fortschritt, den ich nie erlangt hätte, wenn ich wie all die Jahre zuvor ausschließlich auf der Tastatur geschrieben hätte.
Schrift im Allgemeinen und Handschrift im Besonderen ist vor allem eine Kulturtechnik – in einer Welt voller Technik ist die Gewichtung auf Kultur allein schon ein Wert an sich, den ich pflegen möchte.
Aber das Schreiben per Hand hat für mich noch eine andere Dimension, die sich im geschriebenen Text selbst zeigt:
Ich schreibe anders. Beim Tippen bin ich automatisch schneller mit Gedanken; und bereits schon im nächsten, während ich den vorherigen noch tippe.
Wenn ich mit einem Stift in der Hand über einem Blatt Papier am Schreibtisch sitze, arbeite ich insgesamt langsamer. Das ist eine gute Eigenschaft, wie ich finde. Ich gehe so weit zu sagen, dass sich meine Texte unterscheiden, wenn ich sie per Hand und auf der Tastatur geschrieben habe.
Das Handschreiben ist ein ganz besonderer Fokus. Es gibt besondere Themen, die ich in einer besonderen Stimmung nur mit der Hand schreiben möchte. Es fühlt sich anders an, es ist anders, es kommt manchmal etwas anderes dabei heraus. Das ist gut so.
Dass ich die handgeschriebenen Originale nicht aufbewahre, tut der Sache keinen Abbruch.
Die Verbindung vom Schreiben und dem Geschriebenen bleibt erhalten. Und darauf kommt es an.
Dieses Buch habe ich mir nicht ausgesucht. Es wurde mir zum Begräbnis meines Vaters geschenkt. Anfangs wusste ich nicht, was ich damit tun sollte. Ein Buch des Friedhofs? Ich hielt das für seltsam, ohne mir richtig klar zu sein, warum eigentlich. Nun ist es also schon ein halbes Jahr da und wartet darauf, einen Sinn zu bekommen.
Nun habe ich ihn gefunden.
Der Tod meines Vaters hat viel in mir ausgelöst – vor allem, weil ich an seinem Bett saß, während er starb. Es war das erste Mal, dass ich einen Menschen sterben sah. Auch das hatte ich nicht gewollt, doch schließlich ist geschehen.
War es schlimm?
Tatsächlich nicht – genau das macht es so denkwürdig.
Seitdem habe ich so Einiges über den Tod im Allgemeinen und sein Sterben im Besonderen geschrieben. Einiges davon wurden Gedichte, Haiku sowie Haiku-artige Texte, die sich nicht an das Silbenschema 5-7-5 halten.
Während ich sie über die letzten Monate schrieb, ist mir dieses Buch gar nicht eingefallen, das bei mir lag und dessen Nutzen mir nicht klar war.
Wegwerfen habe ich nicht übers Herz gebracht – es hat eine Aufgabe, einen Sinn. Ein Buch über den Tod achtlos zu entsorgen, kam und kommt mir nicht richtig vor.
Dann wurde mir klar: Dieses Buch hat nur dann eine Aufgabe, wenn es zum Träger dieser Texte wird.
Also werde ich mich hinsetzen und sie handschriftlich übertragen – nicht alle auf einmal, sondern langsam eines nach dem anderen. Die Langsamkeit hat ihren Sinn in der Aufmerksamkeit, die ich dem Schreiben schenken möchte. Ich möchte nämlich so schön wie möglich schreiben.
Dafür muss ich noch ein wenig üben, denn klar ist: Was einmal darin geschrieben steht, bleibt darin. Jeder Fehler, Patzer und Aussetzer wird Teil dieses Buchs bleiben.
Ich möchte mir also alle Mühe geben.
Nein: Es gibt nie genug Wissen, das man sich aneignen kann. Die Welt ist dermaßen vielschichtig, dass sich ständige Aneignung von Wissen immer lohnt – auch und ganz besonders auch bei Themen, die nicht immer deckungsgleich zu eigenen Hobbies und Interessen sind. Den Schritt zur Seite, der Blick nach oben oder unten vervollständigt vielmehr das Verständnis von Welt und Umwelt.
Wie eignet man sich neues Wissen an? Das hat viel mit eigener Präferenz zu tun, aber auch damit, was man am besten verarbeiten kann.
Ich gebe zu: Bei mir sind und bleiben es Bücher und Zeitschriften. Nicht, weil ich so groß geworden bin (was ich bin), und auch nicht aus Liebe zu Gedrucktem (die ich habe). Sondern weil ich damit nachweislich am besten umgehen kann. Beim Lesen bin ich auf besondere Weise aufmerksam und lernfähig.
Das wird auf Dauer teuer, denn die meisten Titel kaufe ich mir selbst. Je nach Buch bevorzuge ich sogar die gedruckten Ausgaben, um mir mit Stift und Handschrift eigene Notizen zu machen. Das geht in eBooks natürlich auch. Aber für mich schrecklich unpraktisch. Doch es ist, wie es ist.
Ich bin ein Bücherfresser, und derzeit ganz besonders. Fast kann man sagen, ich atme sie ein – fast alles Sachbücher übrigens. Romane haben da zunächst Sendepause, und es wird noch eine Weile so bleiben.
Es gibt es so viel zu wissen, und ich WILL es wissen! Am Wochenende las ich ein Buch, in den Tagen davor ein anderes, nun steht das nächste auf der Agenda. Gekauft habe ich mir allein in zwei Wochen fünf Bücher – als eBook.
Man könnte sagen, ich habe ja ordentlich zu tun. Das stimmt. Und ja: Das ist gut so.
Wer schreibt, hat immer zu tun. Denn es gibt immer etwas zu schreiben. Das ist kein Zwang, sondern Leben. Ich weiß nicht, wie es ist, nicht zu schreiben. So wie Entrepreneure für ihr Start-up leben und Gründer für ihr Business leben, gehe ich schreibend durch mein Leben. Das macht einsam? Keineswegs. Es macht mich glücklich.
Vieles von dem, was ich schreibe, bekommt niemand zu sehen. Es kommt auf Sichtbarkeit auch gar nicht an. Es geht darum, am schreiben zu bleiben. Sich hinzusetzen und es zu tun. Nicht, weil es da ist, sondern weil es getan werden muss.
Schreiben ist handeln, schreiben ist arbeiten. Auch für das Private, für die Schublade, für den Mülleimer. Denn am Ende steht immer etwas, was gelesen wird, das den Weg all dessen genommen hat, das niemand lesen wird.
Also komme ich nach einem Tag voller schreiben heim und schreibe. Irgendwie, irgendwas.
Und diesmal entstehen Texte, die bald alle kommen werden.
„Ich bin für etwas da.“ Sagt man sich manchmal ganz gerne, wenn es darum geht, sich sich selbst zu vergewissern. An diesem Punkt ist diese Methode aber auch schon zu ihrer größten Entfaltung gekommen. Das ist unterm Strich eher wenig. Denn was wollen wir uns oder anderen damit sagen? Dass ich ein Talent habe? Eine Bestimmung? Gar die Pflicht, mein Talent meiner Bestimmung gemäß zur Entfaltung zu bringen?
Alter Falter, lassen wir den doch besser auf seinem Zweig sitzen und schütteln uns.
Habe ich Talent? Ja, ich denke schon. Ist es das Talent zum Schreiben? Möglich – aber kommt es darauf an? Fakt ist: Seit 20 Jahren bin im schreibenden Beruf. Seit ich elf Jahre bin, schreibe ich Geschichten und Bücher. Da darf ich eher von Erfahrung sprechen statt von Muse, Begabung oder Talent.
Mozart hatte Talent, als er keine vier Jahre alt war. Ab dann konnt er’s, vermutlich besser als die meisten, was möglicherweise auch mit seinem Talent zu tun hatte – aber Talent wozu überhaupt? Zur Musik oder zur Mathematik, zu Methodik, Harmonielehre? Vielleicht bestand sein Talent mehr darin, aufmerksamer und lernwilliger gewesen zu sein als andere und damit schneller Fertigkeiten erlernt zu haben, die ihn schon früh über jedes Maß hinaushoben. Verbunden mit frühen Erfolgserlebnissen, die ihn dazu brachten, kontinuierlich am Ball zu bleiben, eine entsprechend frühe, permanente Erziehung durch sein musisches Umfeld und durch ständiges Üben immer besser zu werden, entwickelte sich dieser Mensch zu dem Meister, der er schließlich wurde.
Was ich damit sagen will: Ich weiß nicht, ob es Mozarts Bestimmung war, erst Wunderkind der Musik und dann einer der größten Komponisten der Musikgeschichte zu werden.
Die Tatsache, was er wurde, hat eben auch viel mit seinem Umfeld, mit Förderung, Übung und der Gabe zu tun, Erlerntes anzuwenden. Welche weltbewegenden Torten hätte er also kreiert und gefertigt, wenn er in einer Konditorenfamilie hineingeboren worden wäre?
Die Aussage „Ist bin für etwas da“ ist an sich leer und damit wertlos. Dass man dafür da ist, was man beruflich tut oder was einen erfüllt, ist nur so dahingesagt.
Wer weiß schon, was passiert wäre, wenn andere Verhältnisse geherrscht hätten. Wäre ich ein „begnadeter“ Mechaniker oder ein „passionierter“ Physiker geworden, wenn die Dinge anders gelaufen wären?
Habe ich also ein Talent zum Schreiben, oder ist mein Schreiben anderen Tatsachen zu verdanken, die nichts mit Talent, Gabe, Begabung zu tun haben?
Bleibt am Ende gar nichts weiter als die Kombination aus Auffassung, Prägung, Übung, Praxis und Erfahrung?
Ich weiß es nicht. Und wenn ich ehrlich bin, ist es auch völlig nebensächlich.
Heute ist Vatertag 2022. Hätten wir diesen Tag wie immer auch diesmal ignoriert, wenn du noch leben würdest? Nun, da du 3,5 Monate tot bist, denke ich zum ersten Mal daran, dass heute Vatertag ist. Wir haben an diesem Tag nie telefoniert. Haben uns nicht gesehen. Selbst eine Nachricht hat es nicht gegeben. Du fandest diesen Tag immer albern und ich war ganz froh darüber. Es war ein Feiertag, an dem man frei hatte und fertig.
Als ich dich einmal aus Jux anrief und „Alles Gute zum Vatertag“ ins Telefon trällerte, hast du mich lachend gefragt, ob ich „noch alle auf der Latte“ hätte.
Der Spaß war gut.
Abgesehen davon ist es uns vor einiger Zeit ergangen wie manchen Paaren in langjährigen Beziehungen: Wir haben uns auseinandergelebt. Das war für beide nicht schön, aber hätten wir es ändern können? In den letzten Jahren hat sich eine Leerstelle in unser beider Leben geschwiegen, die wir bewusst nicht wahrnahmen. Manchmal keimte noch das auf, was vor Jahren verloren ging, aber gleichzeitig auch die Erkenntnis, dass da ein Zug abgefahren war, warum auch immer.
Doch nun, da der Vatertag ohne Vater da ist, halte ich inne. Es fühlt sich seltsam an.
Der Tod kam immer schneller und schließlich plötzlicher, als wir alle ahnten. Wir hatten keine Zeit mehr für klärende Gespräche. Ich saß an deinem Bett und war bei dir, als du starbst.
Das merkwürdige Schweigen zwischen uns schweigt seitdem. Dafür tönt die Frage, wie es so weit hat kommen können. Wir haben bis zum Schluss gesprochen, doch alle Worte glühten wie ein Ereignishorizont um ein Schwarzes Loch, das nur du deuten konntest, wenn überhaupt.
Habe ich all die Fragen gestellt, die nötig gewesen wären? Hättest du all die Antworten geben wollen, auf die ich gewartet habe? Hättest du sie selbst gehabt?
Wer weiß.
Seitdem frage ich mich viele Dinge und weiß doch auch, dass es zu spät ist.
Wieder halte ich inne. Denn diese beiden Worte dröhnen: Zu spät.
Würdest du heute noch leben und wärst nicht so krank geworden, hätten wir diesen Tag wie immer vorbeiziehen lassen.
Würdest du heute mit deiner Krankheit noch leben: Ich hätte angerufen. Hätte sorgsam das Wort Vatertag vermieden, aber ich hätte angerufen, denn es war ja klar: Der Krebst würde dich bald umbringen. In solchen Zeiten überspringt man die Kluft, die trennt.
Aber ich rufe dich heute nicht an. Der Krebs hat dich geholt, am Valentinstag, ausgerechnet.
Deine Handynummer ist noch eingespeichert, und riefe ich an, träfe sie auf …
Heute ist also Vatertag 2022. Wenn du noch leben würdest, hätten wir diesen Tag nicht wie immer ignoriert. Du hättest dich gefreut über meinen Anruf.
Für den es nun zu spät ist. So ist heute ein besonderer Vatertag. Vermutlich der erste von vielen.
Die Welt unter ihm ist klein. Ängstlich sieht er hinab, wo sie stehen und zu ihm hinauf rufen: „Mach schon!“
Er will nicht, er kann nicht, aber es nicht zu tun wäre zu peinlich.
Sie blicken zu ihm hoch, dem die Kehle trocken ist und die Luft zum Atmen fehlt, der im Wind hier oben friert, und der nur eines will: umkehren.
„Nun mach schon!“ rufen sie wieder. Es ist doch nicht schwer. Sagen sie da unten.
Für ihn aber schon. Und er schämt sich dafür.
„Los jetzt! Nun mach endlich!“
Warum sind sie nicht einfach still, seine Freunde, die ihm dabei zusehen, wie er ängstlich am Rand des 10-Meter-Bretts steht, wo der Wind pfeift und die Welt schrecklich überschaubar ist. Um ihnen zu beweisen, kein Feigling zu sein, ist er entschlossen den Sprungturm hinauf geklettert, um eigentlich vom 5-Meter-Bett zu springen – doch es war voll, hinter ihm hat ihn die ungeduldige Schlange weiter hinaufgedrängt, am geschlossenen 7-Meter-Brett vorbei, als ihm immer schwindelig wurde und der Beton am Fuße der nassen Stahlleiter mit jedem Zentimeter an Härte gewann.
Nun blickt er auf das Becken herab – eine Unendlichkeit unter ihm, nichts weiter als ein kleines blaues Quadrat, um das die Massen tosen und Neugierige darauf warten, wie die Mutigen sich aus großer Höhe hinabstürzen. Augen wie Speere sind auf ihn gerichtet. Jenseits des Kreises der Neugierigen macht jeder, was er will. Da wird geplantscht und gebadet, getaucht und vom Beckenrand geplumpst, und über die Wiesen ringsum liegen sie in der Sonne, tollen, lesen, schlafen, kuscheln und knutschen.
Die Welt ist klein und unwirklich von hier oben, er kann das Dach des Supermarktes sehen, in dem sie immer einkaufen. Wie gern würde er jetzt aus dem Ford steigen, in dem ihm so oft schlecht wird und sich so schnell übergeben muss, weshalb seine Eltern immer Plastiktüten dabei haben, und sein Vater sagt „Ich versteh das nicht, du bist der einzige Junge, der Autofahren nicht verträgt“, doch jetzt würde er lieber gegen den Würgereiz kämpfen oder mit flauem Gefühl auf dem Parkplatz des Supermarktes stehen statt mit seiner Angst.
Jemand nimmt Anlauf, jagt an ihm vorbei und springt hinab, als würde ihn einen halben Meter tiefer ein großes weiches Kissen auffangen.
Staunend sieht er seinem endlosen Fallen zu und wartet Ewigkeiten auf das erlösende Klatschen des Wassers. Gischt und Jubel branden herauf.
„Jetzt mach doch endlich!“ ruft Martin. „Es ist doch nichts dabei!“
Nichts dabei wie Fußball spielen. Das kann jeder Junge, das macht jedem normalen Jungen Spaß. Den Vätern und deren Vätern hat es Spaß gemacht, sie sitzen vorm Fernseher und rufen, wie schön der Pass oder wie schlecht die Vorgabe war. „Gib ab! Gib ab!“ brüllen sie, nur er weiß nicht, an wen und warum, obwohl er es wissen soll, und hin und wieder zieht sein Vater oder ein Nachbar ihn bei einem Fußballspiel im Fernsehen aufs Sofa und sagt: „Guck doch zu, das ist ein tolles Spiel!“
Dabei wäre er lieber in seinem Zimmer oder auf einem anderen Planeten oder sonst wo.
„Du Pfeife, geh an die Seite“, ruft jemand hinter ihm, und er erschrickt. Der blonde Junge ist riesig, größer als sein Vater, und das 2 Meter breite Betonbrett erzittert unter jedem seiner donnernden Schritte.
Im Taumel ergreift er das Geländer an der Seite, das nass und kalt ist trotz der Sonne, die Vibration der Schritte erfasst seine Hände, es ist, als sei das Geländer nur aus Draht und wird gleich nachgeben, aus dem Brett brechen und er hinterher fallen und schließlich auf den Betonplatten des Bodens aufschlagen, auf dem Spritzwasser und nasse Fußabdrücke verdampfen, das Zittern geht ihm durch Mark und Bein, dann stürzt sich der Blonde die hundert Meter tiefen zehn Meter hinunter.
Er weicht zurück. Ganz hinten kann er die Schule sehen, deren graue Wände in der Hitze flirren, das Fenster des Chemieraums blitzt aus der Ferne. Er braucht fast eine halbe Stunde dorthin von daheim, es ist ein weiter Weg, jetzt scheint sie nur ein Steinwurf entfernt.
Ihm ist kalt, seine Haare richten sich auf, dass seine Arme und Beine aussehen wie mit Hühnerhaut bezogen. Es ist ihm egal, was die anderen sagen, er muss fort, als wäre er im Wohnzimmer bei einem Fußballspiel oder säße hinten im Auto, während seine Übelkeit hinaufgurgelt.
Sollen Martin und die anderen doch lachen und morgen in der Schule erzählen, wie feige er hier war – er würde das Gefühl, ein Idiot zu sein, hinunterschlucken, die grinsenden Gesichter ertragen und hoffen, dass in zwei Tagen niemand mehr darüber spricht.
Sie reden ohnehin genug: darüber, dass er so lange kein Fahrrad fahren konnte, sie haben dabei gestanden und gelacht, als er mit seinem Gleichgewicht rang, sein Vater „Mach schon, fahr einfach!“ rief und auch, als er letztlich doch wieder daran gescheitert war, sich auf dem Rad zu halten. Martin und Frederik standen da schon mit ihren neuen Rädern, und sein Vater schaute ihn einfach nur an. „Wovor hast du eigentlich immer Angst?“
Er wusste es nicht.
Die Radfahrübungen sind noch heute einen Lacher wert, obwohl es schon Jahre her ist – er kann also nicht anders, er muss springen, allen Mut zusammennehmen.
Doch alles scheint zu wackeln, denn da jagt erneut jemand an ihm vorbei und stürzt ins blaue Wasserquadrat, nur er selbst kann es noch immer nicht, er ist nicht wie die Großen, die sich ohnehin wundern, warum so ein kleiner Knirps hier oben steht, der noch weit davon entfernt ist, eine Freundin zu haben und der den Großen in der Schlange am Kiosk nur Platz und Zeit raubt.
Er geht zur Leiter – und sieht mit Schrecken viele Jungen und Männer, die nach oben wollen, die sich an dem nassen Metall festhalten und ihn zweifelnd ansehen. „Was soll das denn?“ ruft einer. „Hier geht’s nicht runter!“
„Ich muss runter“, wimmert er. „Ich muss hier runter.“
„Nein, das geht nicht! Glaubst du etwa, wir gehen jetzt alle wegen dir zurück?“
„Hast du Schiss oder was?“ höhnt ein anderer.
Er nickt nur.
„Das hättest du dir vorher überlegen sollen“, meint der andere. „Jetzt ist es zu spät. Mach, dass du runterspringst.“
Ihm steigen Tränen in die Augen. „Lasst mich runter“, die Silben brechen hervor wie aus Eis, und der Wind greift nach ihnen und trägt sie fort, ehe sie jemand richtig hört.
Alle sehen zu ihm hinauf, klammern sich an der Stiege fest, weiter unten rumort Gerede, was denn da oben los sei, und unterhalb der Treppe stehen sie auch schon Schlange.
Niemand wird ihn gehen lassen. „Man kann sich nicht immer alles aussuchen“, das sind diese Sprüche, für die man Väter hasst, wegen denen man Vätern aus dem Weg geht, die einfach immer nur Dinge sagen, um einem ein schlechtes Gefühl zu geben. Mütter sind da anders. Die sagen „Ist schon gut“, die führen einen fort oder lassen einen gehen, aber Väter stehen immer nur da wie eine Mauer, Blick und Tonfall fordernd. „Mach schon.“ Feigling. Versager. Spring gefälligst. Jeder Tag ist ein Sprung ins kalte Wasser, man darf sich nicht so anstellen.
Heute Abend wird gegrillt, und da wird Martin verraten, dass er sich nicht getraut habe. Wieder einmal. Seine Mutter wird sagen, dass das auch vernünftig war – aber seltsam ist es schon: Oft wenn die Mütter sagen, man sei vernünftig gewesen oder „es ist schon gut“, schwingt da eine Frequenz mit, legt sich ein Schatten in die Gesichter, gibt es einen kurzen Blick zu den Vätern, wenn es heißt „Er ist halt so“.
Er muss springen. Er will den Triumph genießen, dem Blick seines Vaters standzuhalten, oder gar ein „Gut gemacht“ von ihm zu hören – mit ähnlichem Ernst, wie es Mütter sagen, man ein schönes Bild gemalt oder zu Weihnachten eine tolle Papierlaterne gebastelt.
Die Welt unter ihm ist nicht mehr klein, sie versinkt im Grau. Er dreht sich einfach um und geht an den Rand. Er sieht Martin, Frederik und die anderen, schickt ihnen allein mit dem Blick ein „Na wartet!“ nach unten, denn er wird sich trauen im Gegensatz zu ihnen, und während er das Bewusstsein genießt, besser und mutiger zu sein als sie je sein werden – denn sie hatten nicht den Mut hinaufzugehen – folgt er seinem Körper hinab, der einfach gesprungen ist.
Die Verblüffung lässt ihn sofort in seinen Körper zurückkehren. Sein Atem wird aus seiner Brust gepresst, seine Lider flattern. Er kann nichts sehen, obwohl er die Augen geöffnet hat. Der Wind zerrt an ihm, er pfeift brennend zwischen seinen Pobacken, bringt seine Badehose zum Flattern, als wolle er sie zerreißen, die Gedanken sind abgeschaltet, zu unwirklich ist der Sturz.
Er dauert ewig. Fünfzig Meter, hundert Meter. Da ist kein Vater, kein Martin und kein Benedikt, kein Rufen und kein Schreien. Da ist nur Fallen und die Gewissheit, zu fallen. Endlos.
Dann explodiert die Welt.
Ein Schlagen löst das Pfeifen ab, dann ein Rauschen, als bräche die Erdkruste auseinander. Rauschen und Gurgeln, überall, ohrenbetäubend.
Er wird verschlungen, taucht immer weiter, und dann, als das pfeilschnelle Sinken ein Ende hat, trudelt er in einem Kosmos von Luftblasen, die in jeden Winkel seines Körpers krabbeln, zwischen seinen Haaren ebenso kitzeln wie in seiner Hose. Es sind Millionen kleiner Tierchen, die seine Haut bevölkern, für Sekundenbruchteile Kolonien gründen und sich blitzartig wieder auflösen, um in wahllosen Gruppen oder einzeln an die Oberfläche zu trudeln und ihn mit nach oben tragen, ohne dass er etwas tun muss.
Schließlich speit die Tiefe ihn aus und die Sonne hat ihn wieder. Das Wasser um ihn schäumt und brodelt, es drängt über den Beckenrand zu den Füßen der Neugierigen. Da hört er Jubel. Er wischt sich das Wasser aus den Augen, während der Schmerz seiner Fußsohlen in ihm hinaufklettert, und sieht alle Augen auf sich gerichtet. Auch Martin und Frederik stehen da, daneben Julia und Christine, die zum Beckenrand kommen, und er weiß, dass niemand von ihnen sich das getraut hätte, was er soeben gewagt hat.
Er und Feigling? Er und unentschlossen? Während er zum Beckenrand schwimmt, sieht er seinen Vater vor sich, einen „Gut gemacht“-Blick, aber auch das Erstaunen, dass sein Sohn sich Erstaunliches getraut hat. Angst? Er? Vor was? Ich bin gut. Ich bin klasse! Ich bin der einzige in der Klasse, der je vom 10-Meter-Brett gesprungen ist, das machen immer nur die Großen. Und bei jeder passenden Gelegenheit kann er sagen – oder sagen lassen! – dass er es wirklich getan hat.
Ab sofort ist er nicht mehr der komische Junge, der sich in sein Zimmer zurückzieht und irgendwas Seltsames macht, sondern er ist der Junge, der sich ENTSCHLOSSEN hat, in sein Zimmer zu gehen, weil er es WILL.
Er greift nach dem Beckenrand und sieht den Sprungturm hinauf. Unglaublich, diese Höhe! Da oben hat er eben gestanden.
Beseelt steigt er aus dem Wasser, er sieht die verdutzten Blicke der Leute, die sich nicht vorstellen können, dass ein Junge mit elf Jahren von so weit oben gesprungen ist. Schließlich stehen Martin und die anderen neben ihm. Martin sieht ihn an, für eine Sekunde ist Schweigen. Zwei Sekunden, drei. Je länger das Schweigen dauert, umso größer wird der Erfolg. „Hat ja lang genug gedauert“, sagt Martin da. „Hattest du Schiss oder was?“
Er kann nicht antworten.
„Mann“, beginnt Frederik, „da raufgehen und runterspringen ist doch wirklich kein Ding. Du hast den ganzen Verkehr aufgehalten.“
Tonlos starrt er Christine an, die keine Mine verzieht. „Warst du feige, oder was?“ fragt sie.
„Das ist echt hoch“, rieselt wie Kies aus seinem Mund. „Und rutschig.“
„Die haben voll rumgemault, weil du da oben nur rumgestanden hast“, sagt Martin. „Das ist doch voll peinlich.“
„Die waren echt total sauer“, meint Christine.
Schlagartig sieht er seinen Vater vor sich, eine Mauer der Enttäuschung, der ihn heute Abend beim Grillen fragen wird, warum er nicht an die anderen Leute gedacht hat. Dass er immer nur in der Gegend herumträumt. Und warum er überhaupt hochgeklettert sei. Er kann ihn regelrecht hören, wie er sagen wird „Hast du es so nötig, vor anderen Leuten anzugeben?“ Warum wird dir im Auto immer schlecht, warum sitzt du immer in deinem Zimmer, warum kannst du nicht so gut rechnen oder Ballwerfen wie malen, warum kletterst du da hoch und machst dich zum Affen? Wann fängst du endlich an, über dich hinauszuwachsen?
Die vier sehen ihn an, dem die Kehle trocken ist und die Luft zum Atmen fehlt, der im Wind hier unten friert, und der nur eines will: umkehren. Nach Hause, in sein Zimmer. Oder einfach auf dem Weg nach Hause mit dem Fahrrad rechts abbiegen und durch die Gegend fahren, allein. Ganz egal.
„Wir wollen uns ein Eis holen“, sagt Martin. „Los, lasst uns gehen.“
„Aber“, meint Frederik grinsend, „mach schneller als da oben.“
Auf Eis hat er eigentlich keine Lust mehr. Aber jetzt nach Hause zu fahren wäre noch viel peinlicher als nicht von oben zu springen. So setzt er sich in Bewegung.
Und folgt.
Müde hebt der Hund den Kopf, sonst wäre er ihm nie aufgefallen. Er wäre einfach auf die Straße gegangen, deren eigentümlicher Geruch ihn gefangen nahm wie die fremden Laute dieser fremden Stadt. Nicht nur die Stadt ist ihm fremd, auch das Land, die Sprache, all das, was man Kultur nennt. Da ist diese Mischung aus Neugier und freudiger Erwartung, hinter jeder Straßenecke Neues zu entdecken, und der Furcht, vor dem Neuen zu erschrecken. Er fürchtet, hier viel Abstoßendes zu finden und sofort sagt er sich, so nicht denken zu dürfen. Es ist eines gebildeten Westlers nicht würdig, auf diese Gegend herabzublicken, wie auch auf all die anderen Gegenden der Erde, die sich ähnlich zeigen wie dieser lärmende, von ungewohnten Gerüchen getragene Fleck. Nichts, was er an Sprache hört, ist ihm vertraut. Dabei klingt sie harmonisch, doch kann er wissen, ob jemand über Eheprobleme redet oder über den Sex von gestern oder über die Freude auf das Kino heute Abend?
All dies rumort und wimmelt schon länger, als er selbst auf der Erde ist, und es wird, so ist zu vermuten, noch so weitergehen, wenn er nicht mehr leben wird.
Er weiß genau, was er in Restaurants bestellen möchte, um das Besondere dieses Weltteils kennenzulernen und weiß auch, auf was er lieber verzichten möchte.
Wohin er seine Augen richten soll, erschließt sich ihm nicht, da ihm jedes Staubkorn fremd ist, wäre da nicht eben dieser Hund gewesen, der den Kopf hob. So beiläufig die Bewegung ist und so viele Köpfe ausgemergelter Straßenhunde sich hier auch in die Höhe recken mögen, so bedeutsam ist diese Bewegung für ihn. Es ist, als hebe das Monster von Loch Ness eines Morgens im Frühling, an dem der Tau noch an den kühlen Gräsern zittert, mit einem Mal den Kopf aus dem Wasser, einfach, um sich umzusehen und ihn die Frage stellen zu lassen: „Warum ich? Warum passiert es ausgerechnet mir, dass es sich zeigt und das Geheimnis seiner Existenz lüftet?“
So blickt er also hinüber zu dem Hund, der dort im Staub der Straße liegt und nichts weiter tut, als seinen Kopf gehoben zu haben und ihn anzublicken. Anders als die anderen Tiere hechelt er nicht, liegt einfach in der Sonne, als sei die Hitze und das Brennen nichts, was ihn belasten könnte. Auch aus der Entfernung von gut zwanzig Metern ist ersichtlich, dass der Hund nur Augen für ihn hat. Unter normalen Umständen hätte er den Glauben gehabt, der Hund habe zufällig seinen Kopf erhoben und ihn sind Auge gefasst. Oder dass der Hund lediglich in seine Richtung blickte, ohne ihn zur Kenntnis zu nehmen – doch er ist sich der Tatsache bewusst, dass der Hund, der keine Anstalten macht, sich aus dem Staub der Straße zu erheben, ihn, genau ihn und nur ihn anblickt, und dass er wegen ihm und nur wegen ihm den Kopf gehoben hat, als habe er gespürt, dass er auf die Straße tritt und es nun an der Zeit sei, Kontakt aufzunehmen.
Der Hund interessiert ihn. Kurz bleibt er stehen, um den Verkehr an sich vorbeiziehen zu lassen, lautes Geknatter eines Motorrades, so fremd und hell und laut und dröhnend, wie sie nur in Ländern wie diesen zu klingen scheinen, als seien sie hier aus anderen Dingen gemacht oder führen mit anderen Mitteln. Er hält sich das linke Ohr zu und merkt, wie er unter dem Lärm sein Gesicht verzieht, ohne den Hund auch nur für einen Moment aus dem Blick zu nehmen.
Der Hund ist der hässlichste Hund, den er jemals gesehen hat. Doch gleichzeitig ist da etwas anderes. Die Unterernährung, die die Körper aller Hunde hier ins Erschreckende auszehrt, verleiht dem Hund dort drüben Anmut, Würde, Ebenmaß. Das Fell, so schmutzig und verschlissen wie ein alter Sattel nach einem Reiterleben voller entbehrungsreicher Schlachten, wirkt wie angepasst an die dünnen Knochen der beiden Beine, die der Hund nach vorne streckt, in Majestät der Sphinx überlegen. Was einst Farbe war, ist nun ein Hort von Schmutz und Narben, die der Hund in stoischem Stolz wie Abzeichen trägt.
Er springt erschrocken einen Schritt zurück, als ein Fahrrad an ihm so nah vorbeischießt, dass er den Fahrtwind spürt und riecht, begleitet vom Fluchen des Fahrers, der sich nicht umdreht. So ist er froh, als er den Blick des Hundes wiederfindet, der seine Ohren nach vorn stellt wie eine Krone. Dann steht er vor ihm. Kaum, dass er zum Tier herunterblickt, geht er in die Knie. Der Blick von oben scheint ihm nicht adäquat, und so folgt der Blick des Hundes seinen Augen hinab, ohne dass der Schwanz sich regt.
Von Nahem sind die Augen ganz besonders. Ich habe auf dich gewartet, scheinen sie zu sagen, getragen von dem Wissen, dass es eines Tages so hat kommen müssen. Geduld liegt in ihnen wie in der ungefragten Frage, die sie stellen. Fast hört er eine Stimme in sich, so geschlechtslos wie deutlich, die dem Tier erwidert: Ich weiß.
Er hat nie einen Hund besessen und weiß nichts von der Ebene, die sich entfaltet zwischen Tier und Mensch, doch nun ist es ihm, als habe er diese Ebene nie verlassen und beuge sich zu einem alten Vertrauten nieder, der auf ihn gewartet hat.
Er kennt den Namen des Hundes nicht, doch das spielt keine Rolle. Der Blick in die Augen des Tiers genügt, die von außen betrachtet nichts anderes sind als die Augen eines beliebigen Hundes, dunkelbraun, fast schwarz, in ihren Spiegelungen kann er sich selbst erkennen, doch da ist mehr, und sie beide wissen es.
„Kommst du mit?“, fragt er den Hund, und der erhebt sich augenblicklich. War es der Tonfall, den der Hund verstanden hat, denn wer sollte hier seine Sprache sprechen, zudem zu einem Hund, den hier die meisten Köter nennen, weil er in ihren Augen nichts anderes tut als Essen zu stehlen, zu betteln und zu belästigen?
So steht er auf und macht sich auf den Weg mit dem Gefährten, der nicht von seiner rechten Seite weicht. Die Straßen werden schmal und eng, sobald man einmal von der Hauptstraße abbiegt, Häuser schmiegen und ducken sich, Eingänge gähnen wie müde Mythengestalten, schnell wird das Gewirr zur Stille, dass er nun hören kann, wie die Pfoten des Hundes neben ihm auf den Steinen tappen. Eigentlich hat er dem Tier etwas zu essen kaufen wollen, in einem der zahlreichen Geschäfte, die sich bunte Höhlen durch die Mauern geschlagen haben. Früchte überall, in allen Farben, es ist so überraschend, was es hier alles gibt, wo er zu Beginn seiner Reise noch darüber staunte, dass es hier so viel Gewohntes nicht zu kaufen gibt, als habe man davon noch nie gehört, was bei ihm Zuhause heimisch, üblich, nötig ist. Ein Land des Mangels, so dachte er noch, als er das Hotel verließ, wie hat es ihn nur in diesen Teil der Welt verschlagen können, doch entrollt sich immer mehr eine Welt der Überflusses und des Reichtums. Die Gerüche werden stärker, je weiter er scheinbar der Nase nach schlendert, spaziert, flaniert. Er ist nicht mehr der Businessmann, der morgen im Auftrag seiner Firma Termine in einem dieser Glashochhäuser mit ihren klimatisierten Räumen wahrnehmen muss und sich darüber ärgern wird, dass es darin zu kalt ist. Es ist immer so. Draußen will die Sonne die Welt verbrühen, seit Jahrtausenden leben diese Menschen hier schon mit dieser Hitze und all der Sonne, die unweit von Flüssen und Seen die Böden verdorrt, doch kaum haben Menschen anderer Breiten Klimaanlagen erfunden, kühlen sie ihre Räume herunter, als gälte es, Pinguine zu züchten.
Hier lebst du also, sagt er ohne Stimme dem Tier neben sich, und wie zur Antwort blickt es auf und blinzelt.
Als es still wird, bleibt er stehen. Kurz keimt Angst auf, denn wo ist er bloß und warum ist er überhaupt hierher gekommen? An diesem Ort befindet sich nichts außer ein paar lang verlassener Häuser. Ein schmaler Gang führt in eine enge Schlucht, in die, da ist er sicher, noch nie das Licht des Tages fiel. Der Boden ist seit jeher festgestampfte Erde. Kein Laut ist zu hören. Es ist, als habe sich eine Kuppel über sie gestülpt.
Hund und Mensch blicken sich an. Für den Hund ist es normal, hier zu sein. Nichts an seinem Auftreten zeugt von Wachsamkeit. Wo nur ist die ganze Stadt geblieben? Er schaut auf seine Schuhe herab, Lederschuhe, nicht gemacht für diese Gegend. Sie sind so staubig, dass er ihre Farbe nicht mehr erkennt. Staub besetzt seine Anzughose, die jede Eleganz verloren hat. „Sieh dir das an“, sagt er dem Tier, und es schaut ihn an, als wäre nichts dabei.
Er fragt sich, wann zuletzt ein Mensch hier vorbeikam, denn auf dem Boden finden sich weder Spuren von Reifen noch von Sohlen.
Der Hund legt sich nieder, erneut erscheint er wie eine Sphinx, den Blick in aller Ruhe auf die schmale Gasse vor ihnen gerichtet.
Er folgt dem Blick des Hundes und weiß: Keinen Fuß wird er in diese Gasse setzen. Vorstellungen beginnen zu gären, keine davon ist gut. „Ganz sicher nicht“, lässt er den Hund wissen. Es ist nicht gut, weiterzugehen, wenn sich der Weg vor einem so verengt. Außerdem macht es ihm Angst, wie dunkel dieser schnurgerade Gang ist, der irgendwo in Dunkelheit mündet.
Der Hund macht keine Anstalten, aufzustehen, und so setzt er sich im Schneidersitz zu dem Tier auf den Boden. In den Augen des Hundes funkelt Weisheit, die so alt ist wie die Menschen selbst. Das kann natürlich nicht sein, es ist ein Tier, sagt er sich. Doch er merkt, dass es die Wahrheit ist. Es ist kein Zufall, dass er den Hund traf – oder der Hund ihn, wer kann das sagen, und spielt das eine Rolle? Ab und zu huscht ein Lid über die Hundeaugen. Es ist das erste Mal, dass er das Gefühl hat, vollständig erkannt zu werden, jenseits aller Worte. Die Vertrautheit ist so absolut wie unhinterfragt. Er sitzt da im Wissen mit dem Tier im Staub, als würden sie sich seit Ewigkeiten kennen. Es ist anders als bei all den Menschen, denen er sich im Leben anvertraut hat oder sie sich ihm. Es ist kein Wollen, kein Treiben in diesem Blick. Stattdessen ruht da eine Harmonie im Blick, die nichts ausspricht und alles sagt.
Er streckt die Hand nach dem Tier aus und berührt seinen Kopf. Das staubige Fell ist weicher als gedacht, und der Hund sieht ihn an, lässt es ohne Scheu geschehen.
Schließlich legt er seine Hand an die Wange des Tiers, das daraufhin die Augen schließt und den Kopf in die geöffnete Hand schmiegt, als habe es darauf gewartet. Tief holt er Luft und stößt sie langsam wieder aus. „Ach Hund“, sagt er gerührt, mehr von dem, was in ihm aufkommt als von dem, was gerade geschieht. „Warum kenne ich dich?“, flüstert er. „Kenne ich dich?“
Nichts daran erscheint ihm seltsam, und er nimmt es hin, dass bislang ungenutzte Seile etwas aus der Tiefe seiner Seele heben, das er selbst nie erlebt hat und doch weiß, dass es zu ihm gehört.
Er fragt sich nicht, wie kann das sein? Im Geschehen selbst weiß er, dass es so ist.
Wir kannten uns einmal sehr gut, denkt er. Und umfasst den Kopf des Hundes zärtlich mit beiden Händen.
Und dann sitzt er im Taxi. Ein frischer Anzug, saubere Schuhe, seine Tasche mit den Unterlagen neben sich, die der Klimaanlage besser trotzt als er.
Er sieht den Fahrer im Profil, sieht die Stadt an sich vorüberziehen, blickt auf seine Uhr. In einer Stunde ist sein Geschäftstermin. Durch das Treiben draußen auf den Straßen suchen Streuner etwas zu Essen, werden verjagt. Sie leben ein Leben auf der Flucht vor Schlägen und Tritten und kämpfen täglich gegen Hunger. Finden sie etwas zu fressen, verschlingen sie es, beißen sich um kleine Brocken. Und erst jetzt beginnt er, über gestern nachzudenken.
Das Tier ist aufgestanden und ist wieder zurückgetrottet, ohne sich umzublicken, als wisse es, dass er ihm folgen wird. Es schien, als wollte ihn der Hund wieder zur Straße lotsen, auf der sie sich begegnet waren, und als die Autos und Räder zu hören und zu sehen waren, blieb der Hund stehen, blickte sich einmal kurz um, dann nahm er seinen Weg nach rechts in einen schmalen Gang und war verschwunden.
„Warte“, hat er dem Hund noch hinterhergerufen und nahm laufend einige Meter, um ihn noch einmal zu sehen – doch der Gang, in den das Tier verschwunden war, war nur ein Spalt in der Mauer, zu eng, um hindurchzupassen. Er sah nur Licht von der anderen Seite, unbestimmt und ohne Konturen. So blieb ihm nichts übrig, als auf die Straße zu treten und in sein Hotel zu gehen.
Als der Taxifahrer etwas ausruft, blickt er gedankenverloren hoch und muss sich ordnen. Er bittet um einen Moment, in dem er die Gedanken beiseite schieben und sich auf seinen Termin konzentrieren kann. Die Uhr tickt, und so greift er schließlich seine Tasche, zahlt und tritt in die Hitze hinaus.
Das Intermezzo war vorbei, und er konnte nicht mehr sicher sein, es überhaupt erlebt zu haben. Doch die Augen dieses Hundes: Er könnte schwören, er habe sie erkannt und sie ihn, als ginge es um ein Wiedersehen oder etwas anderes, wer weiß das schon? Doch jetzt ist nicht Zeit, darüber nachzudenken. Er konzentriert sich auf seine Aufgabe. Für alles andere hat er noch ein ganzes Leben Zeit.
Als meine Science-Fiction-Story Bleib bei mir in der Rubrik Futur III der April-Ausgabe 2020 von Spektrum der Wissenschaft erschien, war ich natürlich sehr froh und dankbar. Es war meine erste Magazin-Veröffentlichung überhaupt. Wer die Story lesen wollte, brauchte entweder das gedruckte Heft, die digitale Ausgabe oder einen kostenpflichtigen Zugang zu Spektrum.de.
Das ist inzwischen anders, denn seit einer Weile ist die komplette Story kostenlos und ohne jeden zusätzlichen Account frei lesbar.
Es freut mich, dass meine Story damit allen Interessenten offen steht. Da ich keine eigene, zusätzliche Veröffentlichung direkt im Blog plane, wird meine Story auch exklusiv bei Spektrum der Wissenschaft lesbar sein.
In der Rubrik Futur III veröffentlicht Spektrum der Wissenschaft in jeder monatlichen Ausgabe eine SF-Story – dabei wechseln sich Übersetzungen und Stories deutschsprachiger Autorinnen und Autoren ab. Viele der Stories stehen inzwischen komplett und kostenlos online zur Verfügung. Wer also SF aus Deutschland lesen möchte, wird hier fündig. Und findet auch meine SF-Story.
Science-Fiction-Story Bleib bei mir jetzt lesen.
Der Wind von Irgendwo von Anfang an lesen
Erst Kapitel 14 lesen
Die Corrin-Höhle kam immer näher. Die Gruppe der Zwölf bewegte sich auf das zu, was ihr Leben seit Generationen bestimmt hatte, und sie waren sich der Tragweite dessen bewusst, was sie taten.
Die Corrin-Höhle! Inbegriff einer Angst, die sich nie hatten erklären können, einer Angst, die nur mit der Existenz der Höhle selbst erklärt worden war.
Doch was erschafft eine Angst, die niemandem etwas antut, eine Angst vor einem nebulösen Etwas, das irgendwo in einem Teil des Gehirn pocht und nur in den Träumen auftaucht? Dieses Etwas, das über allem lag und in allem steckte und sie geißelte, das aber niemals in Erscheinung trat? Was war dieses Etwas? Und wenn es dieses Etwas gab, steckte es wirklich in der Höhle, und wenn, war es unbesiegbar? Dieses Etwas hatte sich über Generationen still verhalten, doch nun rief es zum Kampf.
Nun war die Zeit reif dafür.
Mark war entschlossen und überzeugt davon geblieben, dass Maraim sich mit dem, was in der Höhle lebte, verbündet hatte – mehr galt es nicht zu wissen. Mark würde gewappnet sein, und so empfand er als Einziger der Zwölf auch keine Furcht.
Die anderen elf hingegen hatten Dinge vor Augen, die ihre Vorstellungskraft an die Grenze führten. Sie stellten sich etwas vor, das mal über den Boden kroch, mal an der Decken hängend auf sie lauerte. Sie stellten sich den Höhleneingang als Maul vor und den Boden als Zunge. Es war mal bösartig, mal gefräßig. Mal sahen sie ein Wesen aus der Dunkelheit auf sie zu schnellen, das viele Köpfe besaß und folglich viele kleine Münder, allesamt mit Reißzähnen. Sie stellten sich Maraim vor, der dort lachend auf sie wartete, mal empfing er sie gastfreundlich und führte sie in die Höhle, nur um sie mit dieser List in ihr Verderben zu locken. In jedem Fall würde sie, da waren sie sicher, der Berg verschlingen.
Immer wieder betrachteten sie ihre mitgeführten Waffen und überlegten, wie sie diese gegen das Böse ins Feld führten. Sie stellten ich vor, Augen auszustechen, Schädel und Knochen zu brechen, Kopf und Glieder abzuschlagen.
Das Dorf war schon längst zu solch einem kleinen Punkt geschrumpft, dass sie keine einzelnen Häuser mehr ausmachen konnten bis auf das von Tirata. Den Frauenbaum erkannten sie nicht mehr, und einzelne Menschen hatten sie schon seit Stunden nicht mehr ausmachen können. Vielen von ihnen war, als röche die Luft hier anders und als raschelte das Laub nur zuvor gesehener Bäume und Büsche in neuem Klang.
Da blieb Mark kurz stehen und sah sich zu ihnen um. Sie schauten ihn an, und die Letzten schlossen zu ihm auf. Niemand wagte, etwas zu sagen, so dass es an Mark war, das Wort an sie zu richten: »Es ist nicht mehr weit.« Noch nie hatten sie Marks Stimme so entschlossen gehört. Der Tonfall ließ keinen Zweifel daran, dass sie alle weiter gehen würden. »Ich weiß nicht, was uns in der Höhle erwartet. Aber wir müssen bereit sein und wir werden das jetzt hinter uns bringen.«
Sie nickten stumm, denn Mark duldete keinen Widerspruch. Er sah jeden Einzelnen von ihnen an, und sie schöpften ein wenig Kraft daraus, denn Mark würde kämpfen für mindestens zwei von ihnen und sie mit all seiner Kraft verteidigen.
Gegen was auch immer.
So ging Mark erneut los und die anderen folgten ihm.
Der Wind spielte mit Jessicas Haaren, und alles Gras neigte sich mit hm.
Tirata ging voran, weiter den Berg hinauf zu dem, das Jessica die Sprache verschlagen sollte. Jeder Schritt spülte ihr Fragen in den Kopf, die sie gern gestellt hätte, doch der Berg ging so steil hinauf, dass ihr oft der Atem dazu fehlte .Außerdem hatte ihr Tirata nach den letzten Fragen nichts anderes erwidert als: »Warte ab, du wirst gleich schon sehen, und dann erzähle ich dir alles.«
Doch das war ihr nicht genug. All die Jahre, all die Generationen war niemandem in den Sinn gekommen, auch nur einen Schritt in Richtung völlige Wahrheit zu gehen und begnügte sich statt dessen mit dem Wenigen, was man wusste.
Aber nun, da sie alle mehr wussten als jemals zuvor, und Jessica der Wahrheit noch näher war als alle anderen im Dorf, konnte sie es nicht mehr abwarten und sah nicht ein, warum sie weiter warten sollte.
Tirata, die voraus ging, sprach in den wehenden Wind hinein: »Nein, wir gehen nur bis auf die Spitze, weiter nicht.«
»Aber was haben wir da oben?«
»Überblick. Mehr brauchst du auch gar nicht.«
So gingen sie weiter. »Müssen die anderen aus dem Dorf wirklich fortgehen?«
»Sie kommen doch von hier. Sie wollen nicht fort von hier. Sie wollen hier blieben.«
»Das können sie aber nicht so einfach, Kind.«
»Warum nicht?«
»Weil der Wind von Irgendwo sie woanders hin blasen wird.«
Jessica blieb stehen. »Aber warum tut er das? Warum hat er nicht woanders blasen können? Warum hat er uns alle nicht in Ruhe gelassen?«
Tirata drehte sich um und sah sie an. »Der Wind von Irgendwo lässt niemanden für alle Zeiten in Ruhe. Warum sollte er auch? Ohne ihn wären wir nicht hier, ohne ihn würden wir nicht leben. Er führte deine Eltern zusammen, er führte deine Großeltern zusammen, er ließ unsere Vorfahren das Dorf errichten. Ohne den Wind von Irgendwo wäre nichts so, wie es ist und wie es war. Ohne ihn könnte nichts und niemand existieren. Denn er ist das Leben auf der Welt, Kind, nichts anderes. Und ganz gleich, wie furchtbar er uns auch manchmal treffen mag, so ist es unumgänglich, dass er weht. Der Wind von Irgendwo ist der Schöpfer des Bestehenden, des Gewesenen und des Kommenden. Ohne ihn gäbe es kein Leben. Und diesem Leben müssen wir uns anpassen, also treibt er und manchmal fort von hier oder von dort, wo wir uns gerade befinden. Wie auch jetzt.«
»Aber warum dann hat er uns so viele Jahre in Ruhe gelassen?«
»Warum sollte er nicht?«
»Ich verstehe das nicht.«
»Da gibt es nichts zu verstehen. Er kommt und geht. Manchmal schnell und heftig und lange, dann wieder lange Zeit überhaupt nicht. Es ist der Lauf der Dinge.«
»Ist er der Lauf der Dinge?«
Tirata lächelte zufrieden. »Du bist den anderen um Vieles sehr voraus.«
»Aber wenn er uns vertreibt …«, und Jessicas Herz begann zu rasen und ihr Magen begann zu jucken ,»… hat er uns schon einmal vertrieben? Und wenn, dann von wo?«
Tirata drehte sich wieder um und sah zur Bergspitze hinauf. Dadurch verbarg sie ihre Tränen vor dem Kind, das nun allmählich die Dinge begriff. »Wir sind nur noch ein klein wenig entfernt von dem, was ich dir zeigen will. Es dauert nur noch ein paar Minuten, und du wirst es sehen.«
Und Jessica setzte sich in Bewegung, in begeisterter Hochstimmung, wissend, dass alles, was man immer geglaubt hatte, nun zusammenfiel und Lügen gestraft wurde.
Sie sahen die Corrin-Höhle bereits, und alles, was sie hörten, waren ihre eigenen Schritte. Niemand wagte mehr zu atmen, und auch Marks Herz begann zu rasen bei dem Anblick. Vor ihnen öffnete sich der Schlund in den Berg. Er war gewaltig: Höher als jedes Haus im Dorf, höher sogar, als hätte man zwei, drei Häuser aufeinander gestellt. So hoch wie der Frauenbaum, so hoch wie Bäume hinter Tiratas Haus und nahezu kreisrund. Umgeben von braunem Fels, verschwand das Tageslicht rasch im Dunkel. Umsäumt war der Eingang von Baum und allerlei Gestrüpp, und es war Mark, als kröche Kälte aus dem Innern des Berges.
Gerade wollte er weiter gehen, als er hinter sich ein Geräusch hörte und sich umblickte. Karul hatte seine Ausrüstung fallen lassen, und alle Blicke fielen auf ihn. In Karuls noch jungen Augen stand die nackte Angst. »Ich kann nicht«, stieß er aus. Sein Blick klebte an der Corrin-Höhle. »Ich kann das nicht.«
Mark war der Anblick eines derart geängstigten Mannes ebenso fremd wie den anderen, und Karuls Furcht übertrug sich auf die anderen, Mark spürte das Brodeln im eigenen Magen, und er sagte schnell: »Das ist in Ordnung, Karul«, um die Aufmerksamkeit auf sich zu richten. »Dann geh zurück, aber geh sofort und halt uns nicht länger auf.«
»Ich kann doch die Leute im Dorf … – ich kann sie nicht allein lassen, ich meine, was passiert, wenn wir nicht zurückkommen.«
»Wir werden nicht sterben«, sagte Mark mehr zu den anderen als zu Karul, der von einem Bein aufs andere trat. »Wir werden ein Geheimnis lüften.« Er nahm Karuls Sense vom Boden und streckte sie von sich. »Wir nehmen aber deine Waffen.« Er sah die Männer an, deren Anführer er geworden war. »Jeder nimmt sich, was er gebrauchen kann.« Und zu Karul gewandt: »Geh jetzt. Wir können dich zwar nicht entbehren, aber ein Mann, der so viel Angst hat, nützt uns nichts.«
»Ich warte hier auf euch«, stammelte Karul. »Ich lasse euch nicht zurück, und vielleicht kann ich euch noch helfen, wenn …«
»In Ordnung, Karul. Dann warte hier. Ihr anderen: Los, wir gehen.«
Mark setzte einen Schritt aus, als ihm die Größe bewusst wurde.
Sie wandten sich wieder um, und Mark erkannte in vielen Augen das unbändige Sehnen nach Flucht vor allem. Und so sagte er: »Wir müssen es sehen. Einmal der Angst ins Auge geblickt, ist sie später nicht mehr schlimm.« Und er sah auf die Corrin-Höhle zu seiner Linken: ein großes, dunkles Loch gezeichnet von Schwärze. Es sah schräg aus, und der Boden ragte weiter aus dem Berg heraus als die Decke. Nach dem, was er erkennen konnte, schien es gerade in den Berg zu gehen. Sein Herz pochte wild. Welch eine Herausforderung! Er konnte Einzelheiten erkennen, so zum Beispiel den Rand des Eingangs, der etwa dreimal so hoch war wie er selbst. Er sah grauen Felsen rund um die Höhle, manchmal nackt, manchmal mit Moos, Flechten und niedrigem Gras bewachsen. Das Loch war keineswegs rund, sondern es war unförmig; daher gemahnte es nicht an ein Maul oder einen Schlund, sondern tatsächlich wie ein Loch, das nicht für Menschen bestimmt war.
Mark schritt weiter darauf zu, und die anderem folgten ihm. In seinem Kopf spukten manchmal Bilder von Tsam, er hörte ihn lachen und sprechen, er hörte ihn hinter sich durch das Gras rennen. »Ich habe dich gleich!« rief Tsam.
»Du? Du bist lahm wie eine Schnecke!« Es war warm, und es ging kein Wind, selbst kaum, wenn man lief.
Mark hatte Tsam in einer Scheune mit Heu beworfen, so dass er darunter begraben worden war. Und dafür rächte sich Tsam nun und lief hinter Mark her, der vor ihm durch die Wiesen davonlief.
Plötzlich spürte Mark eine Stoß, und er fiel zu Boden. Tsam fiel auf ihn mit ganzem Gewicht, und sie lagen im Gras. Tsams Gesicht strahlte, seine Augen blitzten, und er zeigte die Pracht seiner weißen Zähne. »Ich habe dich eingeholt«, sagte er triumphierend. »Und jetzt kitzel ich dich durch.«
»O nein, nicht schon wieder!«
»Das ist die gerechte Strafe. Ich kitzel dich immer zur Strafe.«
»Wenn du mich noch einmal kitzelst, kenne ich dich nicht mehr.«
»Du wirst mich schon noch kennen, selbst wenn wir sterben und uns im Himmel über den Weg laufen.«
»Kitzelst du mich dann auch?«
»Wenn du böse bist, ja.«
»Ich will im Himmel nicht böse sein. Und ich will dich auch noch kennen.«
»Im Himmel?«
»Auch im Himmel.«
Tränen sammelten sich in Marks Augen, als die Bilder verblaßten, denn er wusste nicht mehr, wie es wirklich gewesen war. Er konnte sich nicht völlig erinnern, aber so ähnlich war es gewesen. Und er hatte viel, an das er sich erinnern konnte.
Tsam. Er war gegangen, war ertrunken im Bach, in dem sie oft geschwommen waren und gespielt hatten. Als sie kleiner gewesen waren, hatten sie im Schlamm gespielt und sich damit beworfen.
Und nun lag dieser Schlamm über ihm.
Tsam.
Wenn es einen Ort gab, an dem er sich rächen konnte, dann in der Höhle. Und wenn er sich auch nicht rächen konnte, so musste hier der Ort sein, an dem man sich wieder sah. Oder nachdem dieses Etwas in der Höhle ihn getötet hatte. Alles war ihm gleich. Ob er starb oder nicht. Er wollte Tsam. Für immer und ewig. Und sollte er auch zurückkehren und Sarah lieben lernen und sie zur Frau nehmen, so würde stets ein Loch klaffen, tief, erschreckend und immerwährend.
Dieses Loch würde sich auftun in manchen Nächten und ihn einsaugen und in die Tiefe führen, um ihm dort Bilder seiner Jugend zu zeigen die er genossen und verloren hatte.
Seine Kehle schnürte sich bei jedem weiteren Schritt zusammen, und als er mit den anderen vor der Corrin-Höhle stand, weinte er leise und war darauf erpicht es niemandem zu zeigen. Sie entzündeten Fackeln und betraten die Höhle schweigend und staunend, mit pochen den Herzen und kribbelnden Mägen. An was sie dachten, wusste Mark nicht, und es war ihm auch gleichgültig. Er selbst sah nur Tsam mit seinem strahlendem Lachen, das er nun für immer verloren hatte und nie wieder lachen konnte. Marks Gedanken flatterten nur um den besten und einzigen Freund seines Lebens, und während niemand ahnte, was auf sie zukam, war Mark der Lösung näher als alle.
In Tiratas Augen blitzte ein nie gesehenes Feuer, und Jessica erkannte nun, dass die vermeintlich alte Frau etwa zwanzig Jahre jünger war, als alle meinten.
Mit der Zeit war Tirata immer schneller bergauf gestiegen und hatte sich nicht weiter darum gekümmert, ob Jessica hinterherkam oder nicht – und Jessica hatte sich sehr anstrengen müssen, um mit der Wahrsagerin Schritt zu halten. Dabei hatte Jessica nicht verhindern können, dass Tiratas Vorsprung immer größer wurde.
Plötzlich sah sie Tirata ganz oben stehen. Oben auf dem Gipfel. Am Ziel.
Anfangs zeigte Tirata ihr den Rücken und schaute auf etwas in der Ferne, das sie vom Berg aus sehen konnte. Aber als Tirata sich mit einer raschen Bewegung zu umsah, erkannte Jessica, dass die Wahrsagerin aufgeregt war.
Der Wind ging stark hier oben, und die wenigen Büsche neigten sich demütig seiner Gewalt. Auf dem felsigen Grund des Gipfels wuchsen keine Bäume. Jessica schien es, als wollte dieser Berg mit seiner imposanten Höhe die Kuppel aufspießen, doch zu ihrer Überraschung stellte sie fest, dass diese Kuppel, sofern sie denn eine war, viel, viel höher war, als sie bisher angenommen hatte.
»Jessica!« rief Tirata schrill und begeistert, dass Jessica glaubte, einem Mädchen hinterherzuklettern, »Komm schon, beeil dich! Du wirst endlich das sehen! Du wirst alles sehen! Komm her, komm!« Dabei winkte sie mit beiden Armen.
Jessica war bemüht, sich zu beeilen, doch ihre Arme und Beine waren nicht lang genug, und es dauerte eine Weile, bis sie nur noch Meter vor sich hatte.
Als sie endlich die Bergspitze überblickte, wollte ihr der Boden unter den Füßen fortbrechen. Was sie sah, konnte sie nicht in Worte fassen. Für das, was sie sah, gab es keine Vorstellung und keine Beschreibung.
Sie blickte den Berg hinab und sah weitere Berge ringsum, sie sah den Himmel unendlich weitergehen, sie sah Vögel, die ihres Weges flogen, und der Wind zog stärker an ihren Haaren als manch Kind beim Spielen.
Sie sah in weiter Ferne auf eine für sie unvorstellbar große Menge an alten, eingefallenen Häusern. Sie sah überwucherte Wege aus Stein, und in dem Licht der blendenden Sonne sah sie das Bild wie aus einem Traum. Mit offenem Mund starrte sie nur.
»Daher kommen wir«, sagte Tirata leise. »Vor vielen Generationen lebten wir dort, bis wir fortgingen. Bis der Wind von Irgendwo uns ins Dorf trieb.«
Jessica sah und roch und schmeckte und spürte und wusste, doch sie meinte nichts von alledem zu tun. Sie meinte zu träumen. Das dort konnte nicht wahr sein. Das dort konnte es nicht geben. Das dort gehörte nicht in die wirkliche Welt, sondern es war wie »Ein Traum«, hörte sie sich aus unendlicher Ferne sagen, und der Wind nahm diese Worte mit sich und schickte sie auf eine Reise ohne Wiederkehr in die Unendlichkeit. »Ein Traum.« Und auch diese Worte verschwanden für immer, mitgetragen vom Wind von Irgendwo.
Tirata blickte auf den Ort, der länger schon verrottete als ein Mensch aus dem Dorf denken konnte. Sie verspürte ein Hochgefühl, und sie wusste, dass ihr Auftrag ausgeführt war. All das, worauf all ihre Vorgängerinnen ihr Leben und sie nun ihr eigenes gewartet und hingearbeitet hatten, war nun in Erfüllung gegangen, und ihr Blick verschwamm bei dem Gedanken daran unter Tränen. Das erste Mal in ihrem Leben, das davon geprägt war, zu wissen, dass das Leben in und um das Dorf nichts weiter war als ein Traum, glaubte sie selbst zu träumen. Es war etwas in Erfüllung gegangen, und es war großartig. Die Vergangenheit war vorbei, die Zukunft begann.
»Nein«, meinte Tirata mit zitternder Stimme, ohne dass sie sich des Blickes entsagen konnte, »dies hier ist die einziges Wahrheit. Alles andere war Lüge.«
Jessica versuchte, Einzelheiten auszumachen. Der Ort dort unten war riesig, sie vermochte die Anzahl der Häuserruinen nicht zu zählen. Es waren mehr als Bäume um das Dorf standen. Welch Menschenmassen mochten dort einst gelebt haben! Welch eine unübersehbare Fülle an gehenden, laufenden und sitzenden Menschen, mehr als sie sich vorstellen konnte. Das alles sollte die Wahrheit sein? Es gab Wege aus purem Gestein, unendlich viele davon. Manches war in die Natur übergangen und überwachsen. Dort lebte schon Ewigkeiten kein Mensch mehr.
»Wo sind sie alle hin?«, wisperte Jessica so leise, dass Tirata ein kalter Schauer überlief, da es sich anhörte, als hätte der Wind selbst zu ihr gesprochen.
»Fort«, entlockte sie sich mit Mühe. »Sehr, sehr lange sehr, sehr weit fort.«
Jessica wandte ihren Blick nicht ab, stets darauf erpicht, mehr zu erkennen, als sie konnte – die Entfernung gestattete es ihr nicht, alles zu sehen. Zuviel Luft und Wind lagen zwischen ihr und dem, was sie zu sehen und ergründen versuchte. »Wie lange? Und wie weit fort? Und wo liegt dieses Sehrweitfort?«
Plötzlich musste Tirata schlucken, und sie vergrub ihr Gesicht in ihren Händen. Sie schluchzte und setzte sich auf den steinigen Boden. Sie versuchte einige Augenblicke, ihre Stimme wiederzufinden, und schließlich sagte sie mit starrem Blick: »Es ist alles so lange her. Ich weiß daraus nur aus Büchern. Es war eine Qual, davon zu wissen und gleichzeitig sich darüber im Klaren zu sein, dass man es den Anderen nicht mitteilen kann.«
Und so Tirata begann zu erzählen:
Davon, dass es einst mehr Menschen gegeben hatte, nicht nur hier, sondern auch anderswo. Dass es Menschen gegeben hatte in Orten, die so weit entfernt lagen, dass selbst die Vögel nie dorthin kommen konnten. Davon, dass die Menschen einst aufbrachen zu neuen Ufern, diese Welt zurückließen, weil sie zerstört war, und dass es eine Gruppe Menschen gegeben hatte, die sich dem entzogen hatten, da sie diese Welt nicht hatten verlassen wollen. Man hatte sie verspottet und Fanatiker genannt. Doch diese Gruppe hatte sich in einer Höhle zurückgezogen, so dass man sie zurückließ und ohne sie aufbrach. Und dort, in dieser Höhle, hatten sie mit Vorräten Jahre ausgeharrt. »Man wollte mit dem Vergangenen nichts mehr zu tun haben«, sprach Tirata in den Wind. »Und das war leicht, denn es gab nichts mehr, an das man sich halten konnte. Das Einzige, das es gab, waren die Versteckten und die Welt, die zu zerstört war, als dass sie den Menschen noch hätte eine Heimat sein können. Die anderen wollten zum späteren Zeitpunkt wiederkehren, wenn die Welt sich wieder erholt hatte.Nur diese Gruppe glaubte an den Fortbestand und wollte nicht fort. Nach vielen Jahren in der Höhle und kam sie heraus, sie hatten auch keinen Proviant mehr. Es waren schreckliche und harte Jahre für sie. Aber sie hatten einen Traum, und den wollten sie um jeden Preis verwirklichen: eine neue Menschheit, gewachsen vom Anbeginn an. Alle Erfindungen, die man gehabt hatte, mussten neu erfunden werden. Man wollte eine neue Schöpfung der Menschen anstreben, unter anderen moralischen und ethischen Begebenheiten. Es war ein großer Plan. Und wir sind die Kinder dieses Plans, der gescheitert schien.« Sie holte zitternd und hörbar Luft. »Bis jetzt.« Der Wind spielte mit ihren Haaren und pfiff durch die Täler in ihrem Gesicht. »Weil nun der Wind von Irgendwo kommt und uns endlich auf den rechten Weg zurückbringt. Weil er nun kommt und all die vielen, langen Jahre des Stillstands hinwegfegt und mit sich nimmt.«
Und Tirata erzählte und erzählte, während Jessica schaute und staunte. Sie erzählte von all den unausgesprochenen Geheimnissen, die die ganzen Jahre die Welt bestimmt hatten, und die nun gelüftet wurden. Da war die Corrin-Höhle, in die man einst geflohen war, und die man nun zurückkehrte.
Was sollten die Männer dort finden?
Umgeben von Dunkelheit tappten sie immer tiefer in den Schlund hinein in den Berg. Ihre Fackeln zeigten ihnen Felswände, die sich mancherorts zu ganzen Räumen und Sälen auswölbten, und die hin und wieder dann so eng zusammen liefen, dass sie hintereinander gehen mussten. Immer mehr entpuppte sich die Corrin-Höhle als dunkles, feuchtes Labyrinth. Nicht selten leuchteten sie in Spalten hinein, die in den Felswänden klafften, oder es offenbarten sich ihnen Löcher, die sich nach wenigen Meter so verengten, dass nicht einmal ein Kind hineingepasst hätte. Im Schein ihrer Fackeln waren ihre Gesichter orange, und ihr Atem löste sich in Wolken auf. Sie fröstelten, und ihre Kleidung sog die feuchte Luft ein.
Das Echo ihrer Schritte erstarb im Dunkeln jenseits des Fackelscheins. Mehr als nackten Fels wollte ihnen die Corrin-Höhle nicht zeigen.
Morkus wünschte sich, Tirata nun bei sich zu haben, doch waren sie allein.
Jedes Mal, wenn sie an einer weiteren Öffnung vorbeikamen, hielten sie ängstlich ihre Fackeln in das Loch, um hineinzusehen; und jedes Mal aufs Neue umklammerten sie mit schweißnassen Händen ihre Waffen fester, bereit, einem Monster im Kampf gegenüberzutreten. Und jedes Mal aufs neue kam keines.
Und schließlich kamen sie an:
Eine Kathedrale aus Felsen und Kalk. Sie war so hoch, dass ihre Fackeln nicht bis an die Decke zu leuchten vermochten. Überwältigt standen sie da und sahen nach oben und nach allen Seiten. Tiefschwarze Schatten lagen zwischen den Felsen mit ihren Schluchten und Rissen. Ihr Atem stieg als Rauch auf und verschwand für alle Zeit in der Felsenhalle.
Sie standen da und trauten ihren Augen kaum.
»Wir sind am Ziel«, flüsterte jemand.
Sie erschraken, als das Flüstern hundertfach echote und zischte wie von einer Schlange ausgestoßen.
»Was ist hier?«, fragte jemand leise, und in der Stimme lag ein Zittern der Furcht und der Kälte wegen.
»Ich kann nichts erkennen«, sagte ein anderer.
Da waren sie nun in der Corrin-Höhle. Da waren sie nun im Bauch der riesigen Echse des Gebirges, da waren sie nun im tiefsten aller tiefsten Schlünde und Mäuler, und sie waren umgeben von Fels und Kälte.
Plötzlich zischte jemand: »Hört ihr das?«
Augenblicklich erstarb jegliches Wispern. Sie alle hielten ihren Atem an. Es war, als existierte hier nichts. Nicht einmal ein Laut. Nicht einmal ein Atem. Eine solch durchdringende Stille hatten sie noch nie gehört. Mark spürte, wie sich seine Haare sträubten und er zu zittern begann.
Tausend Dinge schossen ihm und seiner Gefolgschaft durch den Kopf, als sie lauschten. Was sollten sie hören? Schlurfende Schritte von dem unbekannten, grausigen Wesen, das die Kälte und die Dunkelheit dieser Höhle sein Zuhause nannte? Irgendein Atmen von etwas Fremdem? Höhnisches Gekicher?
Im Schein ihrer Fackeln huschten ihre Blicke von Schatten zu Schatten, die überall lagen, zuckten, aufflammten und wieder verschwanden, und sie taten alles, um jeden Winkel der Höhle um sich herum gleichzeitig im Blick zu haben.
Hier also musste es sein. Was immer es auch war. Hier mochte gleich Maraim aus der Dunkelheit kommen, eine riesige Zunge, Flammen, Monster von ungeahnter Gestalt.
Mark lauschte wie alle anderen, und da kam es langsam in ihr Ohr. Sie tauschten Blicke aus, waren sich einig, dass sie alle es hörten, schlossen sich näher zusammen, und dann nickten sie, jeder für sich und die anderen. Da war etwas, ganz leise, und je länger sie so nahe beieinander standen, um so hörbarer wurde es.
Sie hörten das Rauschen des Windes, der von dem fernen Ort her kam. Jessica zog es dorthin. »Gehen wir dorthin?«, fragte sie.
Tirata schüttelte den Kopf. »Nein. Es ist ein toter Ort. Und es wäre ein Schritt zurück. Wir gehen in die andere Richtung.«
»Warum hast du uns nichts gesagt? Warum hast du uns belogen? Und warum all die anderen Wahrsagerinnen all die anderen vor uns?«
Erneut kamen Tirata die Tränen. »Es war der Lauf der Dinge. Die neue Menschheit sollte aufwachsen mit neuen Vorstellungen von der Welt. Sie sollte mit der Natur in Einklang leben, sie sollte sich der Natur unterwerfen. Alles Wissen lag in Büchern, aber über Jahre hinweg schwand die Gabe, sie zu lesen. Aus einer Idee wurde ein Konzept und aus diesem ein Glaube. Dieser Glaube bestand aus anderen Ritualen. Die Menschen sollten vergessen, aber es gab immer jemanden, der Bescheid wusste über die Vergangenheit. Die Wissenden wurden wie Götter behandelt oder wie Wahrsagerinnen, die ihr Wissen aus dem Wind und von den Geistern bezogen.«
Jessica hörte aufmerksam zu und wusste, je mehr sie hörte, dass sie nicht alles verstand und behielt.
Aber als Tirata geendet hatte, waren ihr verschiedene Dinge bewußt geworden: In der Corrin-Höhle war …
… ein See von Wasser. Ungläubig blickten sie in ihn hinein und erkannten in de Spiegelungen auf der Wasseroberfläche sich selbst. Sie erblickten ihre Gesichter, gezeichnet von Angst, sie sahen ihre Hände, die Waffen und Fackeln hielten, und sie erkannten, als sie in ihre eigenen Augen sahen, in das Zentrum dessen, was sie fürchteten.
Mark drehte sich um und ließ seinen Blick nach oben gleiten. Wie gewaltig diese Höhle doch war. Und wie erschreckend leer sie all die Jahre über gewesen war. Hier gab es nichts. Hier gab es nur Angst. Ihre eigene.
»Was nun?«, hörte Mark jemanden fragen.
»Wir gehen wieder«, entgegnete Mark.
»Wohin?«
»Fort von hier. Weit fort.«
»Und was haben wir zu fürchten?«
»Nichts mehr.«
Und so gingen sie, schweigend und verwundert über das, was sie gesehen hatten. Niemand sagte auf dem Rückweg ins Dorf ein Wort.
Sie alle waren der Corrin-Höhle entkommen, sie alle waren darin gewesen und hatten gesehen, was sich darin Schreckliches verbarg. Sie hatten es gesehen, aufgedeckt und ließen es dort zurück.
»Es hat ein Ende«, meinte Tirata und stand auf.
Jessica sah zu ihr auf. »Dann haben du und die anderen Wahrsagerinnen all die Jahre nur darauf gewartet?«
Tirata nickte. »Bis zu dem Zeitpunkt, an dem die alte Ordnung wieder aufbrach und alle reif für die neue Zeit waren.
»War denn alles falsch, was wir getan haben?«
»Falsch ist nur dann etwas, wenn es nicht mit den Werten übereinstimmt. Unsere Werte waren all die Jahre auf Angst und Aberglaube aufgebaut, aber aus unserer Sicht nie falsch. Wir haben in Verblendung gelebt, die es nicht gestattete, mit den Regeln zu brechen. Wir mussten so lange warten, bis die Dinge sich von selbst widersprachen. Wir konnten nicht die Menschen mit der Wahrheit konfrontieren, solange sie nicht reif dafür waren. Solange sie es nicht begreifen konnten. Nun, die Werte sind gestürzt, das Verständnis setzt ein. Die Geburt, die Neuerschaffung einer Zivilisation braucht seine Zeit, und wir hatten sie.« Tiratas Augen glänzten. »Eine neue Zivilisation von Grund auf, die gelernt hat, die gereift ist. Es hat sich gelohnt, zu warten, denke ich.«
Sie kehrten in das Dorf zurück. Mark fröstelte, als er das Dorf wiedersah, er verfluchte es, er wollte es niemals wiedersehen. Er hatte mit allem darin abgeschlossen. Benommen wie alle anderen gesellte er sich zu den Wartenden im Dorf, die neben ihren gepackten Habseligkeiten auf sie gewartet hatten.
Lorn kam Mark entgegen und umarmte in freudig, doch Mark erwiderte die Umarmung nicht. Als Lorn ihm in die Augen sah, sah dieser einen neuen Glanz in den Augen seines Sohnes. Einen Glanz der Reife, einen Glanz der Entschlossenheit, und Lorn wurde klar, dass er ein Kind verloren und einen Erwachsenen gewonnen hatte. »Was habt ihr gesehen?«
Mark suchte nach Worten. »Die Angst.«
»Wie sah sie aus?«
Mark gedachte seines flimmernden Spiegelbildes im Wasser. Das verbitterte Gesicht eines verängstigten Kindes. »Seltsam.«
»Was ist mit Maraim?«
»Tot.«
»Habt ihr ihn umgebracht?«
Mark dachte an das Feldfrucht-Fest. »Ich denke ja. Er war nicht dort.«
»Haben wir jetzt Frieden?«
Mark zuckte die Achseln und sah seinen Vater an. »Vorerst sicher. Aber später …«
Der Wind von Irgendwo umströmte sie alle und blies sie fort von dem Ort, an dem seit Menschengedenken das Dorf ihre Heimat gewesen war. Mark bestand darauf, das Dorf niederzubrennen, auf dass alles, für was es stand, vernichtet wurde. Niemals wieder sollte man hierher zurückkommen und erneut eine Heimat finden.
Man tat wie geheißen, und kurze Zeit später brannten sie alle lichterloh, die Häuser, die Ställe und Scheunen, die Schuppen. Schwarzer Rauch stieg von ihnen auf in den Himmel, kreiste umher, dünnte sich aus und löste sich im Himmel einfach auf.
Als sie alle das Dorf hinter sich ließen, sahen sie sich häufig um, auch Mark, der im tiefsten Innern seines Herzens Tsam brennen sah, seine eigene Kindheit und all seine Träume, die er gehabt hatte. Und wie er sich umsah, erblickte er seine Schwester Jessica gemeinsam mit Tirata, wie sie in das Haus der Wahrsagerin gingen. Dies war keine Einbildung, dies sah er wirklich.
Jessica. Seine kleine Schwester. Er würde sie bald womöglich wiedersehen, wenn sie mit Tirata ihnen folgte und das zerstörte Dorf für immer hinter sich ließ, in dem es nun keine Menschen mehr gab wie in der alten, verrotteten Stadt jenseits der Berge.
Tsam. Bitterkeit überkam Mark, und er musste sich zusammennehmen, nicht in Tränen auszubrechen. Sein einziger und bester Freund, der ihn bis zu seinem Tod begleiten wollte – nun, Mark hatte ihn bis zum Tode begleitet, und Tsam war Mark bis zum Tode Freund geblieben.
Es sollte noch lange dauern, bis Mark in einem aufblitzenden Lachen Sarah, in einem Satz, den sie sagen würde, in vielen Bewegungen und Gesten, die sie machen würde, Tsam wiedererkannte; und als er später sah, wie Sarah ihren von Mark gezeugten Sohn aus Spaß in der Wanne kitzelte, ging Mark nach draußen, und weinte in Andenken an Tsam, den er zurückgelassen hatte jenseits der Wälder, jenseits aller Weiden und Wiesen, irgendwo weit, weit entfernt, wo einst ein Dorf gelegen hatte, in dem lange Zeit die Früchte zu einer neuen, jungen Menschheit gereift waren, die der Wind vor Irgendwo hierhergetragen hatte und noch weiter in die Welt hinaustragen würde. Wohin, wusste nur der Wind von Irgendwo selbst.
Der Wind von Irgendwo von Anfang an lesen
Erst Kapitel 13 lesen
Der nasse Boden unter ihren Füßen gab schmatzende Geräusche von sich, als Jessica neben Tirata Richtung Berge ging. »Wo gehen wir denn hin?«, hatte Jessica wissen wollen, als Tirata ihr morgens eröffnet hatte, dass sie heute etwas Außergewöhnliches sehen sollte. »Was du sehen wirst wird dich klarer sehen lassen«, hatte Tirata gemeint. »Und es ist ein Geheimnis. Du wirst es sehen.«
»Wo ist denn dieses Geheimnis?«, hatte Jessica gefragt.
»Es ist ein weiter Gang, ein Gang in die Vergangenheit.«
»In die Vergangenheit? Wo liegt die?«
Tirata hatte sie lange und seltsam angesehen. »Weit fort von uns. Hinter den Bergen, da, wo wir nicht mehr hinsehen.«
»Gehen wir in die Corrin-Höhle?« Jessica wurde bei dieser Frage ganz heiß, obgleich sie ihre Neugier, gegen die Tirata so Vieles hatte, versuchte zu verbergen. Aber das hätte sie nicht tun müssen, denn Tirata schien selbst aufgeregt. »Darüber hinaus. Weiter noch. Wir werden den ganzen Tag gehen.«
Daraufhin hatten sie sich etwas zu essen bereitet, das Tirata in einen Beutel verstaute, den sie schulterte. »Komm, Kind. Du wirst in ein paar Stunden deinen Augen nicht mehr trauen.«
So also gingen sie zu den Bergen, zu denen auch die Männer des Dorfs aufbrechen würden. Es war noch so früh am Morgen, dass noch niemand außer Tirata und Jessica zum Aufbrechen bereit war. Das Dorf war erstarrt vor Angst und Wut und Willensstärke. Sie wollten alle endlich ihrer Angst ins Auge blicken und sie vernichten, wenn sie konnten. Bald würden auch sie losziehen.
»Der Wind vor Irgendwo reißt euch mit«, hatte Tirata gestern am Feuer zu den Menschen noch gesagt, als sie, gelähmt vor Schock, in ihrem Rund gesessen hatten, die Gesichter orangefarben und flackernd. »Der Wind ist der Lauf der Dinge auf der Welt. Wenn er kommt, verändert er die Dinge. Er erneuert, er reinigt.«
»Aber«, war es leise aus dem Rund gekommen, aus einem Mund, der in dem dazugehörigen orangefarbenen Gesicht wie die Corrin-Höhle wirkte, »wohin wird er uns treiben?«
»In eine neue Richtung.«
»Und wird sie gut sein?«
»Das kommt darauf an, wie ihr eure Situation meistert.«
Tirata hatte lange mit im Rund gesessen und Worte zu Tsams Tod gesprochen. Mark hatte in Gedanken versunken dagesessen und sich vorgestellt, auf diese Levitation in der Corrin-Höhle zu treffen und sie zu töten. Ja, man würde am nächsten Morgen aufbrechen und dem Unbekannten in die Augen blicken, was oder wer immer es sei.
»Dieser Ort ist kein guter Ort mehr«, hatte Morkus gesagt, und jeder im Dorf hatte schweigend genickt. Das Feuer hatte geknackt und Funken in den Himmel geschossen, denen die nachsahen und sich wünschten, sie zu sein.
»Wir müssen fort von diesem Ort.« Jeder hatte genickt. Dieser Ort war ihnen nicht mehr wohlgesonnen. »Wenn es etwas Böses gibt, dann ist es hier. Wir versuchen es zu töten und gehen dann fort von hier.«
Alle nickten einhellig, stumm und so langsam, als wären ihre Köpfe riesige Steine, die auf einer Klippe stehen und, vom Wind in Schwingung versetzt, einen Berg hinunterzurollen drohten.
Tirata hatte Triumph verspürt und sich in ihr Haus zurückgezogen.
Nun schritt sie neben Jessica, die es kaum erwarten konnte, das Unbekannte, das Andere zu sehen, das ihren Horizont erweitern sollte. Sie konnte es kaum erwarten, in die Vergangenheit zu gehen.
Der Morgen war wundervoll. Der Himmel wurde immer strahlender, und es würde ein heißer Tag werden. Dieser Sonnenaufgang hatte etwas ganz Besonderes. Jessica hatte die Welt noch nie so früh in diesem Licht gesehen. Ein Sonnenaufgang wie dieser war ein Ereignis, das sie noch nie bemerkt hatte. In diesem Licht nun schien ihr die Welt wie ungeboren.
Etwas regte sich in ihr, das sie zum Nachdenken brachte: so lange sie zurückdenken konnte, war es immer so gewesen, dass morgens der Tag und abends die Nacht kam. Dunkelheit folgte Helligkeit, Helligkeit folgte Dunkelheit. Kälte folgte Hitze, Hitze folgte Kälte, Trockenheit folgte Nässe und Nässe folgte Trockenheit – ein einziger riesiger ewiger Zyklus. Was kam, das kam, und was ging, das ging, ganz so, als sei alles diesen Dingen selbst überlassen, und als sei der Mensch dem unterworfen, was ihn umgab.
Nun jedoch kam Jessica der Einfall, dass all diese Annahmen falsch sein konnten. Wenn das ging, was ging, weil etwas anderes kam, dann musste dies aufgrund der Regelmäßigkeit, mit der dies geschah, einen Grund haben. Und so fragte sie Tirata danach, während sie weitergingen, immer weiter auf die Berge zu, immer weiter in Richtung dessen, woher alles gekommen war, wo alles begonnen hatte.
Als Lorn in Marks Zimmer trat, war dieser schon wach. Mit offenen Augen starrte er an die im frühen Tageslicht noch düstere Decke über ihm, die ihm den Blick auf die Sterne verwehrte. Die ganze Nacht über hatte er seine Gedanken kreisen lassen, und er hatte sich in die Corrin-Höhle geträumt. Wenn man von der Corrin-Höhle träumte, dann waren dies schreckliche Alpträume. Dann erwachte man schweißgebadet aus dem Schlaf, weil man gefangen gewesen war in einer sinistren Grotte mit fürchterlichen Kreaturen jenseits aller Begriffe. Man wurde von ihnen zerhackt, gefoltert auf eine Weise, die sich der Phantasie entzog. Man wurde von ihnen nicht einfach gefressen, wie dies Tiere mit anderen Tieren taten, sondern man wurde ausgesogen, entleert, einer Sache beraubt, die den Menschen des Dorfs sehr wichtig war; gleichwohl sie sie nicht in Worte fassen konnten.
Ausgesogen …
… auf dass man zurückblieb wie eine alte, abgestreifte Haut einer gewachsenen Schlange.
Aber in dieser Nacht hatte Mark sich im Traum in der von allen in allen Zeiten so gefürchteten Corrin-Höhle befunden und war mit Entschlossenheit, mit Stolz und mit Rache hineingegangen, um Rechenschaft von denen zu verlangen, die Tsam auf dem Gewissen hatten. Um Rechenschaft dafür zu verlangen, warum man wollte, dass die Menschen das Dorf verließen.
Wem oder was sie gegenübertreten sollten, wusste er nicht, denn er hatte in seinem Traum mit offenen Augen nichts sehen können. Aber er hatte keine Todesangst gehabt, die ihn davon abgehalten hatte, in die Höhle zu steigen.
Lorns Stimme kam gedämpft leise zu ihm herüber, als hätte Mark die Worte mehr gedacht als gehört: »Mark, wach auf. Wir brechen gleich auf.« Er klang wie das Rauschen des Windes um Tiratas Haus, nicht so entschlossen wie von einem Mann, der sich voller Überzeugung aufmacht. »Hast du deine Sachen auf den Wagen geladen?«
»Ja«, erwiderte Mark mit auf die Decke gerichtetem Blick, und im diffusen Licht des jungen Morgens sah Lorn Marks Augen von Tränen aufblitzen. »Unser Leben ist zu kurz, viel zu kurz. Und wie haben es es in gewisser Hinsicht vergeudet.«
Mark war der selben Meinung. Er wusste, dass dies die letzte Nacht in diesem Haus gewesen war. Wenn sie aus der Höhle zurückkehren sollten, dann wurden sie von den Zurückgebliebenen des Dorfes erwartet, auf dass sie sich aufmachen konnten, um dem Dorf mit allen Tieren und Geräten den Rücken zu kehren.
Mark hatte sich noch nie so leer und ausgesogen gefühlt. Sein Freund war tot, das Dorf wurde verlassen. Und gleichzeitig machten sie sich auf, dem Unbekannten zu begegnen. Wenn sie dem Großen Schrecklichen persönlich begegnen sollten, so waren die bereit, ihm gegenüberzutreten. Mark fragte mit einer Stimme sanft wie rauschender Wind: »Tun wir es nur deshalb, weil wir hier nichts mehr haben?«
Wäre es heller gewesen und hätte Mark von seinem Vater mehr gesehen als nur einen dunklen Schatten in der Türöffnung, hätte er ihn nicken sehen können. »Es ist alles so endgültig. Wir neigen uns jetzt vor dem Wind von Irgendwo. In gewisser Weise sind wir tot. Wir haben unseren Frieden verloren, unser Dorf, und du deine Schwester und deinen Freund. Ich habe eine Tochter verloren. Der Wind von Irgendwo hat uns, jedem von uns, ein Loch in unser Leben geblasen. Und nun müssen wir versuchen, dorthin zu gehen, wo der Wind von Irgendwo das, was er uns aus dem Leben geblasen hat, fallengelassen hat.«
»Auf der Suche nach einem neuen Frieden?«
»Und auf der Suche nach einem neuen Leben.«
Viele Fragen stellten sich Jessica, und das Merkwürdigste an allem war, warum niemand schon vorher diese Fragen gestellt hatte. War sie denn neben Tirata die erste im Dorf, der diese Fragen kamen? Aber sie erinnerte sich an die Worte Tiratas, als sie ihr erklärt hatte, dass dies nicht so sein konnte. Jeder Mensch im Dorf hatte sich hin und wieder eine oder mehrere dieser Fragen gestellt, aber woher sollte man die Antwort nehmen? »Alles, was man nicht wusste, schrieb man mir zu, dass ich es wusste«, hatte Tirata ihr zur Antwort gegeben, als es dunkel geworden war und Jessica gebannt den Worten gelauscht hatte. »Und alles, was ich wusste und die anderen nicht, war für sie wie etwas Verbotenes. Man sagte einfach, dass es mit der Corrin-Höhle zu tun hätte und meinte, nur ich könnte darüber Bescheid wissen, weil die Geister in der Höhle nur mir all die Geheimnisse gesagt hätten.«
Jessica hatte nicht verstanden und gefragt: »Sind denn all diese Sachen und Fragen verboten? Sind denn Geister in der Corrin-Höhle? Und sprechen sie zu dir?«
»Diese Geheimnisse sind so selbstverständlich wie das Fragen nach dem Wohlbefinden. Nein, diese Fragen sind weder verboten noch sind die Geheimnisse.«
»Aber warum wird dann gesagt, dass sie es wären? Und warum sagst du es immer?«
»Ich sage es nicht. Ich habe es nie gesagt. Aber wie kann ich erklären, was die Menschen nicht begreifen können?«»Warum können sie nicht begreifen?«
»Weil sie den Mut und das Wissen vergessen haben, um begreifen zu können. Weil sie alles verdrängt haben.«
»Was haben sie verdrängt?«
»Du wirst es sehen.«
Auf dem Weg zu dem, was sie sehen sollte, waren sie nun.
Sie gingen schweigend nebeneinander her, von der weiten Landschaft umgeben, durch die der Wind strich. Jessica war ganz versunken in Fragen über Fragen. Tirata hatte so viel getan, was sie nicht hatte deuten können. Tirata hatte über so viele Dinge gesprochen, die Jessica nicht verstanden hatte. Wie oft hatte Tirata schon von den »anderen« gesprochen, von den »Augen«. Wie oft schon hatte Tirata Jessica das Fürchten gelehrt auf eine Weise, die keine echte Panik hatte gedeihen lassen, sondern Zweifel an den Dingen, von denen man der Überzeugung war, sie tun zu müssen?
So konnte Jessica ein gewisses Entsetzen nicht verleugnen, als Tirata sich eines nachts aufgemacht hatte, um einige Tiere auf den Weiden zu töten. Sie hatte Jessica davon berichtet und war gegangen, als sie schlief. Es war eine Sünde, ein Verbrechen an dem Dorf und an dem gesamten Leben, Tiere mutwillig zu töten, ohne sie zu essen oder ihre Felle benutzen zu müssen. Jessica hatte den Sinn nicht verstanden, den Tirata hinter der aus ihrer Sicht bösen Absicht gesehen hatte. Jessica hatte es nicht verstehen können, als Tirata gesagt hatte, es ginge darum, die allseits bestehende Angst im Dorf dahingehend zu schüren, dass Hass entstand, der der Neugierde diente. Jessica hatte es nicht verstanden, dass diese Tat dazu beitragen sollte, dass die Menschen gezwungen werden sollten, dem Unheimlichen in der Corrin-Höhle in die Augen blicken zu wollen. »Es wird mir keine Freude machen, die Tiere zu töten. Aber die Angst wird sie plagen, und sie werden sie überwinden wollen.« Hier hatten Jessica erstmals Zweifel geplagt, ob es richtig war, sich auf Tirata einzulassen. Wenn Tirata auch einen Sinn verfolgen mochte, so konnte Jessica ihn nicht verstehen »Du wirst es eines Tages begreifen«; hatte Tirata ihr gesagt. »Keine Sorge, du wirst es verstehen. Was ich nun tun muss, ist wichtig. Der Zeitpunkt ist gekommen.«
Das überzeugte Jessica zunächst. Doch als dann die Tiere tatsächlich am nächsten Morgen abgeschlachtet auf den Weiden gelegen hatten, hatte Tirata draußen gesessen und in den Wind hineingesagt: »Der Wind von Irgendwo ist da. Und er reißt sie mit. Niemand kann ihn jetzt noch aufhalten.« Und Jessica hatte sich gefürchtet.
Im Dorf war es still, denn sie standen schweigend vor ihren Häusern, die sie nun für immer verlassen würden, und warteten auf den Aufbruch.
Die Schatten warfen sich wie Sklaven zu Boden und verrenkten sich bis zur Unkenntlichkeit, alle Wagen und Fuhrwerke standen mit allen Habseligkeiten bepackt in einer langen Reihe. Kisten und Stoffrollen lagen darauf, mit Seilen und Tierdärmen zusammengehalten. In den Häusern gab es nichts mehr, was sie hier noch hielt, kein Ding, kein Traum, keine Vorstellung. Tirata hatte ihnen geraten, sich dem Wind von Irgendwo zu beugen, und genau das würden sie nun tun. Diese Endgültigkeit ängstigte nicht wenige – nicht jeder wollte in den Horizont blicken oder sich vorstellen, dass dort hinten etwas Neues auf sie warten mochte. Dass sie gehen würden, weit über die Grenze ihrer Felder und den alles umschließenden Wiesen und Weiden hinaus.
Auch wenn sie keine Vorstellung davon hatten, was kommen würde, so konnte es nicht mehr schlimmer kommen als das, was sie im Dorf erwarten würde, wenn sie blieben. Immerhin blieb ihnen nun die Hoffnung, dass Maraim oder das, was statt seiner bösartig darauf wartete, zuzuschlagen, besiegt werden könnte.
Es waren zwölf Männer, die zuvor in die Corrin-Höhle ziehen wollten, um sich dem Schrecken zu stellen. Sollten sie sterben, dann war dies der Preis, den zu zahlen sie bereit waren. Kämen sie nicht zurück, so würde man ohne sie weiter ziehen, hoffend, dass das Böse ihnen nicht folgen würde.
Diesen zwölf waren jetzt schon ewiges Andenken sicher – immerhin. Niemand würde ihre Namen vergessen und das, was sie zu tun bereit gewesen waren. Unter ihnen war auch Mark, in dessen Gesicht sich Entschlossenheit und Leere spiegelte. Er wollte es sich nicht nehmen lassen, mitzugehen und notfalls sein Leben zu lassen. Er wollte allem ins Gesicht sehen, was immer sich ihm auch in den Weg stellen wollte, und niemand hasste das Dorf und die Weiden und die Bäume und die Berge so sehr wie er. Er wäre auch allein aufgebrochen, um alles hinter sich zu lassen. So war der Einzige gewesen, der sich freiwillig gemeldet hatte. Seitdem sahen ihn alle mit anderen Augen an. Sie näherten sich ihm anders, die Kinder blickten schweigend zu ihm auf, und als Morkus ihm entgegenkam, wollte der seine Hand auf Marks Schulter legen, doch hielt er inne und zog seine Hand wieder zurück.
Sein Vater Lorn wollte nicht, dass er ging, hatte schließlich sich selbst angeboten, mitzugehen, doch Marks Entschluss stand fest. »Lass mich. Du kannst mitgehen, aber du kannst mich nicht abhalten.«
»Ich kann doch deine Mutter nicht allein lassen. Sie hat doch sonst niemanden mehr.«
»Dann bleib bei ihr.«
»Und wenn du nicht zurückkehrst?«
»Dann geht ohne mich.«
»Wie sollen wir dich einfach zurücklassen?«
»Und wie soll ich einfach weiter machen, als wäre nichts gewesen? Ich muss und ich werde gehen, Pepe.«
Stumm hatten sie sich angeblickt, und selbst seine Mutter konnte nicht mehr tun als sagen: »Du musst zurückkommen. Und dann mit uns weiter ziehen. Töte, was du töten musst oder bring mit, was du mitbringen musst. Aber komm zu uns zurück. Sonst haben wir beide Kinder verloren.«
Mark erwiderte nicht mehr als ein stummes Nicken.
Die zwölf sammelten sich wie auf einen unsichtbaren Wink hin und bildeten eine Traube entschlossener Männer, von denen einzig Mark keine Furcht verspürte. Er hatte eine Mistgabel und eine starke Holzlatte bei sich, an seinem Gürtel hingen zwei Messer, und über seine linke Schulter trug er einen Beutel mit faustgroßen Steinen, den er schwingen konnte, wenn es nötig war.
Die zwölf sahen sich an, nickten einander zu. Die Zeit war nun gekommen, aufzubrechen, und so zogen die zwölf los und ließen die anderen hinter sich, die ihnen schweigend hinterher blickten und nicht wussten, ob sie sie jemals wiedersehen würden.
Marks Augen fielen sofort auf die Corrin-Höhle dort hinten, diesem Loch in den Bergen. Er musste sich nicht vornehmen, sich nicht zu seinen Eltern umzublicken – er hatte nur noch Augen für die Höhle. Maraim spukte vor seinem inneren Auge, alle möglichen Geister ohne besondere Form spukten da, er stellte sich Maraims Stimme ebenso vor wie Tiratas Lachen und ein Brüllen, das wer bislang noch nicht gehört hatte. Ihm war all dies egal, ihm war das Dorf egal. Er hatte seine Waffen und seinen Mut und seine Wut. Mehr wollte er nicht und mehr gab es für ihn nicht mehr.
Nicht lange, und er führte die zwölf an, wurde immer schneller, dass die anderen kaum Möglichkeit hatten, mit ihm Schritt zu halten. Schon keuchten die ersten und murrten die anderen, die Waffen seien zu schwer für die Geschwindigkeit, und dass sie es nicht durchhalten würden bis zur Höhle. Als jemand seinen Namen aussprach, hörte er es nicht. Als jemand seinen Namen rief, um ihn zum Innehalten zu bewegen, hörte er es nicht. Als jemand zu laufen begann, um zu ihm aufzuschließen und ihm atemlos sagte »Mark! Mach langsam, wir kommen nicht alle hinterher, so wie du gehst«, reagierte er nicht. Auch die Hand, die ihm auf die Schulter gelegt wurde, schüttelte er sie einfach ab, ohne seinen Blick zu wenden oder etwas zu erwidern.
Derweil stieg die Sonne immer höher, und langsam wurde das Dorf hinter ihm kleiner. Die anderen elf kamen überein, dass es keinen Sinn machte, ihn aufzuhalten oder ihn zu einer langsameren Gangart zu bewegen. Stattdessen griffen sie ihre Sensen, Mistgabeln und sonstige Waffen fester und bemühten sich, nicht allzu weit zurückzufallen und das Tempo zu halten. Sie lamentierten leise untereinander, dass sie zu erschöpft sein würden, wenn sie endlich zur Höhle kamen, machten sich Mut, indem sie meinten, je früher sie dem Unbekannten ins Gesicht blickten, umso besser wäre es, flüsterten, dass sie doch lieber umkehren würden und schwiegen schließlich, während der Wind um sie herum in Wellen durch die Wiesen und Weiden blies.
Bald schon hatten sie den Punkt erreicht, den noch niemand von ihnen erreicht hatte. Die Welt sah fremd aus von hier. Sie warfen verstohlene Blicke über ihre Schultern und erschraken, als sie sahen, wie weit sie sich inzwischen vom Dorf entfernt hatten. Irgendwo hinten beugten sich die Bäume um Tiratas Haus, eine Ewigkeit entfernt, der Frauenbaum zeigte als Finger zum blauen Himmel. Ferne Punkte wuchsen zu wilden Hecken und Gruppen von Büschen. Sie entdeckten einen kleinen Tümpel, von Schilf umrahmt, unentdeckt bis zu diesem Moment, und sie staunten und fürchteten sich, während die aufsteigende Hitze des Tages ihnen den Schweiß auf die Stirnen und in die Kleidung trieb.
Sie durchquerten eine Senke, die sie noch nie gesehen hatten, sie gingen an einer Furche entlang, in die sich niedriges Gebüsch duckte. Irgendwo auf ihrem Weg lagen große Steine beisammen. Sie tranken beim Gehen aus ihren Schläuchen.
Mark schritt ihnen voran, ohne die Hitze zu spüren, ohne Durst zu bekommen, ohne den Dingen, an denen sie vorbei kamen, Bedeutung beizumessen. Weit hinter ihnen, im inzwischen klein gewordenen Dorf, standen sie, bereit, sofort loszuziehen und schwiegen und schauten ihnen noch immer hinterher.
Mark sah sich zu ihnen nicht ein einziges Mal um.
Der Tag reifte heran. Die Farben der Dinge wurden voller, die Linien klarer.
Jessica war neugierig auf das, was sie sehen sollte und befürchtete insgeheim, dass es nicht so aufregend ausfallen könnte wie sie es erwartete, obgleich sie nicht im Geringsten wusste, was sie erwartete. Sie wusste lediglich, dass Tirata ihr etwas anderes zeigen wollte die Corrin-Höhle, zu der die zwölf unterwegs waren.
»Was darin ist, ist nur für die anderen von Belang«, hatte Tirata gemeint, und Jessica hatte gebeten, dennoch hineingehen zu können, und Tirata hatte daraufhin verständnisvoll genickt und gesagt: »Du würdest enttäuscht sein.« Was Jessica nicht hatte begreifen können. Warum, war es für die anderen so wichtig, wenn sie davon enttäuscht sein sollte, und auch Tirata es offenkundig für unwichtig hielt? Warum sollte das, was darin lag, das Leben der anderen verändern, nicht aber das ihre?
Ihr kam der Verdacht, dass Tirata ihr möglicherweise etwas vorenthalten wollte. Oder war etwa das, was Jessica sehen sollte, nicht für die anderen bestimmt? »Der Wind von Irgendwo wird sie in die andere Richtung treiben, fort von den Bergen«, hatte Tirata gemeint, was immer das zu bedeuten hatte.
Während sie gingen, stellte Jessica fest, dass der Wind durch die Büsche und Bäume strich und Geschichten erzählte, die sie nicht verstand. Hier waren sie mittlerweile so weit vom Dorf entfernt, wie sich sonst niemand vorher in Richtung Berge gewagt hatte, mit Ausnahme Tiratas.
Hier sprach der Wind eine andere Sprache, hier wollte es Jessica scheinen, als wüchse hier etwas anderes als in der unmittelbaren Nähe den Dorfs. Sie gingen die Berge hinauf, und anfänglich machte es keine Schwierigkeiten, die Steigung zu überwinden, aber je weiter sie gingen, um so steiler wurde es an einigen Stellen. Jessica keuchte und unterdrückte sich jegliches Jammern, auch wenn ihre Beine manchmal nicht mehr wollten. Sie wollte Tirata um keinen Preis verärgern, dafür war ihr das, was sich anbahnte, viel zu wichtig.
Und je länger sie sich in der Ferne aufhielt, ja sogar immer weiter in dieser fortbewegte, erschienen ihr die Ferne und Fremde immer weniger fremd. Aber dass hier ein Land war, das hinter den Barrieren für derer im Dorf lag, das wusste sie; und das machte alles so spannend für sie.
Irgendwo links von ihnen lag die Corrin-Höhle, und jedes Mal, wenn Jessica in die Richtung spähte und versuchte, zu erraten, wo genau sie lag, klopfte ihr Herz stärker.
Sie war sehr dankbar, wenn der Weg abflachte und normales Gehen möglich war. Sie gingen an Baumreihen entlang, die sie nur aus weiter Ferne gesehen hatte, an Wiesen vorbei, auf denen sich die Insekten wie überall tummelten; und der Wind wehte ihr Summen zu ihr, wie auch das Rascheln von Laub und Geäst.
Plötzlich hielt Tirata unter einer Baumgruppe an. Jessica kannte solche Bäume, sie wuchsen auch unweit vom Dorf.
»Es ist nicht mehr so weit«, meinte Tirata, als sie sich ins Gras setzte. »Aber machen wir eine kleine Pause, du musst ziemlich erschöpft sein.«
Jessica nickte dankbar und setzte sich ebenfalls, breitete ihre Beine aus und sah in den blauen Himmel. Sie sah Vögel daran vorbeiziehen, und sie blickte ihnen nach – wohin mochten sie fliegen? Was sollten sie sehen, wenn sie weiter dorthin flogen, wo noch kein Mensch gewesen war? Die Vögel überlegten sich nicht, warum sie so weit fort flogen, sie flogen einfach weit, weit über die Grenzen hinaus, die sich den Menschen stellten. Die Vögel konnten ihren Blick über die Berge hinaus richten, so als wäre das, was sich auch dahinter immer verbergen mochte, ihnen vertraut. Sie konnten auch über die Wälder blicken, den Fluß entlang, und nichts hielt sie auf, sie ließen sich vom Wind einfach treiben oder stemmten sich ihm spielend entgegen.
»Warum ist noch nie jemand so weit gegangen wie die Vögel fliegen?«, fragte Jessica schließlich. »Hat es uns jemand verboten?« Dabei sah sie weiter in den Himmel.
»Nein, verboten hat es ihnen niemand«, hörte sie Tirata links neben sich sagen. »Aber sie gingen trotzdem nicht.«
»Das verstehe ich nicht. Warum tun es die Vögel und nicht wir?«
»Weil die Menschen keine Vögel sind.«
»Das weiß ich. Aber warum tun sie das, was wir nicht tun? Ist es für uns gefährlich? Werden wir gefressen? Und wenn, warum dann nicht die Vögel?«
»Das einzige, das uns fressen kann, sind wir selbst. Wir gingen nicht, weil wir uns selbst fraßen. Die Vögel fliegen, weil sie es tun müssen. Weil sie nicht überlegen. Wir aber zweifeln, fürchten und zögern, und daher gingen wir nicht.«
»Was haben wir uns denn gedacht, dass wir nicht gingen?«
»Dass alles um uns gefährlich ist.«
»Ist es das denn?«
Tirata holte Luft. »Es kommt darauf an, wie du Gefährlichkeit siehst. Es gibt verschiedene Arten von Gefährlichkeiten. Wenn ein Tier aus Instinkt heraus nicht auf einen Baum klettert, dann unterlässt es das deswegen, weil es weiß, dass es hinunterfallen und sterben kann. Sein Leben ist gefährdet, also ist der Baum für das Tier in dieser Beziehung eine Gefahr für sein Leben. Wenn wir uns nicht trauen, irgendwo hinzugehen und etwas zu ergründen, dann deshalb, weil wir schlechte Erfahrungen gemacht haben, wie Tiere auch. Sie lernen, etwas nicht noch einmal zu versuchen, wenn es schlecht oder gefährlich für sie ist. Auch die Menschen lernen, dass wir Dinge tun sollten und andere nicht. Aber vieles von dem, was wir nicht mehr tun, gefährdet aber längst nicht unser Leben. Wir lassen es aus Bequemlichkeit, aus Furcht vor Schmerz oder Anstrengung. Wir lassen es, obwohl unser Leben nicht gefährdet ist. Die einzige Gefährdung liegt in einem Schaden, den wir nicht erleiden wollen.«
»Was hat das alles mit uns zu tun?«
»Wenn wir da bleiben, wo wir wohnen und uns nicht wagen, uns davon zu entfernen, muss etwas geschehen sein, das uns davon abhält, es zu tun, nicht wahr?«
Jessica versuchte zu folgen, überlegte eine Weile und nickte schließlich.
Tirata fuhr fort: »Das, was uns davon abhält, fortzugehen, kommt von mir und meinen Vorgängerinnen.«
Jessica sah überrascht auf. »Was habt ihr damit zu tun?«
Tirata seufzte. »Die Menschen haben Angst vor der Erkenntnis. Und manchmal ist es besser, sie in dieser Angst zu belassen und dafür auch etwas zu … – lügen. Dann nämlich, wenn man weiß, dass sich die Leute so an ihre Angst gewöhnt haben, dass sie mit der Wahrheit nicht umgehen können. Für die Wahrheit muss erst die Zeit reif sein.«
Wind strich über sie rauschend hinweg. »Und jetzt ist sie endlich gekommen. Jetzt hat alles Lügen endlich ein Ende.«