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Erst Kapitel 14 lesen
Die Corrin-Höhle kam immer näher. Die Gruppe der Zwölf bewegte sich auf das zu, was ihr Leben seit Generationen bestimmt hatte, und sie waren sich der Tragweite dessen bewusst, was sie taten.
Die Corrin-Höhle! Inbegriff einer Angst, die sich nie hatten erklären können, einer Angst, die nur mit der Existenz der Höhle selbst erklärt worden war.
Doch was erschafft eine Angst, die niemandem etwas antut, eine Angst vor einem nebulösen Etwas, das irgendwo in einem Teil des Gehirn pocht und nur in den Träumen auftaucht? Dieses Etwas, das über allem lag und in allem steckte und sie geißelte, das aber niemals in Erscheinung trat? Was war dieses Etwas? Und wenn es dieses Etwas gab, steckte es wirklich in der Höhle, und wenn, war es unbesiegbar? Dieses Etwas hatte sich über Generationen still verhalten, doch nun rief es zum Kampf.
Nun war die Zeit reif dafür.
Mark war entschlossen und überzeugt davon geblieben, dass Maraim sich mit dem, was in der Höhle lebte, verbündet hatte – mehr galt es nicht zu wissen. Mark würde gewappnet sein, und so empfand er als Einziger der Zwölf auch keine Furcht.
Die anderen elf hingegen hatten Dinge vor Augen, die ihre Vorstellungskraft an die Grenze führten. Sie stellten sich etwas vor, das mal über den Boden kroch, mal an der Decken hängend auf sie lauerte. Sie stellten sich den Höhleneingang als Maul vor und den Boden als Zunge. Es war mal bösartig, mal gefräßig. Mal sahen sie ein Wesen aus der Dunkelheit auf sie zu schnellen, das viele Köpfe besaß und folglich viele kleine Münder, allesamt mit Reißzähnen. Sie stellten sich Maraim vor, der dort lachend auf sie wartete, mal empfing er sie gastfreundlich und führte sie in die Höhle, nur um sie mit dieser List in ihr Verderben zu locken. In jedem Fall würde sie, da waren sie sicher, der Berg verschlingen.
Immer wieder betrachteten sie ihre mitgeführten Waffen und überlegten, wie sie diese gegen das Böse ins Feld führten. Sie stellten ich vor, Augen auszustechen, Schädel und Knochen zu brechen, Kopf und Glieder abzuschlagen.
Das Dorf war schon längst zu solch einem kleinen Punkt geschrumpft, dass sie keine einzelnen Häuser mehr ausmachen konnten bis auf das von Tirata. Den Frauenbaum erkannten sie nicht mehr, und einzelne Menschen hatten sie schon seit Stunden nicht mehr ausmachen können. Vielen von ihnen war, als röche die Luft hier anders und als raschelte das Laub nur zuvor gesehener Bäume und Büsche in neuem Klang.
Da blieb Mark kurz stehen und sah sich zu ihnen um. Sie schauten ihn an, und die Letzten schlossen zu ihm auf. Niemand wagte, etwas zu sagen, so dass es an Mark war, das Wort an sie zu richten: »Es ist nicht mehr weit.« Noch nie hatten sie Marks Stimme so entschlossen gehört. Der Tonfall ließ keinen Zweifel daran, dass sie alle weiter gehen würden. »Ich weiß nicht, was uns in der Höhle erwartet. Aber wir müssen bereit sein und wir werden das jetzt hinter uns bringen.«
Sie nickten stumm, denn Mark duldete keinen Widerspruch. Er sah jeden Einzelnen von ihnen an, und sie schöpften ein wenig Kraft daraus, denn Mark würde kämpfen für mindestens zwei von ihnen und sie mit all seiner Kraft verteidigen.
Gegen was auch immer.
So ging Mark erneut los und die anderen folgten ihm.
Der Wind spielte mit Jessicas Haaren, und alles Gras neigte sich mit hm.
Tirata ging voran, weiter den Berg hinauf zu dem, das Jessica die Sprache verschlagen sollte. Jeder Schritt spülte ihr Fragen in den Kopf, die sie gern gestellt hätte, doch der Berg ging so steil hinauf, dass ihr oft der Atem dazu fehlte .Außerdem hatte ihr Tirata nach den letzten Fragen nichts anderes erwidert als: »Warte ab, du wirst gleich schon sehen, und dann erzähle ich dir alles.«
Doch das war ihr nicht genug. All die Jahre, all die Generationen war niemandem in den Sinn gekommen, auch nur einen Schritt in Richtung völlige Wahrheit zu gehen und begnügte sich statt dessen mit dem Wenigen, was man wusste.
Aber nun, da sie alle mehr wussten als jemals zuvor, und Jessica der Wahrheit noch näher war als alle anderen im Dorf, konnte sie es nicht mehr abwarten und sah nicht ein, warum sie weiter warten sollte.
Tirata, die voraus ging, sprach in den wehenden Wind hinein: »Nein, wir gehen nur bis auf die Spitze, weiter nicht.«
»Aber was haben wir da oben?«
»Überblick. Mehr brauchst du auch gar nicht.«
So gingen sie weiter. »Müssen die anderen aus dem Dorf wirklich fortgehen?«
»Sie kommen doch von hier. Sie wollen nicht fort von hier. Sie wollen hier blieben.«
»Das können sie aber nicht so einfach, Kind.«
»Warum nicht?«
»Weil der Wind von Irgendwo sie woanders hin blasen wird.«
Jessica blieb stehen. »Aber warum tut er das? Warum hat er nicht woanders blasen können? Warum hat er uns alle nicht in Ruhe gelassen?«
Tirata drehte sich um und sah sie an. »Der Wind von Irgendwo lässt niemanden für alle Zeiten in Ruhe. Warum sollte er auch? Ohne ihn wären wir nicht hier, ohne ihn würden wir nicht leben. Er führte deine Eltern zusammen, er führte deine Großeltern zusammen, er ließ unsere Vorfahren das Dorf errichten. Ohne den Wind von Irgendwo wäre nichts so, wie es ist und wie es war. Ohne ihn könnte nichts und niemand existieren. Denn er ist das Leben auf der Welt, Kind, nichts anderes. Und ganz gleich, wie furchtbar er uns auch manchmal treffen mag, so ist es unumgänglich, dass er weht. Der Wind von Irgendwo ist der Schöpfer des Bestehenden, des Gewesenen und des Kommenden. Ohne ihn gäbe es kein Leben. Und diesem Leben müssen wir uns anpassen, also treibt er und manchmal fort von hier oder von dort, wo wir uns gerade befinden. Wie auch jetzt.«
»Aber warum dann hat er uns so viele Jahre in Ruhe gelassen?«
»Warum sollte er nicht?«
»Ich verstehe das nicht.«
»Da gibt es nichts zu verstehen. Er kommt und geht. Manchmal schnell und heftig und lange, dann wieder lange Zeit überhaupt nicht. Es ist der Lauf der Dinge.«
»Ist er der Lauf der Dinge?«
Tirata lächelte zufrieden. »Du bist den anderen um Vieles sehr voraus.«
»Aber wenn er uns vertreibt …«, und Jessicas Herz begann zu rasen und ihr Magen begann zu jucken ,»… hat er uns schon einmal vertrieben? Und wenn, dann von wo?«
Tirata drehte sich wieder um und sah zur Bergspitze hinauf. Dadurch verbarg sie ihre Tränen vor dem Kind, das nun allmählich die Dinge begriff. »Wir sind nur noch ein klein wenig entfernt von dem, was ich dir zeigen will. Es dauert nur noch ein paar Minuten, und du wirst es sehen.«
Und Jessica setzte sich in Bewegung, in begeisterter Hochstimmung, wissend, dass alles, was man immer geglaubt hatte, nun zusammenfiel und Lügen gestraft wurde.
Sie sahen die Corrin-Höhle bereits, und alles, was sie hörten, waren ihre eigenen Schritte. Niemand wagte mehr zu atmen, und auch Marks Herz begann zu rasen bei dem Anblick. Vor ihnen öffnete sich der Schlund in den Berg. Er war gewaltig: Höher als jedes Haus im Dorf, höher sogar, als hätte man zwei, drei Häuser aufeinander gestellt. So hoch wie der Frauenbaum, so hoch wie Bäume hinter Tiratas Haus und nahezu kreisrund. Umgeben von braunem Fels, verschwand das Tageslicht rasch im Dunkel. Umsäumt war der Eingang von Baum und allerlei Gestrüpp, und es war Mark, als kröche Kälte aus dem Innern des Berges.
Gerade wollte er weiter gehen, als er hinter sich ein Geräusch hörte und sich umblickte. Karul hatte seine Ausrüstung fallen lassen, und alle Blicke fielen auf ihn. In Karuls noch jungen Augen stand die nackte Angst. »Ich kann nicht«, stieß er aus. Sein Blick klebte an der Corrin-Höhle. »Ich kann das nicht.«
Mark war der Anblick eines derart geängstigten Mannes ebenso fremd wie den anderen, und Karuls Furcht übertrug sich auf die anderen, Mark spürte das Brodeln im eigenen Magen, und er sagte schnell: »Das ist in Ordnung, Karul«, um die Aufmerksamkeit auf sich zu richten. »Dann geh zurück, aber geh sofort und halt uns nicht länger auf.«
»Ich kann doch die Leute im Dorf … – ich kann sie nicht allein lassen, ich meine, was passiert, wenn wir nicht zurückkommen.«
»Wir werden nicht sterben«, sagte Mark mehr zu den anderen als zu Karul, der von einem Bein aufs andere trat. »Wir werden ein Geheimnis lüften.« Er nahm Karuls Sense vom Boden und streckte sie von sich. »Wir nehmen aber deine Waffen.« Er sah die Männer an, deren Anführer er geworden war. »Jeder nimmt sich, was er gebrauchen kann.« Und zu Karul gewandt: »Geh jetzt. Wir können dich zwar nicht entbehren, aber ein Mann, der so viel Angst hat, nützt uns nichts.«
»Ich warte hier auf euch«, stammelte Karul. »Ich lasse euch nicht zurück, und vielleicht kann ich euch noch helfen, wenn …«
»In Ordnung, Karul. Dann warte hier. Ihr anderen: Los, wir gehen.«
Mark setzte einen Schritt aus, als ihm die Größe bewusst wurde.
Sie wandten sich wieder um, und Mark erkannte in vielen Augen das unbändige Sehnen nach Flucht vor allem. Und so sagte er: »Wir müssen es sehen. Einmal der Angst ins Auge geblickt, ist sie später nicht mehr schlimm.« Und er sah auf die Corrin-Höhle zu seiner Linken: ein großes, dunkles Loch gezeichnet von Schwärze. Es sah schräg aus, und der Boden ragte weiter aus dem Berg heraus als die Decke. Nach dem, was er erkennen konnte, schien es gerade in den Berg zu gehen. Sein Herz pochte wild. Welch eine Herausforderung! Er konnte Einzelheiten erkennen, so zum Beispiel den Rand des Eingangs, der etwa dreimal so hoch war wie er selbst. Er sah grauen Felsen rund um die Höhle, manchmal nackt, manchmal mit Moos, Flechten und niedrigem Gras bewachsen. Das Loch war keineswegs rund, sondern es war unförmig; daher gemahnte es nicht an ein Maul oder einen Schlund, sondern tatsächlich wie ein Loch, das nicht für Menschen bestimmt war.
Mark schritt weiter darauf zu, und die anderem folgten ihm. In seinem Kopf spukten manchmal Bilder von Tsam, er hörte ihn lachen und sprechen, er hörte ihn hinter sich durch das Gras rennen. »Ich habe dich gleich!« rief Tsam.
»Du? Du bist lahm wie eine Schnecke!« Es war warm, und es ging kein Wind, selbst kaum, wenn man lief.
Mark hatte Tsam in einer Scheune mit Heu beworfen, so dass er darunter begraben worden war. Und dafür rächte sich Tsam nun und lief hinter Mark her, der vor ihm durch die Wiesen davonlief.
Plötzlich spürte Mark eine Stoß, und er fiel zu Boden. Tsam fiel auf ihn mit ganzem Gewicht, und sie lagen im Gras. Tsams Gesicht strahlte, seine Augen blitzten, und er zeigte die Pracht seiner weißen Zähne. »Ich habe dich eingeholt«, sagte er triumphierend. »Und jetzt kitzel ich dich durch.«
»O nein, nicht schon wieder!«
»Das ist die gerechte Strafe. Ich kitzel dich immer zur Strafe.«
»Wenn du mich noch einmal kitzelst, kenne ich dich nicht mehr.«
»Du wirst mich schon noch kennen, selbst wenn wir sterben und uns im Himmel über den Weg laufen.«
»Kitzelst du mich dann auch?«
»Wenn du böse bist, ja.«
»Ich will im Himmel nicht böse sein. Und ich will dich auch noch kennen.«
»Im Himmel?«
»Auch im Himmel.«
Tränen sammelten sich in Marks Augen, als die Bilder verblaßten, denn er wusste nicht mehr, wie es wirklich gewesen war. Er konnte sich nicht völlig erinnern, aber so ähnlich war es gewesen. Und er hatte viel, an das er sich erinnern konnte.
Tsam. Er war gegangen, war ertrunken im Bach, in dem sie oft geschwommen waren und gespielt hatten. Als sie kleiner gewesen waren, hatten sie im Schlamm gespielt und sich damit beworfen.
Und nun lag dieser Schlamm über ihm.
Tsam.
Wenn es einen Ort gab, an dem er sich rächen konnte, dann in der Höhle. Und wenn er sich auch nicht rächen konnte, so musste hier der Ort sein, an dem man sich wieder sah. Oder nachdem dieses Etwas in der Höhle ihn getötet hatte. Alles war ihm gleich. Ob er starb oder nicht. Er wollte Tsam. Für immer und ewig. Und sollte er auch zurückkehren und Sarah lieben lernen und sie zur Frau nehmen, so würde stets ein Loch klaffen, tief, erschreckend und immerwährend.
Dieses Loch würde sich auftun in manchen Nächten und ihn einsaugen und in die Tiefe führen, um ihm dort Bilder seiner Jugend zu zeigen die er genossen und verloren hatte.
Seine Kehle schnürte sich bei jedem weiteren Schritt zusammen, und als er mit den anderen vor der Corrin-Höhle stand, weinte er leise und war darauf erpicht es niemandem zu zeigen. Sie entzündeten Fackeln und betraten die Höhle schweigend und staunend, mit pochen den Herzen und kribbelnden Mägen. An was sie dachten, wusste Mark nicht, und es war ihm auch gleichgültig. Er selbst sah nur Tsam mit seinem strahlendem Lachen, das er nun für immer verloren hatte und nie wieder lachen konnte. Marks Gedanken flatterten nur um den besten und einzigen Freund seines Lebens, und während niemand ahnte, was auf sie zukam, war Mark der Lösung näher als alle.
In Tiratas Augen blitzte ein nie gesehenes Feuer, und Jessica erkannte nun, dass die vermeintlich alte Frau etwa zwanzig Jahre jünger war, als alle meinten.
Mit der Zeit war Tirata immer schneller bergauf gestiegen und hatte sich nicht weiter darum gekümmert, ob Jessica hinterherkam oder nicht – und Jessica hatte sich sehr anstrengen müssen, um mit der Wahrsagerin Schritt zu halten. Dabei hatte Jessica nicht verhindern können, dass Tiratas Vorsprung immer größer wurde.
Plötzlich sah sie Tirata ganz oben stehen. Oben auf dem Gipfel. Am Ziel.
Anfangs zeigte Tirata ihr den Rücken und schaute auf etwas in der Ferne, das sie vom Berg aus sehen konnte. Aber als Tirata sich mit einer raschen Bewegung zu umsah, erkannte Jessica, dass die Wahrsagerin aufgeregt war.
Der Wind ging stark hier oben, und die wenigen Büsche neigten sich demütig seiner Gewalt. Auf dem felsigen Grund des Gipfels wuchsen keine Bäume. Jessica schien es, als wollte dieser Berg mit seiner imposanten Höhe die Kuppel aufspießen, doch zu ihrer Überraschung stellte sie fest, dass diese Kuppel, sofern sie denn eine war, viel, viel höher war, als sie bisher angenommen hatte.
»Jessica!« rief Tirata schrill und begeistert, dass Jessica glaubte, einem Mädchen hinterherzuklettern, »Komm schon, beeil dich! Du wirst endlich das sehen! Du wirst alles sehen! Komm her, komm!« Dabei winkte sie mit beiden Armen.
Jessica war bemüht, sich zu beeilen, doch ihre Arme und Beine waren nicht lang genug, und es dauerte eine Weile, bis sie nur noch Meter vor sich hatte.
Als sie endlich die Bergspitze überblickte, wollte ihr der Boden unter den Füßen fortbrechen. Was sie sah, konnte sie nicht in Worte fassen. Für das, was sie sah, gab es keine Vorstellung und keine Beschreibung.
Sie blickte den Berg hinab und sah weitere Berge ringsum, sie sah den Himmel unendlich weitergehen, sie sah Vögel, die ihres Weges flogen, und der Wind zog stärker an ihren Haaren als manch Kind beim Spielen.
Sie sah in weiter Ferne auf eine für sie unvorstellbar große Menge an alten, eingefallenen Häusern. Sie sah überwucherte Wege aus Stein, und in dem Licht der blendenden Sonne sah sie das Bild wie aus einem Traum. Mit offenem Mund starrte sie nur.
»Daher kommen wir«, sagte Tirata leise. »Vor vielen Generationen lebten wir dort, bis wir fortgingen. Bis der Wind von Irgendwo uns ins Dorf trieb.«
Jessica sah und roch und schmeckte und spürte und wusste, doch sie meinte nichts von alledem zu tun. Sie meinte zu träumen. Das dort konnte nicht wahr sein. Das dort konnte es nicht geben. Das dort gehörte nicht in die wirkliche Welt, sondern es war wie »Ein Traum«, hörte sie sich aus unendlicher Ferne sagen, und der Wind nahm diese Worte mit sich und schickte sie auf eine Reise ohne Wiederkehr in die Unendlichkeit. »Ein Traum.« Und auch diese Worte verschwanden für immer, mitgetragen vom Wind von Irgendwo.
Tirata blickte auf den Ort, der länger schon verrottete als ein Mensch aus dem Dorf denken konnte. Sie verspürte ein Hochgefühl, und sie wusste, dass ihr Auftrag ausgeführt war. All das, worauf all ihre Vorgängerinnen ihr Leben und sie nun ihr eigenes gewartet und hingearbeitet hatten, war nun in Erfüllung gegangen, und ihr Blick verschwamm bei dem Gedanken daran unter Tränen. Das erste Mal in ihrem Leben, das davon geprägt war, zu wissen, dass das Leben in und um das Dorf nichts weiter war als ein Traum, glaubte sie selbst zu träumen. Es war etwas in Erfüllung gegangen, und es war großartig. Die Vergangenheit war vorbei, die Zukunft begann.
»Nein«, meinte Tirata mit zitternder Stimme, ohne dass sie sich des Blickes entsagen konnte, »dies hier ist die einziges Wahrheit. Alles andere war Lüge.«
Jessica versuchte, Einzelheiten auszumachen. Der Ort dort unten war riesig, sie vermochte die Anzahl der Häuserruinen nicht zu zählen. Es waren mehr als Bäume um das Dorf standen. Welch Menschenmassen mochten dort einst gelebt haben! Welch eine unübersehbare Fülle an gehenden, laufenden und sitzenden Menschen, mehr als sie sich vorstellen konnte. Das alles sollte die Wahrheit sein? Es gab Wege aus purem Gestein, unendlich viele davon. Manches war in die Natur übergangen und überwachsen. Dort lebte schon Ewigkeiten kein Mensch mehr.
»Wo sind sie alle hin?«, wisperte Jessica so leise, dass Tirata ein kalter Schauer überlief, da es sich anhörte, als hätte der Wind selbst zu ihr gesprochen.
»Fort«, entlockte sie sich mit Mühe. »Sehr, sehr lange sehr, sehr weit fort.«
Jessica wandte ihren Blick nicht ab, stets darauf erpicht, mehr zu erkennen, als sie konnte – die Entfernung gestattete es ihr nicht, alles zu sehen. Zuviel Luft und Wind lagen zwischen ihr und dem, was sie zu sehen und ergründen versuchte. »Wie lange? Und wie weit fort? Und wo liegt dieses Sehrweitfort?«
Plötzlich musste Tirata schlucken, und sie vergrub ihr Gesicht in ihren Händen. Sie schluchzte und setzte sich auf den steinigen Boden. Sie versuchte einige Augenblicke, ihre Stimme wiederzufinden, und schließlich sagte sie mit starrem Blick: »Es ist alles so lange her. Ich weiß daraus nur aus Büchern. Es war eine Qual, davon zu wissen und gleichzeitig sich darüber im Klaren zu sein, dass man es den Anderen nicht mitteilen kann.«
Und so Tirata begann zu erzählen:
Davon, dass es einst mehr Menschen gegeben hatte, nicht nur hier, sondern auch anderswo. Dass es Menschen gegeben hatte in Orten, die so weit entfernt lagen, dass selbst die Vögel nie dorthin kommen konnten. Davon, dass die Menschen einst aufbrachen zu neuen Ufern, diese Welt zurückließen, weil sie zerstört war, und dass es eine Gruppe Menschen gegeben hatte, die sich dem entzogen hatten, da sie diese Welt nicht hatten verlassen wollen. Man hatte sie verspottet und Fanatiker genannt. Doch diese Gruppe hatte sich in einer Höhle zurückgezogen, so dass man sie zurückließ und ohne sie aufbrach. Und dort, in dieser Höhle, hatten sie mit Vorräten Jahre ausgeharrt. »Man wollte mit dem Vergangenen nichts mehr zu tun haben«, sprach Tirata in den Wind. »Und das war leicht, denn es gab nichts mehr, an das man sich halten konnte. Das Einzige, das es gab, waren die Versteckten und die Welt, die zu zerstört war, als dass sie den Menschen noch hätte eine Heimat sein können. Die anderen wollten zum späteren Zeitpunkt wiederkehren, wenn die Welt sich wieder erholt hatte.Nur diese Gruppe glaubte an den Fortbestand und wollte nicht fort. Nach vielen Jahren in der Höhle und kam sie heraus, sie hatten auch keinen Proviant mehr. Es waren schreckliche und harte Jahre für sie. Aber sie hatten einen Traum, und den wollten sie um jeden Preis verwirklichen: eine neue Menschheit, gewachsen vom Anbeginn an. Alle Erfindungen, die man gehabt hatte, mussten neu erfunden werden. Man wollte eine neue Schöpfung der Menschen anstreben, unter anderen moralischen und ethischen Begebenheiten. Es war ein großer Plan. Und wir sind die Kinder dieses Plans, der gescheitert schien.« Sie holte zitternd und hörbar Luft. »Bis jetzt.« Der Wind spielte mit ihren Haaren und pfiff durch die Täler in ihrem Gesicht. »Weil nun der Wind von Irgendwo kommt und uns endlich auf den rechten Weg zurückbringt. Weil er nun kommt und all die vielen, langen Jahre des Stillstands hinwegfegt und mit sich nimmt.«
Und Tirata erzählte und erzählte, während Jessica schaute und staunte. Sie erzählte von all den unausgesprochenen Geheimnissen, die die ganzen Jahre die Welt bestimmt hatten, und die nun gelüftet wurden. Da war die Corrin-Höhle, in die man einst geflohen war, und die man nun zurückkehrte.
Was sollten die Männer dort finden?
Umgeben von Dunkelheit tappten sie immer tiefer in den Schlund hinein in den Berg. Ihre Fackeln zeigten ihnen Felswände, die sich mancherorts zu ganzen Räumen und Sälen auswölbten, und die hin und wieder dann so eng zusammen liefen, dass sie hintereinander gehen mussten. Immer mehr entpuppte sich die Corrin-Höhle als dunkles, feuchtes Labyrinth. Nicht selten leuchteten sie in Spalten hinein, die in den Felswänden klafften, oder es offenbarten sich ihnen Löcher, die sich nach wenigen Meter so verengten, dass nicht einmal ein Kind hineingepasst hätte. Im Schein ihrer Fackeln waren ihre Gesichter orange, und ihr Atem löste sich in Wolken auf. Sie fröstelten, und ihre Kleidung sog die feuchte Luft ein.
Das Echo ihrer Schritte erstarb im Dunkeln jenseits des Fackelscheins. Mehr als nackten Fels wollte ihnen die Corrin-Höhle nicht zeigen.
Morkus wünschte sich, Tirata nun bei sich zu haben, doch waren sie allein.
Jedes Mal, wenn sie an einer weiteren Öffnung vorbeikamen, hielten sie ängstlich ihre Fackeln in das Loch, um hineinzusehen; und jedes Mal aufs Neue umklammerten sie mit schweißnassen Händen ihre Waffen fester, bereit, einem Monster im Kampf gegenüberzutreten. Und jedes Mal aufs neue kam keines.
Und schließlich kamen sie an:
Eine Kathedrale aus Felsen und Kalk. Sie war so hoch, dass ihre Fackeln nicht bis an die Decke zu leuchten vermochten. Überwältigt standen sie da und sahen nach oben und nach allen Seiten. Tiefschwarze Schatten lagen zwischen den Felsen mit ihren Schluchten und Rissen. Ihr Atem stieg als Rauch auf und verschwand für alle Zeit in der Felsenhalle.
Sie standen da und trauten ihren Augen kaum.
»Wir sind am Ziel«, flüsterte jemand.
Sie erschraken, als das Flüstern hundertfach echote und zischte wie von einer Schlange ausgestoßen.
»Was ist hier?«, fragte jemand leise, und in der Stimme lag ein Zittern der Furcht und der Kälte wegen.
»Ich kann nichts erkennen«, sagte ein anderer.
Da waren sie nun in der Corrin-Höhle. Da waren sie nun im Bauch der riesigen Echse des Gebirges, da waren sie nun im tiefsten aller tiefsten Schlünde und Mäuler, und sie waren umgeben von Fels und Kälte.
Plötzlich zischte jemand: »Hört ihr das?«
Augenblicklich erstarb jegliches Wispern. Sie alle hielten ihren Atem an. Es war, als existierte hier nichts. Nicht einmal ein Laut. Nicht einmal ein Atem. Eine solch durchdringende Stille hatten sie noch nie gehört. Mark spürte, wie sich seine Haare sträubten und er zu zittern begann.
Tausend Dinge schossen ihm und seiner Gefolgschaft durch den Kopf, als sie lauschten. Was sollten sie hören? Schlurfende Schritte von dem unbekannten, grausigen Wesen, das die Kälte und die Dunkelheit dieser Höhle sein Zuhause nannte? Irgendein Atmen von etwas Fremdem? Höhnisches Gekicher?
Im Schein ihrer Fackeln huschten ihre Blicke von Schatten zu Schatten, die überall lagen, zuckten, aufflammten und wieder verschwanden, und sie taten alles, um jeden Winkel der Höhle um sich herum gleichzeitig im Blick zu haben.
Hier also musste es sein. Was immer es auch war. Hier mochte gleich Maraim aus der Dunkelheit kommen, eine riesige Zunge, Flammen, Monster von ungeahnter Gestalt.
Mark lauschte wie alle anderen, und da kam es langsam in ihr Ohr. Sie tauschten Blicke aus, waren sich einig, dass sie alle es hörten, schlossen sich näher zusammen, und dann nickten sie, jeder für sich und die anderen. Da war etwas, ganz leise, und je länger sie so nahe beieinander standen, um so hörbarer wurde es.
Sie hörten das Rauschen des Windes, der von dem fernen Ort her kam. Jessica zog es dorthin. »Gehen wir dorthin?«, fragte sie.
Tirata schüttelte den Kopf. »Nein. Es ist ein toter Ort. Und es wäre ein Schritt zurück. Wir gehen in die andere Richtung.«
»Warum hast du uns nichts gesagt? Warum hast du uns belogen? Und warum all die anderen Wahrsagerinnen all die anderen vor uns?«
Erneut kamen Tirata die Tränen. »Es war der Lauf der Dinge. Die neue Menschheit sollte aufwachsen mit neuen Vorstellungen von der Welt. Sie sollte mit der Natur in Einklang leben, sie sollte sich der Natur unterwerfen. Alles Wissen lag in Büchern, aber über Jahre hinweg schwand die Gabe, sie zu lesen. Aus einer Idee wurde ein Konzept und aus diesem ein Glaube. Dieser Glaube bestand aus anderen Ritualen. Die Menschen sollten vergessen, aber es gab immer jemanden, der Bescheid wusste über die Vergangenheit. Die Wissenden wurden wie Götter behandelt oder wie Wahrsagerinnen, die ihr Wissen aus dem Wind und von den Geistern bezogen.«
Jessica hörte aufmerksam zu und wusste, je mehr sie hörte, dass sie nicht alles verstand und behielt.
Aber als Tirata geendet hatte, waren ihr verschiedene Dinge bewußt geworden: In der Corrin-Höhle war …
… ein See von Wasser. Ungläubig blickten sie in ihn hinein und erkannten in de Spiegelungen auf der Wasseroberfläche sich selbst. Sie erblickten ihre Gesichter, gezeichnet von Angst, sie sahen ihre Hände, die Waffen und Fackeln hielten, und sie erkannten, als sie in ihre eigenen Augen sahen, in das Zentrum dessen, was sie fürchteten.
Mark drehte sich um und ließ seinen Blick nach oben gleiten. Wie gewaltig diese Höhle doch war. Und wie erschreckend leer sie all die Jahre über gewesen war. Hier gab es nichts. Hier gab es nur Angst. Ihre eigene.
»Was nun?«, hörte Mark jemanden fragen.
»Wir gehen wieder«, entgegnete Mark.
»Wohin?«
»Fort von hier. Weit fort.«
»Und was haben wir zu fürchten?«
»Nichts mehr.«
Und so gingen sie, schweigend und verwundert über das, was sie gesehen hatten. Niemand sagte auf dem Rückweg ins Dorf ein Wort.
Sie alle waren der Corrin-Höhle entkommen, sie alle waren darin gewesen und hatten gesehen, was sich darin Schreckliches verbarg. Sie hatten es gesehen, aufgedeckt und ließen es dort zurück.
»Es hat ein Ende«, meinte Tirata und stand auf.
Jessica sah zu ihr auf. »Dann haben du und die anderen Wahrsagerinnen all die Jahre nur darauf gewartet?«
Tirata nickte. »Bis zu dem Zeitpunkt, an dem die alte Ordnung wieder aufbrach und alle reif für die neue Zeit waren.
»War denn alles falsch, was wir getan haben?«
»Falsch ist nur dann etwas, wenn es nicht mit den Werten übereinstimmt. Unsere Werte waren all die Jahre auf Angst und Aberglaube aufgebaut, aber aus unserer Sicht nie falsch. Wir haben in Verblendung gelebt, die es nicht gestattete, mit den Regeln zu brechen. Wir mussten so lange warten, bis die Dinge sich von selbst widersprachen. Wir konnten nicht die Menschen mit der Wahrheit konfrontieren, solange sie nicht reif dafür waren. Solange sie es nicht begreifen konnten. Nun, die Werte sind gestürzt, das Verständnis setzt ein. Die Geburt, die Neuerschaffung einer Zivilisation braucht seine Zeit, und wir hatten sie.« Tiratas Augen glänzten. »Eine neue Zivilisation von Grund auf, die gelernt hat, die gereift ist. Es hat sich gelohnt, zu warten, denke ich.«
Sie kehrten in das Dorf zurück. Mark fröstelte, als er das Dorf wiedersah, er verfluchte es, er wollte es niemals wiedersehen. Er hatte mit allem darin abgeschlossen. Benommen wie alle anderen gesellte er sich zu den Wartenden im Dorf, die neben ihren gepackten Habseligkeiten auf sie gewartet hatten.
Lorn kam Mark entgegen und umarmte in freudig, doch Mark erwiderte die Umarmung nicht. Als Lorn ihm in die Augen sah, sah dieser einen neuen Glanz in den Augen seines Sohnes. Einen Glanz der Reife, einen Glanz der Entschlossenheit, und Lorn wurde klar, dass er ein Kind verloren und einen Erwachsenen gewonnen hatte. »Was habt ihr gesehen?«
Mark suchte nach Worten. »Die Angst.«
»Wie sah sie aus?«
Mark gedachte seines flimmernden Spiegelbildes im Wasser. Das verbitterte Gesicht eines verängstigten Kindes. »Seltsam.«
»Was ist mit Maraim?«
»Tot.«
»Habt ihr ihn umgebracht?«
Mark dachte an das Feldfrucht-Fest. »Ich denke ja. Er war nicht dort.«
»Haben wir jetzt Frieden?«
Mark zuckte die Achseln und sah seinen Vater an. »Vorerst sicher. Aber später …«
Der Wind von Irgendwo umströmte sie alle und blies sie fort von dem Ort, an dem seit Menschengedenken das Dorf ihre Heimat gewesen war. Mark bestand darauf, das Dorf niederzubrennen, auf dass alles, für was es stand, vernichtet wurde. Niemals wieder sollte man hierher zurückkommen und erneut eine Heimat finden.
Man tat wie geheißen, und kurze Zeit später brannten sie alle lichterloh, die Häuser, die Ställe und Scheunen, die Schuppen. Schwarzer Rauch stieg von ihnen auf in den Himmel, kreiste umher, dünnte sich aus und löste sich im Himmel einfach auf.
Als sie alle das Dorf hinter sich ließen, sahen sie sich häufig um, auch Mark, der im tiefsten Innern seines Herzens Tsam brennen sah, seine eigene Kindheit und all seine Träume, die er gehabt hatte. Und wie er sich umsah, erblickte er seine Schwester Jessica gemeinsam mit Tirata, wie sie in das Haus der Wahrsagerin gingen. Dies war keine Einbildung, dies sah er wirklich.
Jessica. Seine kleine Schwester. Er würde sie bald womöglich wiedersehen, wenn sie mit Tirata ihnen folgte und das zerstörte Dorf für immer hinter sich ließ, in dem es nun keine Menschen mehr gab wie in der alten, verrotteten Stadt jenseits der Berge.
Tsam. Bitterkeit überkam Mark, und er musste sich zusammennehmen, nicht in Tränen auszubrechen. Sein einziger und bester Freund, der ihn bis zu seinem Tod begleiten wollte – nun, Mark hatte ihn bis zum Tode begleitet, und Tsam war Mark bis zum Tode Freund geblieben.
Es sollte noch lange dauern, bis Mark in einem aufblitzenden Lachen Sarah, in einem Satz, den sie sagen würde, in vielen Bewegungen und Gesten, die sie machen würde, Tsam wiedererkannte; und als er später sah, wie Sarah ihren von Mark gezeugten Sohn aus Spaß in der Wanne kitzelte, ging Mark nach draußen, und weinte in Andenken an Tsam, den er zurückgelassen hatte jenseits der Wälder, jenseits aller Weiden und Wiesen, irgendwo weit, weit entfernt, wo einst ein Dorf gelegen hatte, in dem lange Zeit die Früchte zu einer neuen, jungen Menschheit gereift waren, die der Wind vor Irgendwo hierhergetragen hatte und noch weiter in die Welt hinaustragen würde. Wohin, wusste nur der Wind von Irgendwo selbst.
Der Wind von Irgendwo von Anfang an lesen
Erst Kapitel 13 lesen
Der nasse Boden unter ihren Füßen gab schmatzende Geräusche von sich, als Jessica neben Tirata Richtung Berge ging. »Wo gehen wir denn hin?«, hatte Jessica wissen wollen, als Tirata ihr morgens eröffnet hatte, dass sie heute etwas Außergewöhnliches sehen sollte. »Was du sehen wirst wird dich klarer sehen lassen«, hatte Tirata gemeint. »Und es ist ein Geheimnis. Du wirst es sehen.«
»Wo ist denn dieses Geheimnis?«, hatte Jessica gefragt.
»Es ist ein weiter Gang, ein Gang in die Vergangenheit.«
»In die Vergangenheit? Wo liegt die?«
Tirata hatte sie lange und seltsam angesehen. »Weit fort von uns. Hinter den Bergen, da, wo wir nicht mehr hinsehen.«
»Gehen wir in die Corrin-Höhle?« Jessica wurde bei dieser Frage ganz heiß, obgleich sie ihre Neugier, gegen die Tirata so Vieles hatte, versuchte zu verbergen. Aber das hätte sie nicht tun müssen, denn Tirata schien selbst aufgeregt. »Darüber hinaus. Weiter noch. Wir werden den ganzen Tag gehen.«
Daraufhin hatten sie sich etwas zu essen bereitet, das Tirata in einen Beutel verstaute, den sie schulterte. »Komm, Kind. Du wirst in ein paar Stunden deinen Augen nicht mehr trauen.«
So also gingen sie zu den Bergen, zu denen auch die Männer des Dorfs aufbrechen würden. Es war noch so früh am Morgen, dass noch niemand außer Tirata und Jessica zum Aufbrechen bereit war. Das Dorf war erstarrt vor Angst und Wut und Willensstärke. Sie wollten alle endlich ihrer Angst ins Auge blicken und sie vernichten, wenn sie konnten. Bald würden auch sie losziehen.
»Der Wind vor Irgendwo reißt euch mit«, hatte Tirata gestern am Feuer zu den Menschen noch gesagt, als sie, gelähmt vor Schock, in ihrem Rund gesessen hatten, die Gesichter orangefarben und flackernd. »Der Wind ist der Lauf der Dinge auf der Welt. Wenn er kommt, verändert er die Dinge. Er erneuert, er reinigt.«
»Aber«, war es leise aus dem Rund gekommen, aus einem Mund, der in dem dazugehörigen orangefarbenen Gesicht wie die Corrin-Höhle wirkte, »wohin wird er uns treiben?«
»In eine neue Richtung.«
»Und wird sie gut sein?«
»Das kommt darauf an, wie ihr eure Situation meistert.«
Tirata hatte lange mit im Rund gesessen und Worte zu Tsams Tod gesprochen. Mark hatte in Gedanken versunken dagesessen und sich vorgestellt, auf diese Levitation in der Corrin-Höhle zu treffen und sie zu töten. Ja, man würde am nächsten Morgen aufbrechen und dem Unbekannten in die Augen blicken, was oder wer immer es sei.
»Dieser Ort ist kein guter Ort mehr«, hatte Morkus gesagt, und jeder im Dorf hatte schweigend genickt. Das Feuer hatte geknackt und Funken in den Himmel geschossen, denen die nachsahen und sich wünschten, sie zu sein.
»Wir müssen fort von diesem Ort.« Jeder hatte genickt. Dieser Ort war ihnen nicht mehr wohlgesonnen. »Wenn es etwas Böses gibt, dann ist es hier. Wir versuchen es zu töten und gehen dann fort von hier.«
Alle nickten einhellig, stumm und so langsam, als wären ihre Köpfe riesige Steine, die auf einer Klippe stehen und, vom Wind in Schwingung versetzt, einen Berg hinunterzurollen drohten.
Tirata hatte Triumph verspürt und sich in ihr Haus zurückgezogen.
Nun schritt sie neben Jessica, die es kaum erwarten konnte, das Unbekannte, das Andere zu sehen, das ihren Horizont erweitern sollte. Sie konnte es kaum erwarten, in die Vergangenheit zu gehen.
Der Morgen war wundervoll. Der Himmel wurde immer strahlender, und es würde ein heißer Tag werden. Dieser Sonnenaufgang hatte etwas ganz Besonderes. Jessica hatte die Welt noch nie so früh in diesem Licht gesehen. Ein Sonnenaufgang wie dieser war ein Ereignis, das sie noch nie bemerkt hatte. In diesem Licht nun schien ihr die Welt wie ungeboren.
Etwas regte sich in ihr, das sie zum Nachdenken brachte: so lange sie zurückdenken konnte, war es immer so gewesen, dass morgens der Tag und abends die Nacht kam. Dunkelheit folgte Helligkeit, Helligkeit folgte Dunkelheit. Kälte folgte Hitze, Hitze folgte Kälte, Trockenheit folgte Nässe und Nässe folgte Trockenheit – ein einziger riesiger ewiger Zyklus. Was kam, das kam, und was ging, das ging, ganz so, als sei alles diesen Dingen selbst überlassen, und als sei der Mensch dem unterworfen, was ihn umgab.
Nun jedoch kam Jessica der Einfall, dass all diese Annahmen falsch sein konnten. Wenn das ging, was ging, weil etwas anderes kam, dann musste dies aufgrund der Regelmäßigkeit, mit der dies geschah, einen Grund haben. Und so fragte sie Tirata danach, während sie weitergingen, immer weiter auf die Berge zu, immer weiter in Richtung dessen, woher alles gekommen war, wo alles begonnen hatte.
Als Lorn in Marks Zimmer trat, war dieser schon wach. Mit offenen Augen starrte er an die im frühen Tageslicht noch düstere Decke über ihm, die ihm den Blick auf die Sterne verwehrte. Die ganze Nacht über hatte er seine Gedanken kreisen lassen, und er hatte sich in die Corrin-Höhle geträumt. Wenn man von der Corrin-Höhle träumte, dann waren dies schreckliche Alpträume. Dann erwachte man schweißgebadet aus dem Schlaf, weil man gefangen gewesen war in einer sinistren Grotte mit fürchterlichen Kreaturen jenseits aller Begriffe. Man wurde von ihnen zerhackt, gefoltert auf eine Weise, die sich der Phantasie entzog. Man wurde von ihnen nicht einfach gefressen, wie dies Tiere mit anderen Tieren taten, sondern man wurde ausgesogen, entleert, einer Sache beraubt, die den Menschen des Dorfs sehr wichtig war; gleichwohl sie sie nicht in Worte fassen konnten.
Ausgesogen …
… auf dass man zurückblieb wie eine alte, abgestreifte Haut einer gewachsenen Schlange.
Aber in dieser Nacht hatte Mark sich im Traum in der von allen in allen Zeiten so gefürchteten Corrin-Höhle befunden und war mit Entschlossenheit, mit Stolz und mit Rache hineingegangen, um Rechenschaft von denen zu verlangen, die Tsam auf dem Gewissen hatten. Um Rechenschaft dafür zu verlangen, warum man wollte, dass die Menschen das Dorf verließen.
Wem oder was sie gegenübertreten sollten, wusste er nicht, denn er hatte in seinem Traum mit offenen Augen nichts sehen können. Aber er hatte keine Todesangst gehabt, die ihn davon abgehalten hatte, in die Höhle zu steigen.
Lorns Stimme kam gedämpft leise zu ihm herüber, als hätte Mark die Worte mehr gedacht als gehört: »Mark, wach auf. Wir brechen gleich auf.« Er klang wie das Rauschen des Windes um Tiratas Haus, nicht so entschlossen wie von einem Mann, der sich voller Überzeugung aufmacht. »Hast du deine Sachen auf den Wagen geladen?«
»Ja«, erwiderte Mark mit auf die Decke gerichtetem Blick, und im diffusen Licht des jungen Morgens sah Lorn Marks Augen von Tränen aufblitzen. »Unser Leben ist zu kurz, viel zu kurz. Und wie haben es es in gewisser Hinsicht vergeudet.«
Mark war der selben Meinung. Er wusste, dass dies die letzte Nacht in diesem Haus gewesen war. Wenn sie aus der Höhle zurückkehren sollten, dann wurden sie von den Zurückgebliebenen des Dorfes erwartet, auf dass sie sich aufmachen konnten, um dem Dorf mit allen Tieren und Geräten den Rücken zu kehren.
Mark hatte sich noch nie so leer und ausgesogen gefühlt. Sein Freund war tot, das Dorf wurde verlassen. Und gleichzeitig machten sie sich auf, dem Unbekannten zu begegnen. Wenn sie dem Großen Schrecklichen persönlich begegnen sollten, so waren die bereit, ihm gegenüberzutreten. Mark fragte mit einer Stimme sanft wie rauschender Wind: »Tun wir es nur deshalb, weil wir hier nichts mehr haben?«
Wäre es heller gewesen und hätte Mark von seinem Vater mehr gesehen als nur einen dunklen Schatten in der Türöffnung, hätte er ihn nicken sehen können. »Es ist alles so endgültig. Wir neigen uns jetzt vor dem Wind von Irgendwo. In gewisser Weise sind wir tot. Wir haben unseren Frieden verloren, unser Dorf, und du deine Schwester und deinen Freund. Ich habe eine Tochter verloren. Der Wind von Irgendwo hat uns, jedem von uns, ein Loch in unser Leben geblasen. Und nun müssen wir versuchen, dorthin zu gehen, wo der Wind von Irgendwo das, was er uns aus dem Leben geblasen hat, fallengelassen hat.«
»Auf der Suche nach einem neuen Frieden?«
»Und auf der Suche nach einem neuen Leben.«
Viele Fragen stellten sich Jessica, und das Merkwürdigste an allem war, warum niemand schon vorher diese Fragen gestellt hatte. War sie denn neben Tirata die erste im Dorf, der diese Fragen kamen? Aber sie erinnerte sich an die Worte Tiratas, als sie ihr erklärt hatte, dass dies nicht so sein konnte. Jeder Mensch im Dorf hatte sich hin und wieder eine oder mehrere dieser Fragen gestellt, aber woher sollte man die Antwort nehmen? »Alles, was man nicht wusste, schrieb man mir zu, dass ich es wusste«, hatte Tirata ihr zur Antwort gegeben, als es dunkel geworden war und Jessica gebannt den Worten gelauscht hatte. »Und alles, was ich wusste und die anderen nicht, war für sie wie etwas Verbotenes. Man sagte einfach, dass es mit der Corrin-Höhle zu tun hätte und meinte, nur ich könnte darüber Bescheid wissen, weil die Geister in der Höhle nur mir all die Geheimnisse gesagt hätten.«
Jessica hatte nicht verstanden und gefragt: »Sind denn all diese Sachen und Fragen verboten? Sind denn Geister in der Corrin-Höhle? Und sprechen sie zu dir?«
»Diese Geheimnisse sind so selbstverständlich wie das Fragen nach dem Wohlbefinden. Nein, diese Fragen sind weder verboten noch sind die Geheimnisse.«
»Aber warum wird dann gesagt, dass sie es wären? Und warum sagst du es immer?«
»Ich sage es nicht. Ich habe es nie gesagt. Aber wie kann ich erklären, was die Menschen nicht begreifen können?«»Warum können sie nicht begreifen?«
»Weil sie den Mut und das Wissen vergessen haben, um begreifen zu können. Weil sie alles verdrängt haben.«
»Was haben sie verdrängt?«
»Du wirst es sehen.«
Auf dem Weg zu dem, was sie sehen sollte, waren sie nun.
Sie gingen schweigend nebeneinander her, von der weiten Landschaft umgeben, durch die der Wind strich. Jessica war ganz versunken in Fragen über Fragen. Tirata hatte so viel getan, was sie nicht hatte deuten können. Tirata hatte über so viele Dinge gesprochen, die Jessica nicht verstanden hatte. Wie oft hatte Tirata schon von den »anderen« gesprochen, von den »Augen«. Wie oft schon hatte Tirata Jessica das Fürchten gelehrt auf eine Weise, die keine echte Panik hatte gedeihen lassen, sondern Zweifel an den Dingen, von denen man der Überzeugung war, sie tun zu müssen?
So konnte Jessica ein gewisses Entsetzen nicht verleugnen, als Tirata sich eines nachts aufgemacht hatte, um einige Tiere auf den Weiden zu töten. Sie hatte Jessica davon berichtet und war gegangen, als sie schlief. Es war eine Sünde, ein Verbrechen an dem Dorf und an dem gesamten Leben, Tiere mutwillig zu töten, ohne sie zu essen oder ihre Felle benutzen zu müssen. Jessica hatte den Sinn nicht verstanden, den Tirata hinter der aus ihrer Sicht bösen Absicht gesehen hatte. Jessica hatte es nicht verstehen können, als Tirata gesagt hatte, es ginge darum, die allseits bestehende Angst im Dorf dahingehend zu schüren, dass Hass entstand, der der Neugierde diente. Jessica hatte es nicht verstanden, dass diese Tat dazu beitragen sollte, dass die Menschen gezwungen werden sollten, dem Unheimlichen in der Corrin-Höhle in die Augen blicken zu wollen. »Es wird mir keine Freude machen, die Tiere zu töten. Aber die Angst wird sie plagen, und sie werden sie überwinden wollen.« Hier hatten Jessica erstmals Zweifel geplagt, ob es richtig war, sich auf Tirata einzulassen. Wenn Tirata auch einen Sinn verfolgen mochte, so konnte Jessica ihn nicht verstehen »Du wirst es eines Tages begreifen«; hatte Tirata ihr gesagt. »Keine Sorge, du wirst es verstehen. Was ich nun tun muss, ist wichtig. Der Zeitpunkt ist gekommen.«
Das überzeugte Jessica zunächst. Doch als dann die Tiere tatsächlich am nächsten Morgen abgeschlachtet auf den Weiden gelegen hatten, hatte Tirata draußen gesessen und in den Wind hineingesagt: »Der Wind von Irgendwo ist da. Und er reißt sie mit. Niemand kann ihn jetzt noch aufhalten.« Und Jessica hatte sich gefürchtet.
Im Dorf war es still, denn sie standen schweigend vor ihren Häusern, die sie nun für immer verlassen würden, und warteten auf den Aufbruch.
Die Schatten warfen sich wie Sklaven zu Boden und verrenkten sich bis zur Unkenntlichkeit, alle Wagen und Fuhrwerke standen mit allen Habseligkeiten bepackt in einer langen Reihe. Kisten und Stoffrollen lagen darauf, mit Seilen und Tierdärmen zusammengehalten. In den Häusern gab es nichts mehr, was sie hier noch hielt, kein Ding, kein Traum, keine Vorstellung. Tirata hatte ihnen geraten, sich dem Wind von Irgendwo zu beugen, und genau das würden sie nun tun. Diese Endgültigkeit ängstigte nicht wenige – nicht jeder wollte in den Horizont blicken oder sich vorstellen, dass dort hinten etwas Neues auf sie warten mochte. Dass sie gehen würden, weit über die Grenze ihrer Felder und den alles umschließenden Wiesen und Weiden hinaus.
Auch wenn sie keine Vorstellung davon hatten, was kommen würde, so konnte es nicht mehr schlimmer kommen als das, was sie im Dorf erwarten würde, wenn sie blieben. Immerhin blieb ihnen nun die Hoffnung, dass Maraim oder das, was statt seiner bösartig darauf wartete, zuzuschlagen, besiegt werden könnte.
Es waren zwölf Männer, die zuvor in die Corrin-Höhle ziehen wollten, um sich dem Schrecken zu stellen. Sollten sie sterben, dann war dies der Preis, den zu zahlen sie bereit waren. Kämen sie nicht zurück, so würde man ohne sie weiter ziehen, hoffend, dass das Böse ihnen nicht folgen würde.
Diesen zwölf waren jetzt schon ewiges Andenken sicher – immerhin. Niemand würde ihre Namen vergessen und das, was sie zu tun bereit gewesen waren. Unter ihnen war auch Mark, in dessen Gesicht sich Entschlossenheit und Leere spiegelte. Er wollte es sich nicht nehmen lassen, mitzugehen und notfalls sein Leben zu lassen. Er wollte allem ins Gesicht sehen, was immer sich ihm auch in den Weg stellen wollte, und niemand hasste das Dorf und die Weiden und die Bäume und die Berge so sehr wie er. Er wäre auch allein aufgebrochen, um alles hinter sich zu lassen. So war der Einzige gewesen, der sich freiwillig gemeldet hatte. Seitdem sahen ihn alle mit anderen Augen an. Sie näherten sich ihm anders, die Kinder blickten schweigend zu ihm auf, und als Morkus ihm entgegenkam, wollte der seine Hand auf Marks Schulter legen, doch hielt er inne und zog seine Hand wieder zurück.
Sein Vater Lorn wollte nicht, dass er ging, hatte schließlich sich selbst angeboten, mitzugehen, doch Marks Entschluss stand fest. »Lass mich. Du kannst mitgehen, aber du kannst mich nicht abhalten.«
»Ich kann doch deine Mutter nicht allein lassen. Sie hat doch sonst niemanden mehr.«
»Dann bleib bei ihr.«
»Und wenn du nicht zurückkehrst?«
»Dann geht ohne mich.«
»Wie sollen wir dich einfach zurücklassen?«
»Und wie soll ich einfach weiter machen, als wäre nichts gewesen? Ich muss und ich werde gehen, Pepe.«
Stumm hatten sie sich angeblickt, und selbst seine Mutter konnte nicht mehr tun als sagen: »Du musst zurückkommen. Und dann mit uns weiter ziehen. Töte, was du töten musst oder bring mit, was du mitbringen musst. Aber komm zu uns zurück. Sonst haben wir beide Kinder verloren.«
Mark erwiderte nicht mehr als ein stummes Nicken.
Die zwölf sammelten sich wie auf einen unsichtbaren Wink hin und bildeten eine Traube entschlossener Männer, von denen einzig Mark keine Furcht verspürte. Er hatte eine Mistgabel und eine starke Holzlatte bei sich, an seinem Gürtel hingen zwei Messer, und über seine linke Schulter trug er einen Beutel mit faustgroßen Steinen, den er schwingen konnte, wenn es nötig war.
Die zwölf sahen sich an, nickten einander zu. Die Zeit war nun gekommen, aufzubrechen, und so zogen die zwölf los und ließen die anderen hinter sich, die ihnen schweigend hinterher blickten und nicht wussten, ob sie sie jemals wiedersehen würden.
Marks Augen fielen sofort auf die Corrin-Höhle dort hinten, diesem Loch in den Bergen. Er musste sich nicht vornehmen, sich nicht zu seinen Eltern umzublicken – er hatte nur noch Augen für die Höhle. Maraim spukte vor seinem inneren Auge, alle möglichen Geister ohne besondere Form spukten da, er stellte sich Maraims Stimme ebenso vor wie Tiratas Lachen und ein Brüllen, das wer bislang noch nicht gehört hatte. Ihm war all dies egal, ihm war das Dorf egal. Er hatte seine Waffen und seinen Mut und seine Wut. Mehr wollte er nicht und mehr gab es für ihn nicht mehr.
Nicht lange, und er führte die zwölf an, wurde immer schneller, dass die anderen kaum Möglichkeit hatten, mit ihm Schritt zu halten. Schon keuchten die ersten und murrten die anderen, die Waffen seien zu schwer für die Geschwindigkeit, und dass sie es nicht durchhalten würden bis zur Höhle. Als jemand seinen Namen aussprach, hörte er es nicht. Als jemand seinen Namen rief, um ihn zum Innehalten zu bewegen, hörte er es nicht. Als jemand zu laufen begann, um zu ihm aufzuschließen und ihm atemlos sagte »Mark! Mach langsam, wir kommen nicht alle hinterher, so wie du gehst«, reagierte er nicht. Auch die Hand, die ihm auf die Schulter gelegt wurde, schüttelte er sie einfach ab, ohne seinen Blick zu wenden oder etwas zu erwidern.
Derweil stieg die Sonne immer höher, und langsam wurde das Dorf hinter ihm kleiner. Die anderen elf kamen überein, dass es keinen Sinn machte, ihn aufzuhalten oder ihn zu einer langsameren Gangart zu bewegen. Stattdessen griffen sie ihre Sensen, Mistgabeln und sonstige Waffen fester und bemühten sich, nicht allzu weit zurückzufallen und das Tempo zu halten. Sie lamentierten leise untereinander, dass sie zu erschöpft sein würden, wenn sie endlich zur Höhle kamen, machten sich Mut, indem sie meinten, je früher sie dem Unbekannten ins Gesicht blickten, umso besser wäre es, flüsterten, dass sie doch lieber umkehren würden und schwiegen schließlich, während der Wind um sie herum in Wellen durch die Wiesen und Weiden blies.
Bald schon hatten sie den Punkt erreicht, den noch niemand von ihnen erreicht hatte. Die Welt sah fremd aus von hier. Sie warfen verstohlene Blicke über ihre Schultern und erschraken, als sie sahen, wie weit sie sich inzwischen vom Dorf entfernt hatten. Irgendwo hinten beugten sich die Bäume um Tiratas Haus, eine Ewigkeit entfernt, der Frauenbaum zeigte als Finger zum blauen Himmel. Ferne Punkte wuchsen zu wilden Hecken und Gruppen von Büschen. Sie entdeckten einen kleinen Tümpel, von Schilf umrahmt, unentdeckt bis zu diesem Moment, und sie staunten und fürchteten sich, während die aufsteigende Hitze des Tages ihnen den Schweiß auf die Stirnen und in die Kleidung trieb.
Sie durchquerten eine Senke, die sie noch nie gesehen hatten, sie gingen an einer Furche entlang, in die sich niedriges Gebüsch duckte. Irgendwo auf ihrem Weg lagen große Steine beisammen. Sie tranken beim Gehen aus ihren Schläuchen.
Mark schritt ihnen voran, ohne die Hitze zu spüren, ohne Durst zu bekommen, ohne den Dingen, an denen sie vorbei kamen, Bedeutung beizumessen. Weit hinter ihnen, im inzwischen klein gewordenen Dorf, standen sie, bereit, sofort loszuziehen und schwiegen und schauten ihnen noch immer hinterher.
Mark sah sich zu ihnen nicht ein einziges Mal um.
Der Tag reifte heran. Die Farben der Dinge wurden voller, die Linien klarer.
Jessica war neugierig auf das, was sie sehen sollte und befürchtete insgeheim, dass es nicht so aufregend ausfallen könnte wie sie es erwartete, obgleich sie nicht im Geringsten wusste, was sie erwartete. Sie wusste lediglich, dass Tirata ihr etwas anderes zeigen wollte die Corrin-Höhle, zu der die zwölf unterwegs waren.
»Was darin ist, ist nur für die anderen von Belang«, hatte Tirata gemeint, und Jessica hatte gebeten, dennoch hineingehen zu können, und Tirata hatte daraufhin verständnisvoll genickt und gesagt: »Du würdest enttäuscht sein.« Was Jessica nicht hatte begreifen können. Warum, war es für die anderen so wichtig, wenn sie davon enttäuscht sein sollte, und auch Tirata es offenkundig für unwichtig hielt? Warum sollte das, was darin lag, das Leben der anderen verändern, nicht aber das ihre?
Ihr kam der Verdacht, dass Tirata ihr möglicherweise etwas vorenthalten wollte. Oder war etwa das, was Jessica sehen sollte, nicht für die anderen bestimmt? »Der Wind von Irgendwo wird sie in die andere Richtung treiben, fort von den Bergen«, hatte Tirata gemeint, was immer das zu bedeuten hatte.
Während sie gingen, stellte Jessica fest, dass der Wind durch die Büsche und Bäume strich und Geschichten erzählte, die sie nicht verstand. Hier waren sie mittlerweile so weit vom Dorf entfernt, wie sich sonst niemand vorher in Richtung Berge gewagt hatte, mit Ausnahme Tiratas.
Hier sprach der Wind eine andere Sprache, hier wollte es Jessica scheinen, als wüchse hier etwas anderes als in der unmittelbaren Nähe den Dorfs. Sie gingen die Berge hinauf, und anfänglich machte es keine Schwierigkeiten, die Steigung zu überwinden, aber je weiter sie gingen, um so steiler wurde es an einigen Stellen. Jessica keuchte und unterdrückte sich jegliches Jammern, auch wenn ihre Beine manchmal nicht mehr wollten. Sie wollte Tirata um keinen Preis verärgern, dafür war ihr das, was sich anbahnte, viel zu wichtig.
Und je länger sie sich in der Ferne aufhielt, ja sogar immer weiter in dieser fortbewegte, erschienen ihr die Ferne und Fremde immer weniger fremd. Aber dass hier ein Land war, das hinter den Barrieren für derer im Dorf lag, das wusste sie; und das machte alles so spannend für sie.
Irgendwo links von ihnen lag die Corrin-Höhle, und jedes Mal, wenn Jessica in die Richtung spähte und versuchte, zu erraten, wo genau sie lag, klopfte ihr Herz stärker.
Sie war sehr dankbar, wenn der Weg abflachte und normales Gehen möglich war. Sie gingen an Baumreihen entlang, die sie nur aus weiter Ferne gesehen hatte, an Wiesen vorbei, auf denen sich die Insekten wie überall tummelten; und der Wind wehte ihr Summen zu ihr, wie auch das Rascheln von Laub und Geäst.
Plötzlich hielt Tirata unter einer Baumgruppe an. Jessica kannte solche Bäume, sie wuchsen auch unweit vom Dorf.
»Es ist nicht mehr so weit«, meinte Tirata, als sie sich ins Gras setzte. »Aber machen wir eine kleine Pause, du musst ziemlich erschöpft sein.«
Jessica nickte dankbar und setzte sich ebenfalls, breitete ihre Beine aus und sah in den blauen Himmel. Sie sah Vögel daran vorbeiziehen, und sie blickte ihnen nach – wohin mochten sie fliegen? Was sollten sie sehen, wenn sie weiter dorthin flogen, wo noch kein Mensch gewesen war? Die Vögel überlegten sich nicht, warum sie so weit fort flogen, sie flogen einfach weit, weit über die Grenzen hinaus, die sich den Menschen stellten. Die Vögel konnten ihren Blick über die Berge hinaus richten, so als wäre das, was sich auch dahinter immer verbergen mochte, ihnen vertraut. Sie konnten auch über die Wälder blicken, den Fluß entlang, und nichts hielt sie auf, sie ließen sich vom Wind einfach treiben oder stemmten sich ihm spielend entgegen.
»Warum ist noch nie jemand so weit gegangen wie die Vögel fliegen?«, fragte Jessica schließlich. »Hat es uns jemand verboten?« Dabei sah sie weiter in den Himmel.
»Nein, verboten hat es ihnen niemand«, hörte sie Tirata links neben sich sagen. »Aber sie gingen trotzdem nicht.«
»Das verstehe ich nicht. Warum tun es die Vögel und nicht wir?«
»Weil die Menschen keine Vögel sind.«
»Das weiß ich. Aber warum tun sie das, was wir nicht tun? Ist es für uns gefährlich? Werden wir gefressen? Und wenn, warum dann nicht die Vögel?«
»Das einzige, das uns fressen kann, sind wir selbst. Wir gingen nicht, weil wir uns selbst fraßen. Die Vögel fliegen, weil sie es tun müssen. Weil sie nicht überlegen. Wir aber zweifeln, fürchten und zögern, und daher gingen wir nicht.«
»Was haben wir uns denn gedacht, dass wir nicht gingen?«
»Dass alles um uns gefährlich ist.«
»Ist es das denn?«
Tirata holte Luft. »Es kommt darauf an, wie du Gefährlichkeit siehst. Es gibt verschiedene Arten von Gefährlichkeiten. Wenn ein Tier aus Instinkt heraus nicht auf einen Baum klettert, dann unterlässt es das deswegen, weil es weiß, dass es hinunterfallen und sterben kann. Sein Leben ist gefährdet, also ist der Baum für das Tier in dieser Beziehung eine Gefahr für sein Leben. Wenn wir uns nicht trauen, irgendwo hinzugehen und etwas zu ergründen, dann deshalb, weil wir schlechte Erfahrungen gemacht haben, wie Tiere auch. Sie lernen, etwas nicht noch einmal zu versuchen, wenn es schlecht oder gefährlich für sie ist. Auch die Menschen lernen, dass wir Dinge tun sollten und andere nicht. Aber vieles von dem, was wir nicht mehr tun, gefährdet aber längst nicht unser Leben. Wir lassen es aus Bequemlichkeit, aus Furcht vor Schmerz oder Anstrengung. Wir lassen es, obwohl unser Leben nicht gefährdet ist. Die einzige Gefährdung liegt in einem Schaden, den wir nicht erleiden wollen.«
»Was hat das alles mit uns zu tun?«
»Wenn wir da bleiben, wo wir wohnen und uns nicht wagen, uns davon zu entfernen, muss etwas geschehen sein, das uns davon abhält, es zu tun, nicht wahr?«
Jessica versuchte zu folgen, überlegte eine Weile und nickte schließlich.
Tirata fuhr fort: »Das, was uns davon abhält, fortzugehen, kommt von mir und meinen Vorgängerinnen.«
Jessica sah überrascht auf. »Was habt ihr damit zu tun?«
Tirata seufzte. »Die Menschen haben Angst vor der Erkenntnis. Und manchmal ist es besser, sie in dieser Angst zu belassen und dafür auch etwas zu … – lügen. Dann nämlich, wenn man weiß, dass sich die Leute so an ihre Angst gewöhnt haben, dass sie mit der Wahrheit nicht umgehen können. Für die Wahrheit muss erst die Zeit reif sein.«
Wind strich über sie rauschend hinweg. »Und jetzt ist sie endlich gekommen. Jetzt hat alles Lügen endlich ein Ende.«
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Erst Kapitel 12 lesen
Als Mark erwachte, war es bereits früher Tag, und blinzelnd öffnete er die Augen. Die Sonne verbarg sich hinter einer hellgrauen Wolkendecke. Er bemerkte, dass Tsam nicht mehr im Bett lag und wunderte sich, weswegen sein Freund ihn hatte schlafen lassen.
Was war es für eine Nacht gewesen! Es war ihm schwergefallen, einzuschlafen, aber nach einiger Zeit hatte ihn das Rauschen des Windes und das Klatschen des Regens so müde gemacht, dass er sich nicht mehr hatte halten können.
Draußen hörte er das Schreien und Quieken der Kinder und das Platschen von Wasser. Ihn wunderte diese Ausgelassenheit, mit der die Kinder draußen spielten. Er konnte sich noch gut daran erinnern, dass er und Tsam durch teilweise riesige Pfützen gesprungen waren. Tsam war einmal in eine Pfütze gesprungen, die so tief gewesen war, dass sie ihm über das Knie reichte, und der Schlamm am Boden hatte ihn einsacken lassen. Er hatte wie erstarrt dagestanden und zugelassen, wie der Boden unter seinen Füßen immer weiter nachgegeben und ihn tiefer hatte einsacken lassen. Erst viel später hatte er versucht, sich zu befreien, was zu spät gewesen war. Tsam war so tief im Schlamm eingesunken, dass er sich nicht mehr hatte rühren können und zu Schreien angefangen hatte. Acht oder neun Jahre alt mochten sie damals gewesen sein und beide hatten geglaubt, dass die Erde Tsam hatte verschlucken wollen. Und beim Himmel, was hatte er geschrien! So laut und so markdurchdringend, dass das halbe Dorf herbeigeeilt war und ihn herausgezogen hatte. Als er aus der Pfütze befreit war und noch immer weinte, war seine Mutter gekommen, hatte ihm zwei Ohrfeigen gegeben und ihm gesagt, dass es unglaublich dumm gewesen war, das zu tun, was er getan hatte. Tsam hatte einfach nur dagestanden und geheult und geheult, um nach einigen Minuten wieder durch die Pfützen zu toben, sich hineinzuwerfen und andere hineinzuzerren. Am gleichen Tag hatte er auch Jessica, die noch ein Kleinkind gewesen war, genommen und in Richtung Pfütze gezerrt. Sie hatte gebrüllt, geschlagen, getreten und gekratzt, und daraufhin hatte er sie einfach in hohem Bogen in eine Pfütze geworfen. Jessica hatte einen Krach geschlagen wie niemals zuvor und niemals danach. Als ihr Vater Lorn gekommen war, um Tsam einige Schläge ins Gesicht zu verpassen, hatte sie in der Pfütze gesessen und, nass und schmutzig wie sie war, vor Vergnügen auf das Wasser um sich geschlagen und einen Spaß gehabt, dass Tsam erst recht noch einmal zu weinen begonnen hatte.
Ach ja, die Pfützen. Mark hörte das Spritzen von Wasser, und er vermutete, dass sich die Kleinen durch das Wasser jagten und sich gegenseitig hineinwarfen, wenn sie jemanden fingen, so wie das immer geschah.
Er stand auf und sah hinaus, und sein Atem stockte ihm. Das Dorf hatte sich in eine Schlamm- und Wasserwüste verwandelt. Was nicht von Wasser bedeckt war, war so wässrig, dass jeder bis zu den Knien eingesackt wäre, und er sah zahlreiche Fußspuren darin. An den Häusern entlang sah er Bretter, auf denen man gehen konnte, um nicht im Schlamm zu versinken. Nach wie vor waren die Häuser verbarrikadiert, und es war ein ungewohnter und unangenehmer Anblick. Mark hatte niemals in seinem Leben dergleichen gesehen, denn wann hatte es schon einmal einen Grund dafür gegeben? Hier im Dorf, wo es nichts gegeben hatte außer den Menschen, den Tieren und der Stille, der Einsamkeit und der Abgeschiedenheit? Mark wurde wieder schwermütiger. Es gab da keine Erzählung, die ihn auf diese Szenen vorbereitet hatte, und innerlich sträubte sich etwas dagegen. Diese Barrikaden, die das Außen abgrenzten und aussperrten: welche Gefahr sollte dort draußen bloß sein? Von welcher Gefahr meinten sie alle, dass sie draußen irgendwo ihr Unwesen trieb?
Mark sah sich die Häuser unter dem schmutzigen Himmel an, der bald schon wieder Regen bringen würde. Sie waren dunkel, durchtränkt von Nässe und schwer wie alte Steine. Das Grün der Wiesen und Weiden war dunkel und nass, und so dankbar sie auch sein mochten über den Guss, der auf sie herabgestürzt war, so sehr hatte der Regen sie niedergedrückt, dass es Tage dauern würde, bis sie sich wieder aufrichteten.
Wo Tsam sich nur herumtreiben mochte? War er unten in der Küche und saß am Tisch wie ein Bruder, den Mark nie gehabt hatte?
Mochte Tsam dasitzen und die Lücke ausfüllen, die Jessica hinterlassen hatte? Jessica, eine Hexe, eine Andersartigkeit aus ihren eigenen Reihen – und Tsam, der diese Lücke gebührend ausfüllte, ja!
Er ging aus dem Zimmer. Wie er Treppe hinunter schritt, kam sich verlassen vor. Tsam hatte nicht im Bett neben ihm gelegen, und es war schon so unerträglich lange her, dass er aufgewacht war, ohne jemanden im Nebenbett liegen zu sehen. Das Haus kam ihm leer vor.
In der Wohnküche war niemand. Draußen spielten noch immer die Kinder. Konnte es sein, dass Tsam mitspielte?
Mark stellte sich Tsam von all den Kindern umringt durch die Pfützen tobend vor, wie er auf alle aufpasste.
Ihm wurde schwer ums Herz. Bis vor einigen Tagen noch wäre es keine Schwierigkeit gewesen, ihn darauf anzusprechen, und man hatte darüber gesprochen. Aber nun war eine Barriere zwischen ihnen, eine, die zwar nicht ihre Freundschaft zerstörte, aber eine, die sie eigenständiger werden ließ. Plötzlich kam das Gefühl der Peinlichkeit, dem anderen etwas Bestimmtes zu erzählen. Das Gefühl, sich der Lächerlichkeit preiszugeben.
Und so spielte Tsam wahrscheinlich draußen mit den Kindern und hatte ihn vergessen.
Nun, wenn schon niemand da war, so entschied sich Mark dennoch, zu frühstücken, und er wusch sich zuerst mit bereitgestelltem Wasser, um sich, nachdem er sich angezogen hatte, daran zu machen, sein Frühstück zuzubereiten.
Dann hörte er von draußen her wildes Geraune von Erwachsenen, aufgeregt und teilweise schrill, viele riefen durcheinander.
Mit einem Zug leerte er seinen Becher Milch und schritt mit polternden Schritten zur Tür. Draußen roch es nach nasser Erde. Aber da war noch etwas anderes in der Luft, geruchlos, mehr eine Vibration.
Die Kinder waren verstummt und hatten sich in einer Traube zusammengefunden, die ein paar Häuser links von ihm stand, wo einige Männer und Frauen zusammenstanden und gestikulierend miteinander sprachen. Immer mehr liefen über die feuchtdunklen Bretter am Boden, und bei jedem Schritt schmatzte das Wasser der Pfützen unter ihnen.
Sein Magen zog sich zusammen. Er machte sich auf den Weg, und obwohl er aufpassen musste, vom glitschigen Holz unter sich nicht abzurutschen, ließ er die ganze Zeit die Menge nicht aus den Augen. Je näher er kam, um so deutlicher sah er die entsetzten Gesichter, um so mehr Tränen sah er über mehr Gesichter rollen. Er sah, dass viele ihren Blick zu Boden gesenkt hatten. Er sah, dass viele die Hände vor das Gesicht schlugen und dort behielten, er sah die Kinder, die eben noch ausgelassen gewesen waren, weinten.
Mark lief immer schneller, und die Bretter beschrieben zu der Gruppe einen Umweg, er musste an ihr vorbei, an einigen Häusern entlang, bis er endlich zu der Gruppe stieß.
Graue Gesichter empfingen ihn, so grau wie der Himmel. Man schluckte, als man ihn kommen sah. Viele sahen ihn an und nahmen sofort den Blick wieder von ihm. Sein Vater kam ihm entgegen. Und als Lorn ihm berichtete, was geschehen war, spürte Mark, wie ihm sein Herz aus der Brust gerissen wurde.
Atemlose Stille wie nach dem Ende der Welt. Stille, die davon zeugte, dass nichts mehr lebte, nichts mehr war. Stille, die jenseits aller Zeiten das Ende aller Zeiten markierte. Mark stand am Wasser des zu einem Fluß angeschwollenen Bachs und sah dabei zu, wie Harban, der auf seine fünf Pferde stolz war, in das Wasser watete und bis zur Brust darin verschwand. Er zog an etwas, das sich in dichtem Buschwerk am Rand verfangen hatte, das sonst drei Meter vom Wasser entfernt den Bach säumte.
Ein Körper hing darin, und jeder von ihnen wusste, wer da aus dem Wasser gezogen wurde. Tsams Eltern schüttelten, die Mutter lag in den Armen eines Nachbarn, der sie tröstete, weil ihr Mann nicht dazu in der Lage war. Er stand betäubt da und konnte nur reglos zuschauen. Immer wieder tauchte Tsams Gesicht aus dem Wasser auf, während Harban versucht war, den Körper so sorgsam wie möglich aus dem Geäst zu befreien. Bei vielen der Umstehenden erschien Maramis Schatten kurz inter einem Baum, neben einem Strauch, einem Haus.
Nicht wenige schlossen ihre Augen.
Harban rief Verstärkung. Der Körper ließ sich nicht ohne Weiteres aus dem Geäst befreien, und sofort stürmten einige Männer zur Hilfe, auch Lorn gehörte dazu und war einer der Ersten neben Harban. Tsams Körper war eiskalt und die Haut von leicht gräulicher Farbe.
Im Wind standen alle wie Dolmen in der Landschaft und sahen dabei zu, wie sich unter knackendem Geäst Tsams Körper aus dem Gestrüpp löste und aus dem Wasser gezogen wurde, tot für alle Zeiten.
Nach einer Weile, an deren Länge sich Mark nie würde erinnern können, lag Tsam schließlich am Ufer und das Wasser rann an ihm herab. Seine Augen blickten ins Irgendwo, ohne jeden Ausdruck in die unendliche Ferne. So sehr Mark es sich wünschte, so sehr blieb sein Blick von Tsam unerwidert. Tsams Kleidung klebte ihm am Köper und hatte das Geäst nicht unbeschadet überstanden. Die Haare lagen nass am Schädel. Der Wind glitt über ihn hinweg, ohne etwas zu bewegen, einzig die Wimpern tanzten im Luftzug.
Sie alle traten näher heran, und auch Marks Beine trugen ihn näher an Tsam heran, um den die Männer im Schlamm knieten. Er sah Tirata erscheinen, man machte ihr Platz, und sie beugte sich zu Tsam herab, berührte seine Stirn, berührte seinen Hals, fuhr ihm durchs nasse Haar. Neben ihr stand Jessica, stumm und bleich.
Für Mark gab es keine Welt mehr. Im Fokus all dessen, was er sah, lag Tsam. Da gab es keine anderen, da gab es kein Dorf. Es gab kein Bach und kein Gras und keinen Schlamm und keinen Himmel. Da lag nur Tsam. Windböen rauschten in Marks Ohr, er spürte den Wind in seinen Haaren und sein Hemd aufblähen.
Mehr geschah nicht, scheinbar für Ewigkeiten. Mark blickte in die Augen von Tsam und fragte sich, was er wohl als Letztes gesehen haben mochte. Etwas war es gewesen, so oder so. Unscharfe Wasserwirbel vielleicht oder der Himmel, der Boden, Gras? Maraim etwa, der ihn ins Wasser gestoßen hatte? Was zeigten diese Augen? Furcht vielleicht oder Erlösung möglicherweise, Erstaunen? Tsams Augen verwehrten Mark die Antwort.
Vielleicht waren die Geister der Corrin-Höhle für all dies verantwortlich, der Mann vor der Höhle in Morkus‘ Buch: welchen Eindruck mochte er wohl auf Tsam in den letzten Sekunden gemacht haben? Hatte dieser Mann ihn hereingeworfen? Oder war es doch Maraim, wie alle befürchteten? Und wenn er Maraim gewesen war, war Maraim nun etwa der Mann vor der Höhle in Morkus‘ Buch? Dann war dieser Mann böse.
Nie gespürte Wut stieg in Mark empor und mischte sich in seine Trauer. Es war, als begänne sein Körper zu brennen – und dieses Feuer war es, das ihn dazu brachte, sich aus der Erstarrung zu lösen. Tränen stiegen in seine Augen, und er konnte nicht anders, als sie fließen zu lassen. Er sah all die Gesichter um sich herum. All diese Menschen hätten Vieles gegeben, um Tsam wieder zum Leben zu erwecken, und Mark hätte seine Beine geopfert.
In die Stille fraß sich etwas Neues in Trauer und Schmerz. Es war Hass. Hass gegen den, der das zu verantworten hatte. Oder gegen ein Etwas, und wenn es nur ein Stein war, der sich in Tsams Weg gelegt und sein Schicksal besiegelt haben mochte. Hass gegen den Mörder, der sich als Untoter an seinem eigenen Bruder gerächt hatte.
Mark wusste nicht mehr weiter. Er sah dabei zu, wie Harban Tsam aufhob und auf seinen beiden Armen trug, sah, wie Tsams Arme und Beine schlaff herunterhingen wie nasses Gras, wie Tsams Kopf mit seinen geöffneten Augen nach unten kippte. Sah, wie Tropfen von Tsams Leib zu Boden fielen. Sah, wie Harban, umringt und gefolgt von den anderen, Tsam in Richtung Dorf trug.
Mark konnte ihnen nicht folgen. Stattdessen wandte er sich ab und ging in die weiten Felder, in denen er mit Tsam so viel Zeit verbracht hatte. Er wandte sich zum Frauenbaum, der da einsam inmitten von im Wind wehendem Grün stand, und obgleich er nicht die Stimmen der Leute im Kopf hörte, die die vielen Geschichten über den Baum erzählten, so verband er mit diesem Baum doch etwas nie Gespürtes. Er und Tsam waren die einzigen Kinder gewesen, die ihn erklommen hatten, sogar einigen Male. Und jedes Mal war ein heiliges Kribbeln in ihnen aufgestiegen, ein Gefühl, als stießen sie zum Kern aller Schöpfung vor.
Sie hatten gemeint, damit Herrscher über das Schicksal zu werden. Dieser Nervenkitzel, die eigenen Finger in Rinde zu drücken, die nach den Geschichten älter war als jede Zeit, dieses Gefühl, auf Äste zu steigen, von denen man sich erzählte, dass dort mächtige Geister saßen, um von der Ferne das Dorf zu beobachten: all dies hatte Mark und Tsam zu Beherrschern des Unabwendbaren gemacht. Sie hatten ihren Mut zusammengenommen und hatten dem Ewigen und Wahren ins Auge geblickt und hatten sich darüber triumphiert, dass sich nie jemanden nahe genug an den Frauenbaum heran gewagt hätte, um sie zu verjagen.
Immer, wenn sie in dem Baum gesessen hatten, waren sie sich großartig vorgekommen, hatten sich mächtig gefühlt, weil sie etwas gewagt hatten, das niemand außer ihnen gewagt hätte. Und weil sie niemandem im Dorf darüber berichten konnten, da sie bestraft oder schlimmstenfalls gar gemieden worden wären. So hatten die beiden einträchtig mit dem Allgegenwärtigen ein Bündnis geschlossen: sie lebten mit ihm, und es ließ sie in Ruhe.
Bis jetzt.
Der Wind um Mark schien Geräusche Tsams mit sich zu tragen. Mark hörte seine Schritte hinter sich, hörte das Gras rascheln, als liefe Tsam hindurch, hörte Zweige brechen, so als träte Tsam auf sie. Mark verlor sich in diese Vorstellungen, während er weiter ging, doch immer wenn er sich umblickte und meinte, Tsam ganz selbstverständlich hinter sich zu sehen, wie er ihm gut gelaunt folgte, musste er erkennen, dass Tsam nicht hinter ihm war, ihm nicht folgte, nicht mehr bei ihm war.
Er kam dem Frauenbaum näher und sah an ihm hoch. Der Wind keuchte durch die Äste. Mark spürte den Wind in seinen tränennassen Augen. War ihm der Baum bislang stets wie ein Freund vorgekommen, so schien dieser Freund dieses mal seine Gestalt verändert zu haben. »Ich habe auf dich gewartet«, sagte der Baum zu Mark.. »Ich dulde niemanden neben mir. Ich dulde niemanden.«
Mark holte tief Luft, und es kostete ihn Kraft, sich davon zu überzeugen, dass diese Worte nur eingebildet gewesen waren. Der Frauenbaum war mächtig und böse, wie er den Wind als Stimme benutzte. Warum war Mark nur nie aufgefallen, dass dieser Baum tatsächlich furchterregend aussah?
Scharfe Windböen schleuderten durch Marks Haare, und das Laub des Frauenbaums zischte.
Mit all seiner Wut trat Mark den Stamm des Baumes, er knickte Äste ab. An die dicken hängte er sich oder kletterte auf sie, um auf ihnen herumzuspringen, bis sie abbrachen. In seiner blinden Wut wollte er den Baum zerstören, wie dieser auch sein Leben zerstört hatte. Was gab es für Mark nun noch im Dorf? Plötzlich spürte er, wie klein und erbärmlich das sonst heimatliche Dorf doch war. Was gab es hier schon? Tsam war tot. Sein Freund war fort, und es gab nichts mehr, was ihn noch hier hielt. Warum nicht fortgehen? Warum nicht dort hingehen, wo Tsam vielleicht nun leben mochte, weit entfernt, wo die Sonne jeden Morgen aufstieg oder unterging?
Was hielt ihn nun noch im Dorf? Alle dort fürchteten sich vor Geistern, fürchteten die Rache von Maraim, den sie selbst vertrieben hatten. Alles schien sich nun für all die Trägheit rächen zu wollen, in der das Dorf seit Menschengedenken lag.
Alles wollt der Wind von Irgendwo ändern, indem er über das Land brauste und alle mit sich riss, einen Loch in ihr Leben blies, sie aushöhlte und alle Wünsche, Träume und Sehnsüchte mit sich riss, wenn sie nicht willens waren, ihm zu folgen, dorthin, wo er alles, was er ihnen genommen hatte, ablud. Das Dorf war und blieb ein Ort des Vergessens. Und Mark wollte fort von hier. Aber vorher wollte er all die Geheimnisse lüften, die über allem lagen. Er wollte in die Corrin-Höhle gehen. Er wollte sehen, was sich dort Fremdes verbarg, und ob gemeinsam mit anderen oder allein – er wollte wissen!
Als er diesen Entschluss gefasst hatte, bemerkte er, dass er in seiner Wut den Baum zerstört hatte. Seine Äste lagen auf dem Boden, zerbrochen und zertreten. Er betrachtete sein Werk und fand, dass es gut war, und lief zum Dorf zurück, um den anderen von seinem Vorhaben zu berichten.
Der Wind von Irgendwo von Anfang an lesen
Erst Kapitel 11 lesen
Es war, als wollte die Nacht die letzte werden, die sie alle erlebten, so stark war das Unwetter mit Blitz und Donner. Es war, als wollte der Wind von Irgendwo die Welt aus den Angeln heben und sie ins Unbekannte schleudern. Starker Regen fiel fast waagerecht zu Boden, getrieben von starkem Wind. Die Gräser gingen zu ihrem Schutze in die Knie, Büsche machten sich flach, Bäumen stemmten sich der Gewalt entgegen. Der trockene Boden sog zunächst auf, was er erhielt, doch bald schon wuchsen Pfützen zu kleinen Seen.
Vom vor Nässe dunkel werdenden Holz der Häuser strömte das Wasser in Rinnsalen zu Boden, als seien die Wände selbst fließend, und zwischen den Häusern begannen Bäche zu gurgeln. Blitze zuckten wie Sprünge in einer Glaskuppel, und Donnerschläge brachten die Wände zum Zittern.
Tsam lag im Bett und starrte an die Decke, unter der sich die Geister tummelten, die seinen Schlaf gefangen hielten. Er sah sich nach rechts um und sah dort einen tief schlafenden Mark, und ab und zu glaubte er Marks gleichmäßiges Atmen hören zu können, aber da war er sich nicht sicher. Bei jedem Blitz zuckten Gespenster der Dinge auf, die im Raum waren. Sie zeigten sich kurz, um ihn zu ängstigen und verschwanden danach wieder im furchterregenden Schleier der Dunkelheit.
Ein mächtiger Donner rumpelte über das Land, und gleich darauf wurde es in dem Zimmer für eine ganz kurze Zeit wieder gleißend hell.
Tsams Herz schlug aufgeregt. Als kleines Kind hatte er stets Furcht vor Gewittern gehabt, und Maraim hatte ihm dazu stets böse Dinge gesagt: »Da kommt ein Drache, und der ist böse. Böse, weil du Pepe nicht geholfen hast. Jetzt kommt der Drache und holt dich.« Langer Zeit hatte es bedurft, bis Tsam derlei Schrecknisse überwunden hatte. »Da ist kein Drache«, hatte seine Mutter einst gesagt. »Maraim wollte dir nur Angst machen. Du bist ein ganz lieber Junge.« Doch heute Nacht glaube er fest an den Drachen.
Tsam stellte sich vor, wie die ferne Bergkette zum Leben erwachte und sich als der Drache zu erkennen gab, der Jahre geschlafen hatte, und der sein Maul nun aufriss: Die Corrin-Höhle, die wuchs und wuchs. Sie war dunkler als die Nacht, und der Drache schob sich mit Blitz und Donner vorwärts, immer weiter auf das Dorf zu.
Die Wände seines Zimmer bewegten sich. Zunächst vibrierten sie nur ein wenig, schoben sich dann aber mit jedem Blitz, der das Zimmer erleuchtete, weiter zusammen. Schließlich umschlang ihn seine Decke, dass er seine Arme nicht mehr bewegen konnte, so sehr er es auch versuchte. Fast ohnmächtig vor Angst wagte er nicht, zu schreien, bis ihm der Atem dazu fehlte.
Er schloss die Augen und versuchte, sich zu beruhigen und sich bewusst zu werden, dass Decken nicht lebendig wurden und sich um Körper wickelten, und Wände auch nicht näher kamen. Es gelang, auch wenn Donner auf Donner folgte. Als er endlich wieder die Augen öffnete, fiel sein Blick auf die Zimmerdecke über ihm. Draußen tobten Regen und Blitz. Der Wind von Irgendwo, hieß es, brachte alle auf andere Wege. Nichts sollte danach mehr so sein wie früher. Der Wind von Irgendwo war gut. Man sollte sich ihm beugen, man sollte wie das Gras sein. Man sollte ihm nicht die Stirn bieten, und man sollte ihm entgegengehen, denn er käme auf jeden Fall.
Man hatte aufbrechen wollen in eine bessere Zukunft, man hatte die Dinge ändern wollen! Doch nun stellte sich die Frage: Waren sie reif dafür? Waren sie in der Lage, dem Neuen zu widerstehen oder mit ihm glücklich zu werden? Hatten sie nicht noch irgendwo tief in sich eine unüberwindbare Furcht, die sie daran hinderte, eine neue Zukunft wirklich befreit zu begehen?
Heute Nacht saßen sie in ihren Häusern und kauerten vor Angst, plötzlich wollte niemand von ihnen mehr so mutig sein, aufzubrechen, da war sich Tsam sicher. Der Wind von Irgendwo: nun war er böse, durchtrieben und unglaublich mächtig.
Tsam zitterte bei dem Gedanken, dass dieser Wind es war, der um die Häuser strich, dass dieser Wind es war, der Tod und Verderben brachte! Dass dieser Wind die Angst brachte.
Und Maraim!
Tsam sah ihn, auf das Dorf zukommen, vom Regen und Wind umtost, wie ein Fels, der heran gerollt kam. Nichts konnte ihm etwas anhaben. Sein fetter Leib war vom Regen durchtränkt, seine Augen waren groß und aufgequollen, überall hüpften Frösche um ihn herum. Maraim kam auf das Dorf zu, und nichts konnte ihn aufhalten, denn er kam mit dem Wind, und der Wind war sein Verbündeter! Der Wind von Irgendwo hatte Maraim geschickt.
Seit dem Feuer, an dem Morkus das Buch herausgekramt und das farbige Bild darin gezeigt hatte, seit Tirata gekommen war und ihnen gesagt hatte, dass die Zeit zur Erkundung der Höhle gekommen war, war alles anders. An dem Abend war der Funke aufgeflammt, nachzusehen. Was hatte dieser Funke letztlich gebracht? Angst und Zweifel hatte er gebracht. In den luftigen Höhen des allmählichen Hinterfragens hatte er in ihnen einen Brand der Furcht und des Entsetzens ausgelöst, und nun waren sie nicht in die Höhle gegangen, sondern hatten sich in die dunklen, verborgenen Tiefen ihrer verbarrikadierten Häuser und ihrer Seelen geflüchtet und fanden dort nur Zweifel und Grauen.
Der Wind von Irgendwo wütete draußen schon. Ers war nicht so, dass er einfach nur langsam auf sie zukam: er war bereits da, er hatte das Dorf schon längst erreicht und wütete darin.
Tsam blickte nach rechts und sah Mark dort fest schlafend, ihm den Rücken zugewandt.
Wie dumm Tsam sich verhalten hatte! Er war fortgelaufen und hatte Mark stehenlassen – oder hatte er sich dumm verhalten, als er Mark mit seiner Trauer belästigt hatte? Oder hatte er sich gar nicht dumm verhalten?
Er wusste nicht mehr, was er denken sollte. Mark hatte ihn in den Arm genommen, und er schämte sich dafür. Mark interessierte sich für Sarah, er selbst war bei dem Anblick Alkas in Verzückung geraten.Zwar hatte er Alka heute nicht gesehen, aber nur weil er niemanden hatte sehen wollen. Alka hatte er nicht niedergeschmettert in die Augen sehen und ihr sagen wollen, wie schlecht er sich fühlte. Und dann war Mark gekommen, fast ebenso zerrissen wie er, zeitweise genauso außer sich wie er, und er hatte Mark all seine Schwäche gezeigt … – warum bloß? Er schloss für einige Augenblicke die Augen und schüttelte sich vor Scham. Mark war sein Freund, aber mehr war er nicht. Wie hatte er sich nur ihm gegenüber zu solch einer Schwäche hinreißen lassen können?
Tsam hörte den Regen peitschen und den Wind keuchen, während Drache sich weiter näherte. Um das Dorf in Schutt und Asche und legen! Tsam stellte sich vor, wie die Blitze statt aus Wolken aus dem Maul des Drachen kamen. Die Donnerhalle waren die kraftvollen Tritte dieses mächtigen Wesens der Rache. Tsam sah hinter der Echse einen großen, öligen Ozean, der durch die Berge bislang verdeckt gewesen war. Wären die Menschen des Dorfes nur einmal dort heraufgeklettert, hätten sie ihn sehen können! Dieser Ozean brodelte und brandete mit Wucht an die Berge, und mit jeder Welle spülte er grüne, zischende Schlangen ans Ufer.
Da hielt es Tsam nicht länger im Bett, und er sprang mit rasendem Herzschlag zum Fenster. Dort unten stand sie. Stand im Regen, ungerührt. Stand etwa zwei Häuserspannen entfernt. Trug beulenartige Auswüchse und Deformationen an allen Seiten zur Schau, zwischen denen das Regenwasser hinab perlte. Tsam war klar, wer dort unten stand, ohne sich zu regen. Diese Gestalt stand einfach da und blickte ihn an. So sehr Regen und Wind auf den Körper schlugen, sie rührte sich nicht.
Tsam wurde schwindelig vor Angst und vermochte nichts weiter zu tun als reglos auf die Gestalt zu starren und zu hoffen, dass er lediglich einer Einbildung erlag.
Da hörte Tsam die Frösche quaken. Sein Herz setzte aus. Da wieder. Und er meinte, dass vielerlei Kleines um diese Gestalt hüpfte. Tsam sah das Wasser auseinander speien, wenn diese kleinen Körper im Wasser hüpften.
Tsam war klar, dass dort draußen niemand war, dass dort draußen keine Gestalt Regen und Sturm trotze. Und dennoch sah Tsam sie, wie sie dastand und zu ihm aufblickte.
Da zerriss ein Blitz der Dunkelheit, und Tsam erkannte die dreckverschmierten, nassen Züge seines Bruders, dessen Mörder Tsam zu sein glaubte, und Maraim stand da und schien zu lachen, und bei jedem Blitz konnte Tsam Maraims höhnisches Lachen sehen.
Tsam drehte sich zu dem schlafendem Mark um, wollte ihn wecken, ließ es dann aber, denn diese Gestalt dort draußen ob eingebildet oder nicht war nur seinetwegen gekommen, und Mark hatte damit nichts zu tun. Tsam war der Bruder des Phantoms, nicht Mark.
Es galt, etwas zu unternehmen, vielleicht Maraim um Gnade anzuflehen. Doch wie sollte man etwas gegenübertreten, was aus dem Unbekannten kam? Ob Maraim geradewegs aus der Corrin-Höhle gekommen war, vom Drachen ausgespuckt, um Rache zu nehmen?
Ich gehe hinaus, dachte sich Tsam. Ich gehe hinaus und gebe mich ihm hin.
So ging er tatsächlich los. Wäre Mark wach gewesen, hätte er einen aufgebrachten, aber schlafwandelnden Tsam gesehen, der, schwer keuchend, aus dem Zimmer herausging, ohne zu wissen, was er tat. Und Mark hätte ihn wohl wecken können, wenn er ihn nur kräftig genug geschüttelt hätte.
Tsam ging die Treppe hinunter in die dunkle, dumpfe Küche. Er öffnete die Tür, Frische peitschte in die Küche, und Tsam ging mit nackten Füßen in die Nacht hinaus. Er trat schlurfend durch das Wasser, das mehr als knöchelhoch stand, und Haare und Kleidung waren nach Sekunden schon triefnass. Tsam ging auf etwas zu, was nicht existierte, doch für ihn war es vollkommen real. Er sah Maraim ein paar Meter entfernt stehen, und Frösche hüpften an diesem herab und fielen platschend ins Wasser zu seinen Füßen. Tsam sah Maraim in ein eigentümlich graues Gesicht, angesichts der Verwesung verzerrt, und er blickt in Maraims Augen voller Bösartigkeit. Tsam blieb stehen und sah ihn an. Er wollte wissen, was er zu tun hatte. Ein heftiger Windstoß riss ihn fast zu Boden, und als ein Blitz aufkam, erkannte Tsam Maden in seines Bruders Gesicht. Maraim sagte nichts, starrte ihn nur an aus toten, bösen Augen, umtobt von Gewitter und Kälte, und schließlich hob Maraim den rechten Arm und zeigte auf den Bach in der Ferne. Tsam nickte und ging, von Maraim gefolgt, dorthin, und als er dort war, drehte er sich zu Maraim um und sah ihn nicht mehr. Und schlagartig wurde ihm klar, dass es Maraim nicht mehr gab. Maraim war tot und existierte nur noch in seinem Kopf. Er wurde verrückt durch dieses Phantom, das das Dorf bedrohte. Und wenn diese Bedrohung nur in seinem Kopf existierte, war er, Tsam, die Bedrohung. Er sah zu dem Bach, der durch die starken Regengüsse zu einem Flus voller Gischt angeschwollen war. Tsam nickte und schluckte. Ja, Maraim war tot. Und er selbst war verrückt. Er sah zur schlafenden Echse herauf und erkannte nur Berge. Er bildete sich ein, in das klaffende Maul der Hölle zu sehen und sah nur eine Höhle. Er wurde sich bewusst, dass es keine Phantome gab außer in seinem Kopf. Sollten diese Phantome durch ihn leben, so würden sie mit ihm sterben. Und geistesverloren ließ er sich, gefolgt von Blitz und Donner, in das Wasser fallen. Und der Wind fegte die Kreise, die er auf dem Wasser hinterlassen hatte, fort.
Wind und Regen tobten um Morkus‘ Haus, und seine Frau lag in tiefem Schlaf. Er saß in der großen Wohnküche. Das Innere des Hauses lag in holzigem Geruch, und das Feuer, räucherte diesen Geruch.
Morkus war müde, doch er konnte nicht schlafen, zu laut tobte es draußen. So saß er in der Wohnküche und beschäftigte sich mit allerlei Bildern, die das Feuer an die Wände malte. Es erschuf fremdartige Dinge aus dem Stuhl, aus den Stühlen, aus den Töpfen, die an einem Balken hingen, aus dem Balken selbst. Es ließ sie tanzen und flackern, lies sie verschmelzen und auseinander driften. Betäubt durch die Wärme und das Flackern des Feuers und eingelullt in Müdigkeit, erkannte er Gestalten in den Schatten dort an den Wänden.
So meinte er, Tirata zu erkennen, die mit all ihren Vorgängerinnen tanzte. Er sah Dinge, die so merkwürdig waren, dass er sie sich lediglich hinter den Bergen vorstellen konnte, wo nie zuvor ein Mensch gewesen war. Er sah große Vögel, die weit oben am Himmel flogen, so hoch, dass das Dorf nur ein kleiner Fleck war.
Er dachte an das Bild, das den Mann zeigte: er fand, dass nichts Angsteinflößendes an ihm war, und er sah die Notwendigkeit, das Unglaubliche zu wagen. In die Tiefen hinabzusteigen, in die Tiefen des Berges, in die Tiefen ihrer Angst: hinein in die Höhle ! Wenn etwas Gutes darin war, dann wäre es gut, es zu entdecken, denn Gutes tat nichts Böses. Dann sollte sich offenbaren, dass all die Angst, die das Dorf beherrschte, unbegründet war.
Und sollte doch etwas Böses darin sein, das alles bedrohte, so war es den Versuch wert, dieses Böse zu finden und mit vereinten Kräften auszuschalten. So oder so: die Notwendigkeit bestand. Wenn das Böse darin herrschte und sich letztlich als unbesiegbar herausstellen sollte, dann konnte man noch immer fortgehen.
Eine innere Stimme fragte in ihm flüsternd: »Wohin?« Und im Halbschlaf, antwortete er im Geist: »Der Wind von Irgendwo wird uns schon treiben.« Morgen würde er mit den Leuten beraten, und Tirata würde ihm zustimmen. Niemand würde sich der Wahrheit, die in seinen Gedanken steckte, entziehen können. Es mussten nicht alle mitgehen auf die Entdeckungsreise! Aber er würde mitgehen!
Blitze zuckten, und fast augenblicklich darauf krachte ohrenbetäubender Donner, und Morkus fuhr hoch. Er hatte nicht geschlafen, vielleicht ein wenig gedöst, aber das nicht lange, das wusste er. Er hatte nicht einmal die Augen geschlossen.
Erneut betrachtete er die Schatten und meinte, den Mann aus der Höhle zu sehen, wie er in dem Buch gezeichnet war. Wer er wohl war? Und wer ihn wohl gezeichnet hatte?! Wer, wenn niemand aus dem Dorf? Wo war denn dieses Irgendwo, dieses Anderswo, wo der Mann lebte oder einst gelebt hatte? Warum war niemand darauf gekommen?
Und dann sah er Maraim.
Drohend, dick und furchteinflößend war er zu sehen als Schatten an der Wand, und Morkus erstarrte, und es blitzte und donnerte einige Male. Er saß auf dem Stuhl und sah Maraim in dessen schattenhaftes Antlitz an der Wand.
Morkus umfasste seine Mistforke fester. Er konnte nicht verleugnen, dass sich sein Magen zusammenkrampfte und ihm der Schweiß ausbrach. Doch trotz allem konnte diese Schattengestalt nichts weiter sein als ein Schatten, ein Nichts! So stand Morkus trotz aller Angst auf, die Holzbeine des Stuhls schabten seufzend über den Holzboden. Es blitzte, alles wurde schlagartig blendend weiß und sofort darauf wieder feuerrot. Der Donner krachte. Morkus schritt auf den Schatten zu, der nach wie vor Maraim zeigte. All die anderen Dinge, die er aus dem Schatten erkannt hatte, waren längst wieder verschwunden. Tirata beim Tanz mit ihren Vorgängerinnen hatte er, nachdem er sie erkannt hatte, gleich wieder aus den Augen verloren, ebenso wie die Vögel und die anderen Dinge: Bären, Bäume, Häuser, Freunde, und auch den Mann aus der Höhle.
Doch Maraim war immer noch da.
Er stand nun zwei Meter von dem flackernden Maraimschatten entfernt und sah ihm ins Antlitz. Das Feuer brachte Maraims Augenhöhlen zum Brodeln, und Morkus war kurz davor, einen Schritt zurückzutun, doch dann entschied er sich anders. Er nahm seine Mistforke und stach auf den Schatten von Maraim ein, immer und immer wieder, und die Wand bekam Löcher über Löcher, und das Einfahren der Gabel ins Holz machte dumpfe Geräusche. Es blitzte, es gab einen gewaltigen Donner, und Morkus erblickte Maraim nicht mehr. Der Schatten war verschwunden.
Alles war verschwunden, und Morkus sah das erste Mal in seinem Leben klar.
Der Wind von Irgendwo von Anfang an lesen
Erst Kapitel 10 lesen
Der nächste Morgen begann mit ungewohnter Nervosität.
Männer und Frauen strichen wie abgefallene Blätter durch das Dorf und änderten immerzu ihre Richtung. Mark spürte, dass etwas vorgefallen sein musste – und das allein schon war etwas Bedeutsames, denn in diesem Dorf geschah nie etwas.
Er war durch Stimmen von draußen geweckt worden; ein höchst seltsamer Umstand. Er bemerkte, dass draußen ein starker Wind ging, der um das Haus pfiff.
Mark sah zu Jessicas leerem Bett hinüber und ließ seinen Blick eine Zeitlang dort haften. Erstmals wusste er, dass Jessica die ganze Nacht über nicht in ihrem Bett gelegen hatte.
Stattdessen hatte sie die Nacht in diesem Haus der Wahrsagerin verbracht. Instinktiv fragte er sich, was Jessica dort wohl vorfand. Das Haus war so brüchig, dass seine Zeit wohl bald kommen musste. Und was tat Jessica dann? Ins Dorf würde sie nicht mehr zurück kommen können als eine von ihnen, schließlich war sie nun eine Geheimnisvolle geworden, und Mark konnte diesen Gedanken kaum klar fassen.
Er stand auf und blickte aus dem Fenster nach draußen. Dort unten sprachen einige Leute aus dem Dorf wild miteinander, auch sein Vater war unter ihnen. Mark sah trotz der Entfernung aus ihren Zügen Entsetzen, und sein Magen begann vor Aufregung zu jucken.Mit Grauen dachte er daran, dass man Maraims Leiche gefunden haben mochte, weit ab in einem Feld. In gewisser Weise hatten sie alle gemordet und einen Menschen auf dem Gewissen, das wusste jeder. Die Vorstellung von Maraims Rückkehr als lebender Toter, der an Ihnen Rache nahm, nistete sich in seinem Kopf ein und wich nicht mehr.
Gleichzeitig kam ihm ein weiterer Gedanke: Dass man nämlich damit begonnen hatte, Jessica zu töten, denn sie wandten sich von ihr ab wie von Maraim. Wer nicht dazu gehörte, wurde verjagt oder gemieden!
Ekel kam in ihm auf, doch seine Neugier war stärker. Er wollte erfahren, was geschehen war. So lief er hinaus, nur mit einer kurzen Hose bekleidet, die er zum Schlafen getragen hatte und gesellte sich zu der Gruppe.
Der Wind war heftig, und es war dermaßen kühler geworden, dass Mark sogar ein wenig fror. »Was ist denn los?«, fragte er und sah in die Runde. Aus dem hektischen Durcheinanderreden bekam er Wortfetzen mit wie: »Jetzt holen sie uns.«
»Sie werden keine Gnade mehr kennen.«
»Erst die Tiere, dann wir.«
»Was tragen wir doch alle für eine Schuld in uns.«
Mark erhob die Stimme. »Aber was ist denn los? Was, um alles in der Welt, ist passiert?«
Mark traute seinen Augen nicht. So etwas hatte er noch nie gesehen. Da er sich Derartiges auch nie hatte vorstellen können, fehlten ihm jegliche Worte. Keine Frage, hier war tatsächlich etwas vorgefallen, und wer oder was dies hier angerichtet hatte, für das hatte niemand im Dorf einen Namen. Im Dorf kannte man Wahnsinn lediglich aus Erzählungen, die so furchterregend waren, dass viele Kinder sich vom abendlichen Feuer lösten und nichts mehr hören wollten, und auch den Erwachsenen trieb es den Angstschweiß auf die Stirn.
Er stand mit über der Hälfte des Dorfes auf einer Weide in einiger Entfernung des Dorfes, auf der Kühe gestanden hatten – nun lagen sie auf dem Boden, dahin geschlachtet mit Rissen in ihren Körpern. Aus einigen hingen die Gedärme heraus wie ein Haufen rosiger Würmer. Einigen fehlte der Kopf, und rund um die etwa zehn Kadaver war die Wiese von riesigen Blutseen getränkt. Die übrig gebliebenen Kühe standen wie verloren abseits der Gruppe aus dem Dorf, die fassungslos dastand.
Einige Frauen weinten, denn hier lagen mehr als nur zehn Kühe auf der Weide – hier lagen auch kostbare Vorräte, und wer konnte so grausam sein, dem Dorf einen solchen Schaden zuzufügen? Die Kühe waren regelrecht zerstückelt, andere zur Hälfte ausgenommen … und auch jeder aus dem Dorf schon einmal beim Ausnehmen eines Tieres zugesehen oder mitgemacht hatte, so unterschied es sich erheblich von dem, was sie hier sahen.
Schweigend machte Mark sich auf den Rückweg, neben ihm schritt Jalia, eine Frau fortgeschrittenen Alters, und sie weinte leise in den Wind hinein. Neben ihr ging ihr Mann Mika mit starrem Blick.
Mark wollte ein Wort sagen, wollte zu ihnen sprechen, doch ihm fehlten die Worte. Auch er hatte Angst, eine Angst, die noch nie so ergreifbar wie nun. Der Himmel wurde zu einer brüchige Glocke, da das, was außerhalb ihrer war, immer heftiger gegen sie stieß.
Jessica, was weißt du nur, dachte er sich, und er wusste nicht, was er von allem halten sollte. Nur wusste ihm endgültig klar; dass nichts mehr so wie früher war. Was ihm nicht klar war, war die Frage: Warum?
Der Tag begann und verlief schweigend. Mit dem Leben der Kühe hatte man den Dorfbewohnern auch die Stimme geraubt, und so blieb es bis in die Nacht, vor der sich alle fürchteten. Schließlich war auch das, was die Kühe getötet hatte, in der Nacht gekommen. Nun fürchteten sie auch den neugierigen Blick der Augen des Himmels, die auf sie herabblickten. Man aß schweigend, begegnete sich schweigend, und mit den verstreichenden Stunden wurde für alle klar, dass man sich an ihnen rächte. Mark ging mit schnellen Schritten und klopfendem Herzen zu Tsam. Er klopfte an die Tür des Hauses, trat ein und fand es leer vor. Wind huschte hinein und wirbelte Staub auf, und als Mark die Tür schloss, wurde es totenstill.
Mark sah sich um und rief Tsam, kurz und leise, als galt es, einen schlafenden Riesen der Rache nicht zu wecken und auf das Haus aufmerksam zu machen,
Wie oft war Mark schon in diesem Haus gewesen, und wie oft hatte er es leer vorgefunden. Wie oft war er durch die Räume gegangen, da er gedacht hatte, Tsam auf seinem Bett schlafend vorzufinden. Einmal hatte er Tsam dabei beim Onanieren überrascht, und Tsam hatte zwei ganze Tage nicht mit ihm gesprochen, so dass er sich nun wenigstens anmeldete, wenn er das Haus betrat.
»Tsam?«
Niemals war das Haus so verlassen, so leer erschienen, so still und staubig. Dies war das Haus, das alle Schuld trug, Hier war das Zentrum der Schuld des Dorfes. Hier klaffte ein Loch, das in die tiefsten Abgründe der Hölle zeigte.
Da hörte er leise, schlurfende Schritte, die anmuteten wie die eines Verletzten, und Tsam erschien wie ein Geist.
Mark erschrak, als er seinen Freund sah. Um sie herum regierte neben der Stille das Heulen des Windes und sonst Schweigen.
Mark trat einen Schritt vor.
In Tsam Augen standen Tränen.. »Weißt du, was das Dorf glaubt?«, fragte Tsam, und seine Worte schienen aus dem Jenseits zu kommen. »Sie glauben, dass jemand zurückkehrt.« Tränen rannen ihm über die Wangen. »Dass …« Er schluchzte ein paar Mal. »… dass Maraim zurückkommt!« Keuchend holte er Luft und stieß einen erstickten Laut aus. »Dass er sich an uns rächt! Dafür, dass wir ihn vertrieben haben!«
Beide warfen sich weinend in die Arme des anderen »Was haben wir getan?« fragte Mark zitternd. »Was haben wir nur getan? Wir haben das Dorf ins Unglück gestürzt! Wir haben alles zerstört!«
So standen sie da und hielten sich fest.
»Was sollen wir tun?«, wollte Tsam nach einigen Minuten wissen, und langsam trennten sie sich voneinander.
»Jedenfalls nichts überstürzen«, entgegnete Mark, und er erläuterte, dass nicht nur sie beide die Schuld treffen konnte. Es war das Dorf, denn wenn nicht alle gelacht hätten, wäre der Streich geahndet worden. Aber so hatten die Kinder, allen voran Mark und Tsam, den stillen Willen des ganzen Dorfes in die Tat umgesetzt, ohne sich etwas dabei gedacht zu haben. »Wir haben ihm nur seine Fiesheiten heimzahlen wollen. Wir wollten ihn nicht vertreiben.«
»Wir haben es aber getan!«
»Aber nicht allein! Alle haben gelacht! Alle haben ihn ausgelacht, alle haben es ihm gegönnt!«
»Aber er war mein Bruder! Er war aber mein Bruder! Mein Bruder!« Er klammerte sich erneut an Mark, in dem nun ein Gedanke keimte: Jessica zu helfen!
Als Tsam sich von ihm löste, sagte er: »Wenn doch wieder letztes Jahr wäre.«
Das Haus war und blieb still, alle waren auf der Weide und schafften die Kadaver fort. Es galt, sie zu verbrennen, um sie aus dem Blickfeld zu schaffen und das Böse gleich mit zu verbrennen.
»Das Haus wird heute vernagelt«, schluchzte Tsam. »Wenn Maraim kommen sollte, hat man Angst vor ihm, und er soll nicht hereinkommen.«
»Und das wegen eines Spaßes. Du kannst heute Nacht bei mir schla- …« Er schluckte. »Jessicas Bett ist frei.« Er setzte sich und sah zu Boden. »Dann sind wir beiden heute Nacht nicht allein.«
Tsam nickte stumm und dankbar.
Als es Abend wurde, flammte erneut ein Feuer auf. Diesmal jedoch versammelte man sich in der großen Scheune, wo man bei Regen das allabendliche Rund abhielt. Von der sonst vorherrschenden ausgelassenen Stimmung war nichts zu spüren. Stattdessen drängten sich alle zusammen und schlossen den Kreis eng um das Feuer herum, das geisterhafte Gesichter beschien. Es war, als seien die Toten auferstanden, um sich zu betrauern. Sie alle sahen eine dunkle, furchterregende Gestalt umherlaufen, wie sie von den Bergen oder aus dem Wald oder aus der Höhle zum Dorf kam mit schlurfenden Schritten, triefnass, glibberig vom Matsch und begleitet von einer Armee von Tausenden Kröten. Sie alle hatten aus Furcht davor ihre Fenster vernagelt oder schwere Möbel oder Wagen davor gestellt. Sie alle würden kaum schlafen in dieser Nacht, und in fast jedem Haus sollte es eine Wache geben, die Alarm schlug, wenn Maraim rächend zurückkehren sollte. Man hatte Ziegen, Schafe und Gänse in die Häuser geholt und sich Forken und Hacken neben die Betten gestellt.
Wind heulte um die Scheune, und alle sie schweigend da.
»Der Mann aus dem Buch«, begann Morkus schließlich nach Weile doch, »war wohl doch nicht der gute Geist, den ich herbeisehnte. Er ist wohl ein Monster.«
»Er ist ein wandelnder Toter«, sagte ein anderer, und sofort rückte man näher zusammen. Maraim zog draußen seine Bahn um das Dorf, da waren sie sicher.
»Wir brauchen Tirata. Sie wird uns sagen, was zu tun ist.«
Zehn Mann zogen aus, um sie zu holen. Sie waren bewaffnet, mit Fackeln bestückt, obgleich es noch hell genug war, um die Umgebung zu erkennen. Das Haus Tiratas stand da, umgeben von den Bäumen, die sich in den Himmel reckten. Die Männer folgten dem Pfad und blickten andächtig nach vorn, und das Haus, war für sie mittlerweile eine Art Zuflucht. Etwas Heiliges ging von dem Haus aus, und sie gedachten einer Tradition, die vor sehr langer Zeit in großen Häusern gepflegt worden war, in einem Steinquader Relikte heiliger Männer aufzubewahren. Man hatte diese angefleht, dass sie einem helfen mochten in der Not. Und Tirata war in diesem Quader aus Stein vor ihnen und sollte ihre Bitten erhören.
»Wir haben große Angst«, sagten sie ihr, als einer bei ihr angeklopft und Jessica ihnen geöffnet hatte. »Wir brauchen deinen Rat, dringender als je zuvor.«
Und Tirata hatte Jessica zu sich gewinkt und hatte die Männer in ihrem Beisein zur Scheune begleitet.
Die Männer, Frauen und Kinder ließen erschrocken ihre Köpfe auffahren, als die Scheunentür sich öffnete. Tirata kam herein, Jessica neben sich und sah in die Runde. »Angst habt ihr. Angst vor der Rache der Toten. Warum? Habt ihr ein schlechtes Gewissen?«
Mark sah wie alle anderen beschämt zu Boden, und Tsam konnte kaum noch atmen. »Ich habe von den Kühen gehört. Ihr habt sie verbrannt. Ihr habt eure Häuser verbarrikadiert. Und ihr stellt Wachen auf. Wegen der Rache der Toten.«
Das Feuer zuckte wild hin und her, und der Wind pfiff durch die Ritzen.
»Seht nach vorn«, riet Tirata lautstark. »Beugt euch dem Wind, denn er wird auf euch zukommen.«
»Aber er wird uns töten!«
»Er wird uns ein Loch in unser Leben blasen!«
Tirata schien jeden einzelnen von ihnen betrachten zu wollen, während das Feuer knisterte. »Der Wind ist mehr als nur eine Legende. Spürt ihr nicht schon seine Kraft? Wie seine Vorboten euch an den Haaren ziehen? Ihr könnt euch ihm nicht entziehen, weder mit Barrikaden noch mit Wagen, weder mit Möbeln vor den Türen, noch mit Feuer noch mit Hacken. Er wird kommen. Vielleicht schon heute Nacht. Er wird sich euch bald zeigen. Geht in die Höhle und seht dem Schrecken in die Augen. Die Macht, die um euch ist, ist zu stark und zu groß für euch. Fügt euch dieser Macht und tut, was sie sagt, dann wird euch nichts Schlimmes geschehen. Fügt euch schnell, werft euch auf den Boden und lasst den Wind von Irgendwo über euch hinwegfegen, umso schneller ist er fort. Und nehmt an, was er euch hinterlässt. Es wäre nur einfacher für euch. Und Lorn.«
Lorn sah erschrocken auf, und sein Blut war wie Eiswasser.
»Deine Tochter ist ein gutes Kind. Und sie ist noch ein Kind und auch noch deine Tochter, ob du willst oder nicht. Du aber bist ein Barbar und schlechter Vater. Und du bist nicht besser, Weib. Euch soll der Wind von Irgendwo Steine in eure Gesichter schlagen, auf dass ihr entstellt und hässlich euch im Haus einschließt, um niemandem mit eurem widerlichem Anblick einen Schreck einzujagen. Ihr seid Abschaum, und ihr seid mehr Kind als Jessica. Ihr alle seid mehr Kind als Jessica.« Nach diesen Worten drehte sie sich um, und Jessica warf einen traurigen Blick auf ihre Eltern, die mit Tränen in den Augen ihr nachsahen.
So gern Jessica auch wissen wollte, was die Welt im Innersten zusammenhielt und bei Tirata war, so sehr sehnte sie sich danach, in ihrem eigenen Bett schlafen zu können, das in ihrem Elternhaus stand.
Doch der Wind blies sie davon fort.
Der Wind von Irgendwo von Anfang an lesen
Erst Kapitel 9 lesen
Wind strich über die Landschaft und brachte ersehnte Abkühlung. Er strich über die Landschaft wie schon seit Jahrtausenden zuvor, als die Berge noch schroffer gewesen waren. Der Wind formte die Landschaft, und er war wie ein schwer arbeitender Mann, der die Berge zu Hügeln abtrug, der Sand mit sich trug und so manche Skulptur schuf. Der Wind strich und strich und machte aus der Landschaft in Jahren, die kein Mensch zu überblicken vermochte, eine neue, eine sanftere; Höhlen und Gänge wurden gefräst, Steine geschliffen und ausgehöhlt, und in einer enormen Zeitspanne dann gingen die Steine in Wind über. Nichts trotzte ihm, nichts konnte sich ihm entziehen, wenn er, die Welt verändernd, über sie hinwegstrich und schliff und feilte, als wäre er mit der Welt nicht zufrieden. Der Wind war ein Künstler, der Jahrmilliarden lang schuf und schliff, und der, niemals mit dem zufrieden, was er schuf, stets damit beschäftigt war, seine Schöpfung perfekter werden zu lassen. So wie er schroffe Bergspitzen abtrug, so erschuf er auch so manche spitze Felsenkante, die dünner und dünner wurde und immer mehr anmutete wie eine schäumende Welle in brandender See.
Der Wind sollte erst dann zufrieden sein, wenn das Ende aller Tage gekommen war und nichts mehr da sein sollte, das es zu schleifen galt – wenn die Skulptur im Feuer der Zerstörung und Neuschöpfung geschmolzen und als Festes verlorengegangen war; erst dann sollte es keinen Wind mehr geben, der über die Lande strich und schuf und schliff und feilte und höhlte. Mit dem Vergehen der Skulptur verging auch der Künstler und würde dennoch nie versiegen, wenn ein anderer Teil von ihm ferne und unbekannte Skulpturen schliff über Milliarden von Jahren. Der Wind war unermüdlich und unsterblich, er, der Künstler von Skulpturen, deren Gesicht sich stets veränderte mit Epochen und Neuerungen.
Auch nun kam er wohlig und unbekannt über die Welt und blähte das schlaff gewordene Segel des Schiffes des Lebens, mit dem sie auf eine Sandbank gelaufen waren.
Grüne Wellen brandeten um das Schiff und drückten es unermüdlich in eine bestimmte Richtung, und die Fische des Ozeans sprangen und hüpften aus der grünen und blütenbunten Gischt heraus, und etwas kam in Bewegung.
Mark stand mit Tsam nackten Fußes im Wasser des Bachs nahe dem Dorf und ließ seine Blicke über eine Landschaft wandern, die er erst nun mit all ihren Einzelheiten erkannte, die er erst nun mit all ihren Einzelheiten aufzusaugen begann und war verblüfft über die vielen Kleinigkeiten, die ihm nun auffielen.
Plötzlich war er in der Lage, eine Distanz zwischen dem Dorf und dem Frauenbaum zu sehen – etwa so groß wie zweimal das Dorf hintereinander.
Die Bergkette lag, sah man vom Dorf zu Tiratas Haus, zur Linken des Dorfes, und sie war noch sehr viel weiter entfernt; vielleicht zehnmal das Dorf hintereinander und dann noch drei Male zehnmal das Dorf. Die Bäume, die die Berge bewuchsen, bildeten einen Wald entlang der Berge, die immer wieder von einigen Strecken von fünfmal das Dorf unterbrochen wurde, und bewachsen mit Wildwuchs aus Wiese, Blumen und Büschen.
Die Felder und Koppeln reichten nur zweimal das Dorf weit zur Bergkette hin, dafür aber sehr viel weiter in alle anderen Richtungen. Der Bach, in dem sie standen, war nur einmal das Dorf vom Dorf entfernt, ebenso wie Tiratas Haus – und so stellte Mark fest, dass Tirata gar nicht so weit vom Dorf entfernt lebte, wie er immer angenommen hatte, wenn er darüber nachdachte, dass die Bergkette mit dem schrecklichen Schlund der Corrin-Höhle so viel weiter entfernt war.
Und diese Höhle: sie lag so weit oben wie drei Male zehnmal die Höhe der Bäume um Tiratas Haus.
Hinter diesem schwang sich Landschaft mit Waldstücken und Koppeln, sie sich dazwischen schmiegten, und wilde Wiesen. Es gab überall zahlreiche Baumgruppen, Büsche, Sträucher und Wiesen, die sich ohne jegliche Ordnung ideal ergänzten.
Hinter dem Dorf, also in entgegengesetzter Richtung, sah er einen großen, dichten Wald in einer Entfernung von etwa zehnmal das Dorf. Es war der große Wald, in den niemand einen Fuß hineinsetzte, weil dort Dinge und Wesen lauerten, denen niemand gewachsen war.
»Tsam«, sagte Mark plötzlich und ließ seine Gedanken fliegen, »diese Wiesen sind so groß, größer als die Felder, ist dir das schon mal aufgefallen?«
Tsam schüttelte den Kopf. Er interessierte sich auch nicht dafür, wenngleich er seinen Blick über die Landschaft gleiten ließ. Für ihn sah die Welt so aus wie immer. Alles um ihn war nichts anderes als das, was das Dorf umgab, ohne es näher bestimmen zu können.
Mark tat einen Schritt im Wasser und sagte kein Wort. Und wie sie so gingen, huschten neue Gedanken durch Marks Kopf, und sie kreisten um so Vieles. Die Böen trugen das Gezwitscher der Vögel zu ihnen herüber, wie auch das Rausches des Windes in den Bäumen und Büschen. Das Wasser plätscherte, und es war so erfrischend kühl, dass Mark meinte, selten etwas derart Angenehmes erlebt zu haben. Die Hitze der letzten Tage war furchtbar gewesen. Sie gingen mit nackten Füßen über Steine und Sand unterhalb des Wassers, und sie entfernten sich mit der Strömung vom Dorf.
Mark dachte an Sarah und den weinenden Himmel. Er hatte mit Tsam darüber gesprochen, der gemeint hatte, dass der Himmel kaum darüber geweint hätte, da »der Himmel bestimmt Besseres zu tun hat, als nur darüber zu heulen, was du machst«, und es war Mark einleuchtend vorgekommen. Schließlich kam er zu dem Schluss, dass gleichzeitig im Dorf etwas geschehen war, dass dem Himmel mehr Grund zum Weinen gegeben hätte, und Schuld und Unbehagen waren von ihm abgefallen. Zudem hatte Tsam ihm auch gesagt, dass es »nicht falsch war, was du getan hast. Was sollte daran falsch gewesen sein? Dann müsste der Himmel dauernd weinen, wenn es einer tut.«
Und Mark fühlte sich nicht mehr bedrückt, im Gegenteil, er fühlte sich bestätigt. Zugleich hatte er aber auch entdeckt, dass er Tsam nun nicht mehr so blind vertraute wie früher und Sarah öfter vor Augen hatte als andere. Künftig sollte es Dinge geben, die nur Mark wissen sollte, da er fand, dass Tsam fortan nicht in alles eingeweiht werden musste.
Tsam spürte dies wohl, nahm es aber nicht übel, zumal es ihm in ähnlicher Weise mit dem Mädchen Alka erging.
Der Bach schlängelte sich weiter, in unbekannte Fernen, und sie waren schweigend dabei, ihnen entgegenzugehen. Fliegen und Bienen umsurrten sie, und hin und wieder scheuchten sie sie mit einer lapidaren Handbewegung fort.
»Was ist eigentlich mit deiner Schwester?«, brach Tsam das Schweigen, blickte aber auf das in der Sonne glitzernde Wasser des sanft fließenden Baches.
Mark zuckte mit den Achseln. »Sie spricht mit Tirata wie mit Ihresgleichen. Wir haben wohl eine spätere Wahrsagerin im Haus.« Ihm schauderte bei dem Gedanken, wenngleich er einräumen musste, dadurch dem Geheimnisvollen einen Schritt näherzukommen. Jessica war so jung und kindisch im Gegensatz zu ihm, und wie sehr hatte er sich immer darauf berufen können, sie mit Blicken, Worten und Gesten jederzeit zur Räson bringen zu können. Nun war es seine jüngere Schwester, die schon von allem mehr wusste als alle anderen im Dorf zusammen. Er kam sich wie ein Tölpel vor, der sich Zeit seines Lebens nicht der Tatsache bewusst gewesen war, überhaupt gelebt zu haben. Er verglich sich mit einem Träumer, der alle Zeit im Dämmerschlaf gelegen hatte, der nach Trunkenheit die Menschen überfiel. Er hatte die Konturen der Dinge nicht gesehen, er hatte die Dinge selbst nicht erkannt, und erst nun öffnete sich langsam das Auge des Wachen in ihm, das begann, die Dinge so zu sehen, wie sie waren. So sah er den Bach vor sich, wie er sich durch das Land schlängelte, immer weiter dorthin, wo er niemals gewesen war, wo er vermutete, dass der Bach in ein finsteres Loch stürzte und tobte, wo alle Zeit endeten und alle Gedanken und alles Leben nichtig werden würde.
»Was wohl aus Maraim geworden ist«, fragte Mark in geistesabwesendem Ton in den Wind. »Vielleicht findet man ihn in der Corrin- Höhle.«
Tsam schluckte schwer. »Man wird ihn nie finden.«
»Glaubst du, dass er tot ist?«
»Ich weiß es nicht.« Eiskalte Wellen jagten ihm über den Rücken und Angst erfasste ihn. »Bewahre mich das Leben davor, dass man ihn findet, wie er tot daliegt.« Er stellte sich furchtbare Bilder vor, wie Maraims fetter Leib im Gras lag, umwölkt von Fliegen mit grünen Körpern und von Ameisen, die ihn langsam abtrugen. Er sah Maraim mit offenen und erstarrten Augen daliegen. Der Mund war offen wie die Corrin-Höhle, und Insekten fraßen seine Därme. Er sah Maraims Kleider im Wind flattern, er sah Verwestes, er sah an dem Kopf blanken Schädelknochen, auf dem grüne Fliegen saßen, und Tsam begann zu weinen. Angst übermannte ihn, Schuld lastete auf ihm, Ekel spülte in ihm hoch und so stand er da im Wasser des Baches und weinte plötzlich. Der Wind wirbelte seine Haare durcheinander, das Wasser umspülte seine Füße und Unterschenkel. Tsam sah in die Ferne, in die der Bach floss, und am Ende aller Wege sah er Maraims halbverweste Leiche, wie sie auf ihn wartete, um ihm mit knochiger Hand die Därme zu zerfetzen, während Tsam vor Schmerz und Panik schrie und schrie.
Sein Weinen war leise und Mark wurde bei dem Anblick schwer ums Herz. Aus Schmerz hatte er Tsam schon oft weinen sehen, wenn er sich an Dornen die Haut aufgerissen hatte oder auf einen Stein oder von einem Baum gefallen war. Aber wann hatte er ihn so weinen sehen wie nun? Mark wusste es nicht, und so stand er gelähmt da und sah Tsam an, seinen Freund, mit dem er die Kindheit verbracht hatte und das Erwachsenwerden erleben würde, bis der Tod kommen würde – und er sah ihn weinen, und Mark wusste nicht, was zu tun war. War bis vor ein paar Tagen eine Umarmung noch etwas Selbstverständliches gewesen oder etwas, das ihnen Spaß gemacht hatte, so wagte es Mark nun nicht mehr, Tsam nahezukommen, ihn zu berühren oder tröstend zu umarmen.
Der Wind umspielte sie beide und zog an ihren Haaren, und Mark stand mit trockener Kehle in zwei Metern Entfernung von seinem Freund, den er wie einen Freund liebte, den zu berühren es sich aber nicht mehr schickte.
Mark hob einmal kurz die Arme, gewillt, näher zu treten, doch er blieb stehen und schaffte es nach langer Zeit, ein kaum vernehmbares »Komm schon« hervorzupressen, das der Wind hätte sagen können, so leise und tonlos, war es. Doch Tsam hörte es nicht, und war sich im Klaren darüber ob er sich Mark um den Hals werfen sollte, oder ob es besser war, fortzurennen, da er sich schämte.
»Es ist nicht deine Schuld«, sagte Mark leise. »Ich war es, der den Vorschlag gemacht hat. Hasse mich dafür und sieh mich nie wieder an, aber fühl dich nicht schuldig.« Ein Kloß wuchs in seiner Kehle. »Es tut mir leid, was ich getan habe«, gab er leise zu. »Ich hatte doch nicht wissen können, dass …«
Tsam wollte Worte sagen, für die er weder Kraft noch Luft besaß. Denn obwohl es Marks Idee gewesen war, hätte er nicht mitmachen müssen, er hätte allen den Streich ausreden können. So drehte er sich um und lief davon. Er schämte sich seiner Schwäche, vor Mark die Fassung verloren und geweint zu haben. Der Wind kam näher und näher, und er trieb alles davon wie Blätter eines Baumes im Herbst. Tsam drehte sich nicht zu Mark um, der noch immer im Wasser stand und ihm schweren Herzens nachsah und nun selbst Tränen vergoss. Und irgendwann einmal sollte oder konnte der Tag kommen, an dem Gewalt alles zerstörte – und wurden mit der Zeit wieder zu dem, was sie waren und standen zu ihren Gefühlen.
Als Mark Tsam fortlaufen sah, stürzte für ihn der Himmel ein, denn es war ihm nicht möglich, ihm zu folgen.
Und während Tsam ins Irgendwo lief, um dort von der Weite und Stille beschützt zu weinen, ging Mark in die andere Richtung des Irgendwo, das unendlich und überall um das Dorf war. Er ging den Bach weiter, darauf wartend, den großen Schlund zu sehen, in den der Bach stürzte und wo alle Zeit, alles Leben und alle Gedanken endeten.
Tiratas Haus war und blieb mysteriös. Abgeschirmt von der Sonne stand es nahe an den Bäumen, die nur Unverständliches von sich gaben, das nur von dem, der sie verstand, gehört wurde.
Jessica war abermals bei Tirata und sah sich die vielen Dinge an, die Tirata darin aufbewahrte.
»Je mehr du weißt, umso mehr tritt das Augenmerk für das wirklich Wesentliche in den Vordergrund. Wissen tötet Neugierde und weckt Interesse.«
Jessica wusste, was bevorstand. Sie wusste, dass man morgen aufbrechen wollte, um das Irgendwo zu ergründen.
Tirata war hinter einem Regal verschwunden, in dem sich viele Bücher stapelten. Obgleich Jessica wie jeder andere im Dorf wusste, was Bücher waren, so war niemand außer der Wahrsagerin befähigt, zu lesen und somit zu ergründen, was sich Geheimnisvolles zwischen den Einbänden verbarg. Tirata holte nun eines dieser Bücher hervor, und Jessica sah darauf, als die Frau damit auf sie zukam. Das Buch war so groß, dass es Jessica von den Fingerspitzen bis zur Armbeuge gereicht hätte. Da das Sonnenlicht keinen direkten Weg ins Haus hatte, war es zwielichtig im Raum, als Tirata sich zu ihr setzte und das Buch vor sich auf den Tisch legte. »Früher einmal gehörten Bücher zum normalen Leben«, begann Tirata, »und jeder konnte sie lesen. Nun, und das tat man auch.«
Jessica sah auf das Buch, das ihr nichts bot. »Und was stand darin?«
»Das kam auf das Buch an. Tatsachen, Ratgeber, aber auch Geschichten, und die haarsträubendsten dazu. Früher einmal zog man Wissen und Freude aus den Büchern.«
»Und warum jetzt nicht mehr?«
Tirata sah Jessica an und sagte lange Zeit nichts. »Nun, die Zeit können wir nicht aufhalten. Wenn es Zeit wird zu schlafen, gehen wir schlafen. Ist es Zeit, die Felder zu bestellen, bestellen wie die Felder. Und ist es Zeit zu sterben, dann sterben wir. Die Zeit bestimmt unser Leben, und wir, die wir nicht Herrscher der Zeit sind, sind ihre Sklaven. Wir fügen uns. Es muss so kommen, und es kam so. Die Zeit hat es bestimmt.«
Jessica verstand nicht viel von dem, was Tirata ihr sagte. »Aber warum sagen wir nicht einfach, dass wir uns nicht von der Zeit bestimmen lassen wollen?«
Über das faltige Gesicht Tirata huschte der Anflug eines Lächelns. »Wenn ich der Zeit sagen könnte, dass sie stillstehen solle, würde ich nicht älter. Und ohne Älterwerden kein Sterben – und das widerspricht der Natur. Alles vergeht einmal. Irgendwann werden Bäume schwach und morsch. Irgendwann begräbt ein Erdrutsch eine Wiese. Irgendwann versiegt ein Fluss. Und das ginge nicht ohne die Zeit. Was, wenn wir nicht stürben? Dann wären wir lebendig auf alle Zeit, und wir könnten denen, die nach uns kommen, sagen, was zu tun wäre und was sie lieber lassen sollten.«
»Das wäre doch gut, oder?«
»Der Mensch ist nicht zum Perfektsein geboren. Erst das, was nach ihm kommt, wird es sein.«
»Und was wird das sein?«
»Unsere Nachkommen in weiter, weiter Zukunft. Aber dann sind sie keine Menschen mehr – dann sind sie Götter.«
Wieder verstand Jessica nicht viel, doch sie vermied es, nachzufragen. Sie wollte ein kluges Kind sein, das mehr und mehr erfuhr, solange es nur so tat, das zu verstehen, was man ihm sagte.
Tirata wusste, wovon sie sprach. »Wenn morgen ein paar Männer aufbrechen, dann wird dies ein Schritt dahin sein. Aber was suchen sie, was meinst du?!«
Jessica überlegte. »Sie gehen in den Wald.«
»Und was sollten sie dort finden?«
»Böse Geister?«
»Vielleicht. Was noch?«
»Böse Schatten?«
»Möglich. Was noch?«
»Wölfe?«
Tirata winkte ab. »Was, wenn sie nichts anderes finden würden als einen Wald, der so aussieht wie ein Gruppe von Bäumen, wie sie überall stehen und wachsen, und zwischen denen Gras auf dem Boden wächst oder Pilze, oder zwischen denen einfach nur Laub liegt? Was, wenn in diesen Bäumen nichts anderes haust als die Vögel, die wir alle schon kennen?«
Jessica schürzte die Lippen. Für sie sah der Wald anders aus, und es überstieg ihre Vorstellungskraft, glauben zu können, dass nichts Böses darin war. Schließlich hatte es immer so geheißen, dass dort Böses hauste.
»Was ist Wahrheit, Jessica? Das, was alle erzählen, oder das, was wirklich wahr ist?«
Jessica sah Tirata an und verstand die Frage nicht.
»Stell dir vor«, fuhr Tirata fort, »jemand sagt, dein Pepe wäre kein Mann, sondern eine Amsel.«
Jessica kicherte und fand die Vorstellung daran lustig. »Ich aus einem Ei, und Mama als Glucke darauf …«
»Bleib ernst, Jessica«, ermahnte Tirata, und Jessica fuhr zusammen. Tirata sagte weiter: »Jemand sagt, dein Pepe Lorn wäre eine Amsel. Was würdest du ihm darauf sagen?«
»Dass mein Pepe mein Pepe ist. Und keine Amsel.«
»Warum kann er keine Amsel sein?«
»Weil ich weiß, dass er keine ist.«
»Nein, nicht nur das, Jessica. Weil du ein Mensch bist, und dein Vater auch. Und eine Amsel ist kein Mensch, sondern ein Vogel, eine Amsel. Also hat der, der das gesagt hat, doch gelogen, oder?«
Jessica nickte.
»Siehst du. Wenn jemand sagt, du seist Mark, dann sagst du doch, dass du Jessica bist. Weil du ein Mädchen bist und Mark ein Junge, kannst du nicht Mark sein. Auch der, der sagt, dass du Mark bist, hat gelogen – oder er weiß es einfach nicht anders. Verstehst du den Unterschied zwischen der Wahrheit und dem, was man sagen kann?«
Jessica verstand und nickte.
»Verstehst du jetzt auch, warum der Wald nicht böse sein muss, nur weil alle sagen, er wäre es?«
Wieder nickte Jessica.
Tirata klatschte befriedigt in die Hände. »Sehr gut. Jetzt nehme ich dich mit auf die Odyssee.« »Was ist eine Odisee?«
»Odyssee. Eine Reise. Ein Abenteuerspaziergang. Morgen, wenn die Neugierigen aufbrechen, brechen auch wir auf. Und jetzt geh zu deiner Familie nach Hause. Wir sehen uns morgen.«
Im Sonnenuntergang herrschte Stille in Lorns Haus. Weder Mark noch Jessica waren bisher gekommen, und obwohl sich Lorn und seine Frau nie um ihre Kinder gesorgt hatten, so war diesmal alles anders.
Die Kinder spielten nicht draußen, und es war so seltsam still, dass Lorn meinte, er sei allein im Dorf. Seine Frau war bei Nachbarn und sponn dort Fäden.
Auch er sollte morgen dabei sein, wenn man aufbrach, um ein wenig von dem Irgendwo zu sehen, das überall um sie herum war, Und wie üblich, konnte Lorn, verstrickt in die Ereignisse wie alle anderen, die Gründe für Aufbruch und Veränderung nicht recht nachvollziehen. Im Dorf, in dem alles seinen gewohnten Gang gegangen war, war eine Veränderung über Jahre hinweg schon schnell, so dass die Veränderungen der letzten Tage ein wahre Flut an neuen Eindrücken heraufbeschworen hatte, die niemand mehr verstand. Die Ereignisse waren ihnen allen aus den Fingern geglitten, und sie konnten nichts anderes tun, als auf den Wind von Irgendwo zu warten.
Die Tür öffnete sich und er drehte sich um. Im durch die Türöffnung fallenden Sonnenschein sah er eine kleine Silhouette Jessicas, um deren Konturen die Strahlen der Sonne leuchteten wie um eine Erscheinung aus einer anderen Welt.
Lorn saß mit verdrehtem Hals auf dem Stuhl und fühlte seine Kehle trocken werden.
»Hallo, Pepe«, sagte die Gestalt, und als sie aus dem Licht heraus- und in das Haus hineintrat, sagte Lorn nichts. Er sah sie nur befremdet an.
»Gehst du morgen auch mit den anderen?«, fragte Jessica unbekümmert und setzte sich zu ihm an den Holztisch.
Lorn saß da und starrte sie an. Er konnte das, was er empfand, nicht in Gedanken, geschweige denn in Worte fassen.
Jessica saß am anderen Ende des schützenden Holztisches und blickte ihn fragend an. Sie sah genauso aus wie früher zu Zeiten, da sie noch seine Tochter gewesen war. Aber nun suchte er Beweise in ihrem Gesicht, die darauf hindeuteten, dass sie verwandelt worden war.
»Pepe. Ist dir nicht gut?«
Es war so gespenstisch still im Haus, dass Lorn das Herz bis zum Hals schlug.
»Wo ist Mama?«
»Weg«, antwortete er geistesabwesend.
»Und Mark?«
»Weiß nicht.«
»Was ist mit dir?«
Wenn er es gewusst hätte, wäre er in der Lage gewesen, es zu überwinden, aber dieses Wesen da am anderen Ende des Tisches … – es sah aus wie Jessica, sie sprach wie Jessica. Aber da sie freiwillig zu Tirata gegangen war, war sie nun eine andere. Nicht mehr seine Tochter. In ihren Augen lag nun etwas Anderes, Neues. Er konnte daran erkennen, dass sie nun von Dingen wusste, die Tirata wusste und sonst niemand. Dingen, die sie verändert hatten. Er sah, wie Jessica ihn anblickte. Das Unschuldige, Kindliche war aus ihrem Blick verschwunden. Er hörte es in ihrer Stimme: Da schwang etwas mit, das er nie in Jessicas Stimme gehört hatte. Bislang hatte ihre Stimme stets nach kindlicher Neugier, kindlicher Unsicherheit, manchmal auch kindlichem Trotz geklungen, wie es sich für eine Kinderstimme gehört hatte.
Doch nun klang ihre Stimme anders. Wie sie ihn schon mit »Hallo, Pepe« begrüßt hatte. Wie eine Erwachsene hatte das geklungen, als sei Tirata in sie eingefahren und hätte aus ihr gesprochen. Wie reibend ihre Frage geklungen hatte, ob auch er morgen mit den anderen aufbräche. Und diese Mischung aus Fürsorge und Zweifel, ob etwas mit ihm sei.
Was Tirata auch immer seiner Jessica angetan hatte, es hatte sie ihm genommen, sie ersetzt gegen etwas anderes.
Er hörte sein Blut in den Ohren pochen. Es gab Geschichten von diesen ausgetauschten Menschen, die die Vorgängerinnen von Tirata immer wieder ins Dorf zurückgeschickt hatte. Diesen Ausgetauschten, die so verändert waren, dass man ihr Wesen nicht mehr wiedererkannte. Dass solch ein Wesen eines Tages in seiner Hütte stehen könnte, hatte Lorn nie für möglich gehalten.
»Wie war’s bei der Hexe?«, fragte Lorn nun mit erstickter Stimme wissen.
»Sie ist keine Hexe. Sie ist eine ganz normale Frau, die mehr weiß als wir. Mehr nicht.«
»Und was weißt du, was wir nicht wissen?«
»Sie hat mir viel erzählt.«
Lorn schauderte es. Er sah sich nachts in seinem Bett in schrecklichen, unwirklichen Träumen wälzen, in denen er von Dämonen auf Knochenpferden gejagt wurde, denen roter Dampf aus den Nüstern stob. Die Kreaturen auf den Pferden schwangen Sensen, an denen Blut klebte, und er sah sie mordend durch das Land ziehen, sah seine Nachbarn, Freunde und seine Familie mit Ausnahme Jessicas vor Angst schreiend durch das Dorf rennen, gehetzt von reitendem Tod und Moder, der die Menschen im Laufen zerfetzte, die Arme, Beine und Köpfe abschlug, seinem Sohn eine Axt in den Schädel rammte, dass Blut und Hirn eben ihm ins Gesicht spritzte, der daraufhin schrie und schrie, bevor er von einer Kreatur fortgetragen wurde, fortgetragen aus dem Dorf der Zerstörung, in dem zerfetzte Leichen zwischen brennenden Häusern auf dem Boden lagen, hingetragen zu Tiratas Haus, wo Jessica lachend saß und anordnete, dass man ihm das Herz aus dem Leibe reiße.
»Warum bist du nicht dort geblieben bei der Hexe?«, wollte er leise wissen, nicht wissend, wie sehr er damit seiner Tochter das Herz zerriss.
Jessica schluckte. »Weil es spät ist und ich nach Hause kommen wollte.«
»Ist dein Zuhause denn noch hier? Was willst du hier? Deine Sprüche aufsagen und uns verzaubern?«
»Tirata kann doch gar nicht zaubern«, verteidigte sich Jessica und spürte Tränen aufsteigen.
»Geh zu deiner Hexe. Geh zu ihr, wo jetzt dein Zuhause ist. Hier ist es nicht mehr. Und du bist nicht meine Tochter. Du bist jetzt ihre Tochter.«
»Aber Pepe …«
»Raus hier!« schrie er, so laut er konnte. Dabei schossen ihm Tränen in die Augen. Der Gedanke, nun ein Wesen zu sehen, das sich als seine Tochter Jessica ausgab, aussah wie sie, ohne sie wirklich zu sein, war für ihn reinste Folter.
Jessica zitterte weinend. »Pepe. Pepe!«
Lorn war außer sich. »Raus hier! Raus hier! Ich will dich nicht sehen! Verschwinde!« Und er weinte wie seine Tochter, die er nicht mehr als solche betrachtete.
Jessica lief aus dem Haus und sah nur die Möglichkeit, ihre Mutter zu suchen, die sich in irgendeinem Haus aufhielt, und so lief sie zu dem Nachbarhaus. Die Bewohner, die sich gut kannte und die sie gut kannten, sahen sich erschrocken um, und der Schrecken wollte auch nicht aus ihren Zügen weichen, als sie wussten, wer hereingestürmt war. Als Jessica mit heller, erstickter Stimme nach ihrer Mutter fragte, sagten sie ihr: »Tirata ist in ihrem Haus. Verschwinde.«
So erging es ihr in allen Häusern. Sie konnte nicht ahnen, dass sich ihre Mutter versteckt hielt, als sie sah, wer angelaufen kam. Sie weinte in ihrem Versteck, denn sie hatte keine Tochter mehr.
Und Jessica erfuhr den Preis, den man hier für das Wissen bezahlen musste.
EPISODE:
HERRIN DER ZEITEN
Längst Vergangenes dämmerte herüber, längst Verlorenes. Jessica war eingeweiht worden, indem Tirata ihr Stund um Stund berichtet hatte, was sie waren und woher sie kamen. Und all dies war so unfassbar gewesen, dass all das, was sie gehört hatte, zu ihr in den Schlaf kam und sie sanft weckte. Es rief ihren Namen, leise, flüsternd. »Jessica. Jessica. Wach auf.«
Sie wachte auf und lauschte der Zeit, die sie geweckt hatte.
»Komm, Kind«, sagte die Zeit, und sie war freundlich. »Ich nehme dich mit auf eine Reise.«
Wohin sie denn ginge, wollte Jessica wissen.
»Ins Irgendwo«, sagte die Zeit und streckt ihre Hand aus. Und für Jessica begann eine Reise durch die ewige, allgegenwärtige, stets verstreichende Zeit.
Die Reise ging weit, weit zurück, weiter, als man es sich vorstellen konnte.
Sie sah Glut, Feuer und gnadenlose Hitze. Heftige Stürme jagten über das junge Land, und viele Tiere rasten über den Planeten. In einer Sekunde wurden sie erschaffen und lebten und bevölkerten, in der nächsten starben sie aus und waren auf ewig verschwunden.
Dann erkannte sie ihr ähnliche Wesen, und die Zeit sagte ihr, dass dies Menschen wie sie seien, nur dass diese sehr viel früher gelebt hatten.
Diese Wesen, die ihr so ähnlich waren, machten sich die Welt untertan, sie lebten mit ihr, von ihr, aus ihr.
Sie sah wilde Formen und Menschenmassen, sie sah Dinge, die sie noch niemals zuvor gesehen hatte und war verwundert darüber, dass all dies schon einmal da gewesen war.
Die Menschen waren im Himmel, über der Welt und bald gar über den Himmel hinaus. Und das, was die Menschen dahin trieb, machte aus ihnen selbst etwas anderes. Ihr Denken stockte zum einen und verselbständigte sich zum anderen, und immer wirrer und schlimmer wurde das, was kam. Die Zeit, die raste, war mit den Menschen, wie es schien, denn diese wurden immer großartiger und besser, aber zugleich war die Zeit auch zu langsam. Es war, als hätte eine göttliche Intrige, die von solch hoher Stelle eingefädelt worden war, dass niemand sie verstand, die Menschen in eine Sackgasse getrieben, denn ihr Wissen wuchs schneller heran als ihre Fähigkeit, mit all den Auswirkungen des Wissens umzugehen.
Es waren diese Auswirkungen, die die Menschen, zerrüttet und von verschiedenen Glauben getrennt, zum Aufbruch trieben in ein anderes Zeitalter. Nach einigen Generationen hatte man die Herkunft vergessen, und nur einige wussten noch von ihr. Sie hatten sich dereinst in einer Höhle versteckt vor all denen, die sie niederstrecken oder mitnehmen wollten, und erst nach langer Zeit wagten sich die Menschen wieder hinaus.
»Siehst du«, sagte die Zeit, als der farbige Strudel der unglaublichen Veränderungen langsam im Hier und Jetzt zum Stehen kam, »so ist es gekommen, wie Tirata gesagt hat. Und es wird noch anders kommen. Der Wind von Irgendwo kennt keine Grenzen, und er wirbelt hin und her. Mal kommt er, mal geht er, mal verschwindet er, mal kehrt er zurück.«
Und Jessica fiel wieder in ihren tiefen Schlaf.
Ende des 10. Kapitels – Der Wind von Irgendwo geht weiter mit Kapitel 11: Die Geißel der Angst
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Der Abend brach mit einem blutroten Sonnenuntergang an. Die untergehende Sonne ließ die Zwischenwesen aus den Schatten erschienen, die immer größer wurden, je tiefer die Sonne sank. Sie zündeten ein Feuer an und es war in der hereinbrechenden Nacht wie eine Insel in allumfassender Verlorenheit, um die sie saßen wie und nicht mehr weiter wussten.
»Ich habe meine Frau, meine Kinder, und eigentlich bin ich glücklich«, sagte ein Mann am Feuer, und alle lauschten seinen Worten, die das Knacken des Holzes übertönten, und alle, wirklich alle hatten sich versammelt. Dieses Feuer war zu wichtig, um ignoriert zu werden. Der Mann sprach weiter, während alle wie betäubt ins Feuer blickten: »Ich bestelle meine Felder wie alle anderen auch. Ich mache all das, was alle anderen auch tun, und das Zeit meines Lebens. Hat es mir geschadet? Nein. Ich bin glücklich. Ich habe alles, was man zum Leben braucht. Wir haben gefüllte Speicher, wir haben Scheunenböden mit Räucherfleisch, dass wir lange Zeit davon essen können. Wir haben nichts zu befürchten.«
In der einkehrenden Pause flüsterte nur das Feuer. »Und doch bin ich nun nicht mehr so glücklich wie sonst«, sprach er weiter, und seine Worte fraßen sich durch das Menschenrund.. »Wir bestellen noch immer die Felder, versorgen noch immer die Tiere und tun noch immer genau das, was wir schon immer taten, und was unsere Eltern und deren Eltern taten. Und doch ist es nun anders.«
»Wir sind nicht mehr glücklich«, meinte jemand.
»Und warum sind wir nicht mehr glücklich? Weil etwas auf uns zukommt. Weil sich etwas nähert.«
»Ich spüre etwas von Irgendwo.«
»Und was ist es?«
»Ich weiß es nicht. Ich weiß es nicht.«
»Aber ich weiß es«, ertönte da plötzlich eine Stimme, und alle schraken auf. Aus der Dunkelheit schälte sich die Figur Tiratas aus der Dunkelheit wie aus einem Vorhang auf die Bühne des Geschehens, und die Herzen aller Anwesenden – einschließlich Jessicas – blieben kurz stehen.
Tirata gesellte sich zu ihnen, und man rückte aus Angst näher zusammen, um ihr Platz zu machen. Sie setzte sich wie alle anderen auf den Boden und reihte sich ein in das Menschenrund. Alle Augen waren auf sie gerichtet und niemand wagte es zu fassen, dass Tirata, die Wahrsagerin, in ihrem Kreise saß wie alle anderen.
»Neue Zeiten brechen an, in der Tat«, begann Tirata mit erhobener Stimme, auf dass jeder sie verstand. »Warum sie nun gerade kommen, vermag ich nicht zu deuten, aber dass sie kommen, das ist sicher.«
»Aber was ist es?«, fragte Morkus. »Ist es der Mann aus der Höhle, der in meinem Buch ist?«
Tirata blickte in die Runde und sah die betäubten Blicke, die versteinerten Gesichter und die ins Leere laufenden Gedanken und sprach: »Das Neue ist immer wie der Wind, der über das Land zieht. Unvermittelt setzt er ein, und niemand weiß genau, aus welcher Richtung er genau kommt. Ein Wind kann unterschiedlich sei: er kann leicht über das Land gleiten und Erfrischung bringen. Er kann Kälte bringen, er kann stark sein und Bäume entwurzeln. Die Gräser machen es uns vor: sie neigen sich mit dem Wind, die bieten ihm nicht die Stirn. Sie lassen sich beugen.«
»Aber warum will uns der Wind beugen?«
»Weil es wohl an der Zeit ist. Er kommt einfach und geht wieder. Er sucht sich keinen bestimmten Zeitpunkt aus.«
»Aber warum verschont er uns nicht?«
»Warum sollte er? Warum sollte uns dieser Wind verschonen?«
»Warum nicht? Bisher hat uns dieser seltsame Wind doch auch verschont.«
»Ich sagte doch, dass er kommt, wann er will, und nun ist es an der Zeit. Und wir sollten wie die Gräser sein.«
»Ich will mich nicht beugen. Und vor was? Was bringt uns dieser Wind?«
»Auch das sagte ich schon.« Tiratas Worte ließen das Menschenrund zusammenrücken. »Veränderung. Neues. Es muss einfach so sein. Es kommt einfach grundlegend Neues.«
»Woher kommt dieser Wind?«, fragte der alter Mann.
»Wie du es schon eben gesagt hast. Von Irgendwo. Von Ich-weiß-es-nicht. Aber von irgendwo kommt er.«
»Wer schickt ihn?«
»Jemand. Etwas. Vielleicht erfahren wir es, wenn er kommt oder über uns hinweggegangen ist.«
»Kommt er aus der Corrin-Höhle?«
»Vielleicht kommt der Wind, um euch hereinzublasen.« Das blanke Entsetzen jagte durch den Kreis. »Ich habe von Morkus‘ Buch gehört. Und ich weiß auch von dem Gedanken, in die Corrin-Höhle gehen zu wollen. Vielleicht will das der Wind.«
»Warum sollte er das wollen?«
»Damit ihr es selbst herausfindet, was in ihr ist.«
»Es kann doch sein, dass dort dieser Mann ist, der uns Gutes tun will«, meinte Morkus schnell. »Und wenn nicht der Mann, dann Etwas, das so ist wie der Mann.«
»Aber das ist eine heikle Sache«, widersprach der alte Mann. »Seit ich zurückdenken kann, hat sich niemand von uns auch nur in die Nähe der Höhle getraut. Und ich habe nie gehört, dass irgend jemand es außer den Wahrsagerinnen versucht hat.«
Tirata ergriff das Wort. »Und warum hat es niemals jemand gewagt? Was meint ihr, dort zu finden, ginget ihr hinein?«
»Böses«, antwortete der Mann aus tiefster Überzeugung.
»Und dieses Böse«, meinte Tirata, während sie ihn mit funkelnden Augen anblickte, »hat welche Gestalt deiner Meinung nach?«
»Ich bin nie dort gewesen und habe es deshalb nie gesehen, und bei allen Mächten, ich möchte verdammt sein, wenn ich es sehen wollte.«
»Verdammt seid ihr ohnehin schon, sonst wäret ihr nicht dort, wo ihr jetzt seid: kauernd und ängstlich um ein Feuer sitzend und sich den Kopf darüber zerbrechend, was Furchtbares und Unaussprechliches in diesem tiefen Loch im Berg ist. Wäret ihr nicht verdammt, wüsstest ihr schon längst, woran ihr wäret.«
»Willst du uns etwa vorwerfen, dass wir feige sind?«, wollte der alte Mann von Tirata wissen. »Dass wir all die Jahre über zu feige gewesen sind, um in die Corrin-Höhle zu gehen?«
Tirata sah in die Runde und sah die fragenden Blicke. »Nun, jeder ist für sich selbst verantwortlich, nicht? Warum seid ihr nicht gegangen? Habe ich jemals gesagt, dass ihr es nicht dürftet? Habe ich euch jemals gesagt, dass euch Schlimmes darin erwartet? Ich habe nur gesagt, dass dort viele Geheimnisse lauern. Wenn ihr meint, den Geheimnissen entkommen zu wollen, so ist das eure Entscheidung und die Konsequenzen euer Problem. Ich bin nur zur Erklärung der Bilder hier, die ihr seht. Ginget ihr in die Höhle, sähet ihr Fremdes, und es dürfte euch fürchten, weil es euch zeigen wird, wer ihr seid und was ihr seid.«
»Willst du uns jetzt locken? Willst du, dass wir darin sterben? Dass wir aufgefressen werden von den Monstern, die darin lauern, und mit denen du einen Bund geschlossen hast?«
»Ihr werdet dort nicht gefressen werden, und von Monstren weiß ich nichts. Ich weiß nur, dass etwas kommen wird, und ich weiß auch, was einst gekommen war. Ihr – ihr seid nichts. Ihr kennt eure Namen und die aller im Dorf, und ihr kennt eure Furcht, aber vor was ihr euch fürchtet, das wisst ihr nicht. Und ich stehe mit niemandem im Bunde, ihr Verrückten. Wahrscheinlich war es bisher immer besser, dass euch das vorenthalten geblieben ist, was sich um euch befindet, aber nun, da es wohl an der Zeit zu sein scheint, dass es sich euch offenbart, meine ich, dass es vielleicht besser gewesen wäre, es würde sich nicht zeigen, es würde nicht kommen. Ihr verdient vielleicht keinen Wind. So bleibt nur sitzen und fürchtet euch weiter. Aber nehmt euch ein Beispiel an dem Kind Jessica, die mutig ist, die wissbegierig ist, und die, wenn ihr so weiter bleibt, meine Nachfolgerin sein wird.«
Lorn schnürte es die Kehle zu, wie auch seiner Frau, die beide sich beide vorstellen wie ihre Tochter erst in Scherben fiel, um dann von einer Dämonin zu etwas Fremdartigen wieder zusammengesetzt zu werden, das nichts mehr mit dem gemein hatte, was sie einmal gewesen war.
»Der Zahn der Zeit nagt an euch. Und der Wind von Irgendwo, er kommt, ob ihr wollt oder nicht. Er ist schon da, Ihr spürt schon seine Vorboten. Ihr könnt euch nicht dagegen wehren.« So ging Tirata wieder ins Dunkel und ließ die Menschen allein am Feuer, das immer kleiner wurde, je weiter sie sich von ihm entfernte. Die Dunkelheit um sie herum schien immer größer und allumfassender zu werden.
Jeder hing seinen eigenen Gedanken nach, und alle gingen in die selbe Richtung. Sie alle sahen einen Wind von Irgendwo auf sich zukommen, und die Gräser und Bäume neigten sich unter ihm. Dieser Wind war für sie so entsetzlich, dass er alles mitriss in diesen Gedankenbildern, auch ihre Kinder riss er mit, auf dass sie panisch schreiend für immer verschwanden. In ihren Gedanken wallte um ihre kleine Welt ein Ozean aus schwarzem Pech, der an die Rückseiten der Berge brandete und alles unter sich begrub, und den man erst sehen konnte, wenn man weit genug vom Dorf fortging. Sie sahen sich als Insassen auf einem schwankenden Floß, das auf einem unbeständigen, riesigen Wasser allen Stürmen und Gezeiten ausgesetzt war. Der Wind: würde er doch fortbleiben!
Würde dieser Wind doch im unbestimmten Irgendwo im seligen Nichts verlaufen!
Ihre Welt, ihre kleine Welt, die nun nichts war außer dem orangener Schein ihres Feuers: sie bot keinen Schutz mehr. Ein Wind konnte ihre Häuser niederreißen, ihre Tiere fortwehen, ihre Getreidespeicher zerstören und die Ernten vernichten.
»Der Wind von Irgendwo wird kommen«, flüsterte einer.
»Und er wird hinter uns her rennen«, meinte ein anderer.
»Und er wird uns ein Loch in unser Leben blasen«, schloss ein Dritter.
Und sie alle wussten, dass sie nichts dagegen unternehmen konnten.
»Vielleicht hat Tirata recht«, sagte Morkus. »Es kann doch nichts Schlimmes daran sein, in die Höhle zu gehen. Tirata hat nicht gesagt, dass dort tatsächlich etwas Schlimmes ist.«
»Und wenn doch?«
»Dann werden wir es sehen. Es kommt doch sowieso.«
Schweigen trat ein, und wieder flogen die Gedanken der Menschen wie die Funken des Feuers.
Hinauf in die Höhen, hinauf in die Sphären, in die selten ein Mensch sich vorgewagt hatte. Sie stiegen auf in Höhen, die sie nur von Erzählungen her kannten, und sie waren wie die Feuerfunken, die der Wind mit sich trug, mit sich trug zu fernen Dingen, und sie sahen vor ihren Augen Häuser, die es nicht gab oder doch irgendwann einmal gegeben hatte, und sie begannen sich zu fragen, wer wohl, was wohl diese Häuser errichtet haben mochte und wer wohl darin gewohnt hatte oder gar noch wohnte. Und wo dieses Irgendwo, sofern es existierte, wohl war; jedenfalls nicht bei ihnen im Dorf, das wussten sie alle. Sie wurden alle zu Funken, die der Mensch mit sich trug, und sie sahen auf die Corrin-Höhle hinab und taten so, als wären sie schon darin gewesen und stellten fest, wie stolz sie sich fühlten, wie gut und überlegen. Ja, vielleicht gab es Anderes, und sie stiegen höher und höher, hinauf in die Höhen, in die der Wind von Irgendwo sie trug, und sie alle blickten über die Berge hinweg und sahen den großen Wind von Irgendwo kommen, sie alle sahen ihn kommen.
»Der Wind von Irgendwo wird kommen«, meinte der alte Mann.
»Nein«, widersprach jemand, »er ist schon da. Er ist schon dabei, uns ein Loch in unser Leben zu blasen.«
»Ist es denn einfach ein Loch? Wird es nicht gestopft durch die Dinge, die der Wind mit sich trägt?«
»Wie auch immer. Wir können uns nicht wehren.«
»Werden wir also wie Gras.«
»Beugen wir uns.«
»Hinein in die Höhle.«
»Wer weiß, was uns Neues offenbart wird.«
»Denn ob wir wollen oder nicht – kommen wird er so oder so; gehen wir ihm entgegen.«
Ende des 9. Kapitels – Der Wind von Irgendwo geht weiter mit Kapitel 10: Beginn einer Odyssee
Es mag banal klingen: Ich schöpfe viel Kreativität daraus, beim Schreiben nicht immer am gleichen Platz mit der gleichen Aussicht zu sitzen, sondern bewusst den Platz zu wechseln. Auch beim Denken und Überlegen kommen mir die neuen Sichtweisen zugute.
Warum, erkläre ich hier.
Der eigene Schreibtisch ist für uns Schreibenden die feste Burg, die Heimat – wie immer man selbst es nennen mag. Und das finde ich auch gut so. Doch immer wieder stelle ich fest, dass die immer gleiche Blickposition in den immer gleichen Raum auch wie eine lähmende Routine sein kann. Das merke ich immer dann, wenn ich z.B. etwas auf dem Pad in einem anderen Raum vorbereite oder bereits schreibe. Mehr unterbewusst als bewusst kommen da manchmal Ideen heraus, mit denen ich nicht gerechnet hätte. Und so wichtig und wunderbar Routine oder der viel gerühmte »Flow« auch ist: Routine kann auch Denkmuster verfestigen, durch die mir Ideen verloren gehen. Das habe ich schon oft erlebt. In der Küche schreibe und denke ich oftmals ungezwungener, mehr ins Blaue und aufs Geratewohl – was meinen Geschichten häufig nützt.
Der eigene Schreibtisch ist für uns Schreibenden die feste Burg, die Heimat – wie immer man selbst es nennen mag. Und das finde ich auch gut so. Doch immer wieder stelle ich fest, dass die immer gleiche Blickposition in den immer gleichen Raum auch wie eine lähmende Routine sein kann. Das merke ich immer dann, wenn ich z.B. etwas auf dem Pad in einem anderen Raum vorbereite oder bereits schreibe. Mehr unterbewusst als bewusst kommen da manchmal Ideen heraus, mit denen ich nicht gerechnet hätte. Und so wichtig und wunderbar Routine oder der viel gerühmte »Flow« auch ist: Routine kann auch Denkmuster verfestigen, durch die mir Ideen verloren gehen. Das habe ich schon oft erlebt. In der Küche schreibe und denke ich oftmals ungezwungener, mehr ins Blaue und aufs Geratewohl – was meinen Geschichten häufig nützt.
Wenn ich in meiner Küche sitze und schreibe, kommt häufig gar keine Szene dabei heraus oder eine konkrete Textstelle. Vielmehr schreibe ich »für mich«. Ich nenne diese Texte eher »Artikel«. Ich habe gar nicht den Anspruch, sie zu veröffentlichen oder zu verwenden. Fakt ist, dass ich diese Artikel an meinem Schreibtisch so gut wie nie schreibe, sondern an anderen Orten. In der Küche, auf dem Balkon, auf Reisen. Ganz bewusst halte ich sie gar nicht literarisch oder journalistisch. Mir geht es eher darum, schreibend zu denken. Damit löse ich oft Fragen, die mir beim Schreiben selbst gekommen sind und nutze sie auch als Schreibübungen: Kann ich die Dinge überhaupt angemessen in Worte fassen? Ist der Gedanke oder die Idee überhaupt ins sich logisch und sinnvoll? Und welche Sprache brauche ich, um das niederzuschreiben?
Gerade in diesem Punkt ist die veränderte Blickrichtung, -position und der Blickwinkel für mich elementar. Ich schreibe ergebnisoffen einfach drauflos. Das hat mir viele Textstellen eingebracht, aber auch neue Ideen und Gedanken zu Geschichten und Erzählungen.
Natürlich: Diese angesprochenen Punkte können unmöglich für jede/n vollständig oder komplett zutreffend sein – das ist auch ganz in Ordnung so. Wir sind Individuen, wir haben unterschiedliche Bedürfnisse, reagieren anders, brauchen andere Dinge. Es sind vielmehr Denkanstöße, die ich zur Nachahmung dahingehend empfehle, als dass ich sage: Einfach mal ausprobieren. Vielleicht nützt es ja.
Der Wind von Irgendwo von Anfang an lesen
Erst Kapitel 7 lesen
Die Rufe ihrer Mutter ignorierend, steuerte Jessica auf Tiratas Haus zu, das sich vom Dorf begrenzte. Dieser ruhige Stein inmitten von Bäumen und Büschen, um den nichts anderes brandete als ein zur Zeit stiller grüner Ozean aus wildem Gras, Feldblumen und -früchten, Koppeln und Weiden strahlte Erhabenheit aus. Die Bäume, die das Haus umgaben, erschienen wie Grenzen zwischen Diesseits und Jenseits, und die Zeit wollte um das Haus herum stillstehen; alles Menschenerdenkliche und auch das, was man nicht erdenken konnte oder wagte, schien hier möglich zu werden – und Jessica hatte Angst. Sie wollte endlich erfahren, ob sie von den Dingen wissen durfte oder nicht. Sie hatte keine Angst davor, von Tirata ausgelacht zu werden, denn schon allein der Gedanke, Tirata zu fragen, auf sie zuzugehen und freiwillig mit ihr Worte zu wechseln, würde sie im Dorf wie eine kleine Gottheit erscheinen lassen, denn sie hätte so viel mehr gewagt als alle Männer des Dorfes der letzten Generationen zusammengenommen – vielmehr hatte sie Angst vor dem, was geschehen würde, wenn Tirata sie ernst nähme.
Die Grasähren, die Jessica auf ihrem Weg zu Tiratas Haus passierte, standen still und aufrecht wie eine Ehrengarde.
Entschlossen blickte sie zu den Bäumen hinauf, diese schmalen, mächtigen Bäume, gegen die sie wie aus dem Zwergenland zu kommen schien.
Schließlich stand sie vor der Tür und konnte sich rühmen, erneut Schritte unternommen zu haben, die niemand sonst freiwillig unternahm.
Das Haus wollte nicht zu einem gefährlichen Insekt werden, dessen Beine man so lange nicht sah, bis man nah genug herangekommen war, als es aufsprang und angriff. Es war ein seltsames Haus, ja, aber kein gefährliches.
Jessica klopfte an.
Keine Reaktion.
Sie klopfte nochmals, diesmal so laut, dass Tirata es selbst dann hätte hören müssen, wenn sie geschlafen hätte.
Es vergingen Sekunden vollkommener Stille.
Plötzlich öffnete sich die Tür, und Jessica stand vor Tirata, vor der jeder im Dorfe zitterte und schlechte Träume bekam, wenn man den Namen abends im Dunkeln vorm Zubettgehen nur erwähnte. Sie stand nun vor Jessica und sah sie an mit grünen Augen, die längst nicht so alt erschienen wie alles andere an ihr, von Krähenfüßen umrahmt, die sich durch gebräunte Haut zogen. Tirata hatte die Haare gekämmt und trug ein Kleid aus feinem Stoff, wie ihn niemand im Dorf trug – traumhaft und mit vielen bequemen Falten. Tirata besaß eine große Nase und ein recht spitzes Kinn, aber sie war unweigerlich eine ganz normale Frau, wenn man gewillt war, sie richtig anzusehen.
»Kind, was tust du denn hier?«, fragte Tirata erstaunt.
»Ich wollte dich besuchen.«
Tirata sah sie aus großen verblüfften Augen an. »Du bist gekommen, um mich zu besuchen?«
»Ja, bin ich.«
»Wie kommst du dazu, Kind?«
»Ich habe gedacht, es wäre mal ganz lustig, zu dir zu kommen.«
»Lustig?!« Tiratas Stimme war noch immer erstaunt und hoch. »Lustig bei mir? Hier gibt es keine kleinen Kinder, mein Kind. Es wird hier für dich wohl langweiliger sein als für mich, fürchte ich.«
Jessica schluckte, denn sie ahnte, eine Chance zu vertun, wenn sie jetzt nicht entschlossen genug war, doch bekam sie es nicht einfach über die Lippen. «Ich dachte … ich meinte, dass es vielleicht … dass du …«, druckste sie.
»Du kannst im Dorf mit deinen Freundinnen sicherlich besser spielen als hier«, meinte Tirata freundlich.
»Ja, aber die wissen nichts von den ganzen Geheimnissen. Du aber. Ich will, dass du mir darüber erzählst.«
Für einige Zeit herrschte Schweigen. Dann: »Ich soll dir etwas über die Geheimnisse erzählen?«
Jessica nickte nur.
»Du bist wissbegierig, kleines Mädchen?«
»So klein bin ich auch nicht mehr. Ich bin elf. Und ich habe keine Angst vor dir wie Pepe und alle anderen.«
Tirata grinste. »Ja, dein Pepe hatte ziemliche Angst vor mir, als hätte ich ihn hätte kochen wollen. Glaubst du, ich würde ihn kochen wollen?«
Jessica schüttelte den Kopf.
Tirata lächelte. »Bewundernswert. Jeder andere hätte das sofort geglaubt. Da bist du den anderen im Dorf um einiges voraus. Wie kommt das bloß?«
»Ich bin neugierig, das ist alles.«
Tirata sah in die Landschaft und schüttelte den Kopf. »Nicht zu glauben. Wirklich nicht zu glauben. Da kommt ein kleines Mädchen zu mir, um mich zu besuchen, damit ich ihr etwas von den Geheimnissen erzähle.« Sie sah Jessica an. »Es reicht dir wohl nicht, was ich denen im Dorf erzähle, wie?«
»Das sind die Geheimnisse, die du erzählst. Aber ich will mehr darüber wissen, damit sie eben keine Geheimnisse mehr für mich sind. Für dich sind sie ja auch keine mehr.«
»Das ist wohl wahr. Komm rein, wenn du dich traust.« Tirata öffnete die Tür weiter und lud Jessica ein, und diese trat ohne zu zögern in das Haus. Nach wie vor sah sie sich neugierig um und fragte sich, was sich wohl hinter dem wallenden Stoff verbarg, und warum Tirata eine größere Kochstelle als alle besaß.
»Das ist sehr mutig von dir, Jessica, hierher zu kommen. Hattest du denn gar keine Angst?«
»Nein, wovor auch?!«
»Vor meinem Wissen, vielleicht.«
»Deswegen bin ich doch hier. Wer fürchtet sich schon vor Wissen?«
Tirata sah sie geheimnisvoll an. »Weißt du, Kind«, begann sie, und ihr Gesicht wurde ein wenig wehleidig, »das Einzige, was die Leute an mir fürchten, ist mein Wissen. Das macht mich zur Dorfhexe. Nur, weil ich mehr weiß als sie.«
»Sind denn Hexen böse?«
»Wer sagt, dass ich wirklich eine bin? Und wenn ich eine wäre, warum sollte ich böse sein?«
»Weil du so weit weg wohnst. Weil du nie zu uns kommst. Weil du nicht so bist wie die anderen.«
»Man ließe mich auch nicht. Stell‘ dir vor, ich säße mich zu euch ans Abendfeuer. Ihr hättet doch alle Angst, den Mund aufzumachen, oder?«
Das leuchtete Jessica ein, während sie sich umsah. »Es ist hier nicht so heiß wie in unserem Haus.«
Tirata setzte sich. »Tja, Kind, im Dorf hieße es, da wären wieder Mächte am Werk, die niemand versteht. Dabei liegt es nur daran, dass mein Haus den ganzen Tag über im Schatten steht. Im Dorf wäre das wieder eine Geschichte über kühlende Bäume.«
»Gibt es denn kühlende Bäume?«
Tirata lachte und warf den Kopf ein wenig in den Nacken. Jessica hatte sie nie so freundlich und normal erlebt. »Nein«, antwortete ihr die Wahrsagerin, »nein, es gibt keine kühlenden Bäume.« Sie schwieg eine Weile, und Jessica endete mit der neugierigen Inspizierung des Hauses und sah sie an. Schließlich sagte Tirata weiter: »So wie es Vieles nicht gibt, von dem ihr meint, es würde existieren.«
Jessica verstand nicht, was ihr damit gesagt worden war und meinte: »Es gibt ja wirklich viel. Seht viel.«
»O ja, sehr viel. Und Vieles wisst ihr nicht. Ihr wisst weder, wer ihr seid, noch, woher ihr kommt. Und wohin ihr gehen werdet, wisst ihr auch nicht.«
»Doch, der Himmel hat geweint, und jetzt wollen alle in die Corrin-Höhle.«
Tirata sah erstaunt auf. »Sie wollen in die Corrin-Höhle?«
»Vielleicht. Sie trauen sich nicht, aber sie haben ein Zeichen bekommen. In Morkus‘ Buch war ein Bild von einem Mann, der aus einer Höhle kam, und er meinte, wir sollten in die Höhle gehen, um den Mann zu treffen. Und als sie sich nicht trauten, hat der Himmel geweint.«
»Ich habe ihn weinen sehen«, sagte Tirata nachdenklich. »Es werden andere Zeiten anbrechen, die jenseits dieses Lebens liegen. Zeiten, die alles so verändern werden, dass nichts mehr so sein wird wie sonst.«
»Woher weißt du das?«
»Kind, du bist klug, klüger als die anderen, aber du musst lernen, diesen Verstand richtig zu benutzen.«
»Darf ich mehr wissen als die anderen? Darf ich dich Dinge fragen, auf die du antwortest? Darf ich öfter kommen?«
»Es wird dir schwerfallen, mit dem umzugehen, was du erfahren wirst. Und es wird dir auch schwerfallen, damit umzugehen, wie dich dann die anderen behandeln werden. Und ich bin nicht einmal überzeugt, dass du alles begreifst, was du hier erfährst.«
»Aber wenn du es mir erklärst …«
»Es gibt aber so viel zu erklären.«
»Andere gehen auf die Felder, du nicht. Du hast Zeit, alles zu erklären.«
»Ach, woher willst du das wissen?«
Jessica sah zu Boden und ihre Chance vertan. »Ich habe es mir gedacht.«
»Das erste Prinzip ist: denke gemäßigt. Nur durch Erkenntnisse, die sich durch Zufall ergeben, kannst du auf die Bahnen gelenkt werden, die es überhaupt erst nützlich erscheinen lassen, zu denken. Dann kannst du diesen Zufällen auf den Grund zu gehen versuchen. Das hast du nicht getan. Dadurch hättest du dir aber den Stand der Erfahrung erarbeitet, die dich vorausschauend werden lässt. Du hast hingegen behauptet. Und durch Behauptungen denkt man nicht, man wird starrsinnig und ruht sich auf seinem angeblichen Recht aus. Und gerade Starrsinnigkeit ist das, was das Dorf seit jeher durchzieht wie eine Krankheit.«
Jessica sah in ihrem Geist alles zerfallen. Sie sagte nichts und blieb gedemütigt auf dem Stuhl sitzen.
»Du bist gerade erst elf Jahre alt«, meinte Tirata leicht vorwurfsvoll. »Meinst du, fähig zu sein, als Hexe leben zu müssen? Von deinen Freunden Abschied nehmen zu müssen? Wenn niemand im Dorf mit Wissen umgehen kann, warum soll es dann ein elfjähriges Mädchen tun können?«
Jessica schwieg.
»Antworte schon! Ich kann deine Gedanken nicht lesen! Meinst du, du könntest das, was ich gerade sagte? Und wenn ja, was bewegt dich dazu, all dies in Kauf zu nehmen? Sag es mir!«
Plötzlich spürte Jessica eine Unterlegenheit, wie sie schmerzlicher nicht zu empfinden war. Sie musste nun doch Angst zu haben vor dem, was diese Frau repräsentierte, vor dem alle zitterten. Nun war Tirata böse. Böse und fordernd. Zwar zitterte Jessica nicht vor Angst, aber ihre Begeisterung war gewichen.
»Du wirst noch viel mehr Angst haben, wenn du mehr wissen willst. Die Menschen fürchten nämlich nichts mehr als das Wissen, weil es auch Erkenntnisse über sich selbst bringt, das sie zwingen könnte, alteingesessene Überzeugungen umzuwerfen, die ihnen lieb und zur Gewohnheit geworden sind. Neugier ist kein Beweis dafür, wirklich Wissen zu erlangen. Wissen bekommt man durch innere Überzeugung, mit diesem Wissen aus Interesse und Weitsicht wirklich Gutes und Neues tun zu können und zu wollen. Und nicht durch Neugier, die einen nötigt, alle anderen wegzuschieben, damit man etwas sieht. Wissen ist mehr als nur Lust auf Neues. Neugier ist mit einem einzigen Blick schon zu befriedigen, und oh, wie schön und wie herrlich das doch ist! Ohne diese Neugier kann man auch kein neues Wissen erlangen. Aber wo Neugier aufhört, fängt die innere Einstellung zum wirklichen Verstehenwollen und Anwendenwollen erst an, und erst das ist der Weg zu echtem Wissen. Wenn du etwas Neues siehst, und willst aufgrund dessen, wie du siehst, noch viel, viel mehr darüber erfahren, dann ist das Wissensdrang, doch Vorsicht – wenn du ein totes, zerfetztes Tier siehst und wissen willst, warum es zerfetzt ist, ist das noch reine Neugier, weil du nach dem Grund, aber nicht nach der Ursache suchst, warum das, was das Tier zerfetzt hat, es zerfetzt hast. Du würdest erst nur wissen wollen, was es ist und wie es aussieht; und das ist kein Wissensdrang. Und der Fehler ist, die zum Verstehen notwendige Neugier nicht zum Hinterfragen, nicht zum Wissenwollen und das Wissende Verwendenwollen auszubauen. Man bleibt auf der Stufe der Neugier stecken, und das ist ein Fehler, den die Menschen im Dorf begehen. Aber das verstehst du sicherlich nicht. Kannst du auch nicht, das kommt erst mit der Zeit.«
Jessica hatte zugehört, doch der Ton der Wahrsagerin war ausschlaggebend für sie gewesen – hart und herrisch, einer, der nicht mehr so wohlgesinnt geklungen hatte wie anfangs noch. Vielleicht also war das Wissen nicht für sie bestimmt, denn es schien laut Tirata, und das hatte sie zumindest noch verstanden, eine schwierige Sache zu sein. Es war weder einfach zu erlangen, noch war es einfach, damit zu leben, wie sie sagte. Nur warum war es so?
»Warum schweigst du, Kind?«, fragte Tirata. »Du brauchst dich nicht abgewiesen zu fühlen, Jessica. Aber ich muss dich warnen. Es ist viel Wissen, und der Weg ist hart.«
Vor Jessicas Augen erschien sie selbst, wie sie übermäßig große Eimer in einem Holzbalken über ihren Schultern trug, je ein Eimer auf jeder Seite. Und hinter ihr stand Tirata, die in die Eimer mehr und mehr Wasser goss, so dass Jessica einmal nach links kippte und dann nach rechts. Jessica spürte die Tonnenlasten, und Tirata ließ sie in ihrer Vorstellung damit so lange Strecken gehen, bis Jessica die Eimer fallenließ, so dass das Wasser in den Boden einzog und sie sich daneben setzte und ihr Gesicht weinend in den Händen vergrub.
»Du hast die harte Prüfung nicht bestanden, Kind«, sagte Tirata lachend und wies mit ausgestrecktem Arm auf das Dorf und sagte abfällig zu ihr. »Geh zurück ins Dorf, wenn du nicht geächtet bist, und komme nie wieder hierher. Du bist nicht würdig.«
»Träumst du?« fragte die wirkliche Tirata.
Jessica schüttelte langsam und gekränkt den Kopf.
»Was tust du dann?«
»Ich überlege.«
»Was überlegst du?«
»Ob es richtig war, hierherzukommen.«
»O ja, das fragt man sich immer, ob es richtig war, wenn man als Prophet zum Berge kommt, nicht?«
»Ich weiß nicht.«
»Hör zu, Kind. Du bist ein kluges Mädchen. Komm morgen wieder, wenn du dann immer noch der Meinung bist, wissen zu wollen. Dann werde ich dich einweisen.«
Jessica nickte nur und stand auf, den Blick zu Boden gerichtet und verließ das Haus, um das die kühlenden Bäume standen und dem Wind als Stimmbänder dienten.
Ende des 8. Kapitels – Der Wind von Irgendwo geht weiter mit Kapitel 9: Am Feuer
Jahrelang war »Der Wind von Osten« nicht mehr als eine 1,5 Seiten lange Kurzgeschichte, die mir 1985 beim Hören des Lieds »Eastern Wind« von Chris De Burgh aus dem dem Jahr 1980 einfiel – darüber habe ich in Teil 1 des Making-ofs schon berichtet.
Recht schnell wurde mir klar, dass in der Kurzgeschichte mehr steckte, und so schrieb ich einige Zeit später eine kleine Fortsetzung mit dem sinnigen Titel »Nach dem Wind von Osten«. Auch diese hatte mit dem Roman so gut wie nichts zu tun.
Denn einen Roman hatte ich nie beabsichtigt.
Das änderte sich Anfang der 90er-Jahre, wenn auch nicht auf einen Schlag. Man nagle mich nicht fest, aber ich glaube, es war 1991.
Schuld war ein Independent-Film, der in meiner damaligen Heimatstadt Hamm nicht ins Kino gekommen war, jedoch wenige Monate später bereits seine TV-Premiere im Rahmen einer speziellen Filmreihe von RTL im Nachtprogramm feierte: Philipp Ridleys »Schrei in der Stille«, Originaltitel »The Reflecting Skin«. Weil er werktags lief, hatte ich ihn auf Video aufgenommen und konnte kaum abwarten, ihn am nächsten Tag zu sehen. Ich verdunkelte mein Zimmer, startete den Film – und mich traf der Schlag!
Abgesehen davon, dass der Film für mich bis heute ein Meisterwerk ist, war ich von den Bildern und der Filmmusik hingerissen: Der Wind, der durch die endlosen Felder streicht. Die Weite der Landschaft. Die Filmmusik!
Der Film beeindruckte mich zutiefst, erschütterte mich in gewisser Weise. Ich denke meine Geschichten seit jeher visuell. Zu Filmmusik habe ich mir ganze Szenen für Geschichten und Szenen in frühen Romanentwürfen erdacht und mir vorgestellt, sie so im Kino zu sehen.
»The Reflecting Skin« war auf dieser Ebene für mich einschneidend und riss mich völlig aus den Schuhen. Wie ein Verrückter empfahl ich diesen Film allen möglichen Leuten, verlieh die Cassette an Freunde, die letztlich aber keinen Zugang zu diesem in der Tat rätselhaften Werk fanden.
Mir hatte sich der Film sofort erschlossen – kein Witz! Die metaphorische Ebene dieses Films, den manche mit Werken von David Lynch vergleichen, stellte sich mir sofort beim ersten Mal ganz klar da.
Es war diese visuelle Wucht und die musikalische Durchschlagskraft, die mich nachhaltig prägten.
Nein, ich hatte nicht sofort danach die Idee, aus meinen beiden klenen Kurzgeschichten nun einen Roman zu machen, und so dauerte es auch noch einige Zeit, bis ich die Idee bekam und letztlich auch anging und umsetzte.Aber »The Reflecting Skin« war wie eine Art Samen, der in mir etwas heranreifen ließ, was sich letztlich direkt auf den Roman auswirkte.
Es brauchte noch weitere Dinge, damit die Saat aufgehen konnte. Und zwar zwei ganz konkrete Orte.
Aber dazu in anderen Artikeln später mehr.
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Erst Kapitel 6 lesen
Als das Licht die Landschaft beleuchtete, schien sie es in anderem Licht tun zu wollen. Die Schatten warten merkwürdig lang, und das Zwitschern der Vögel erinnerte mehr an das höhnische Lachen etwas Fremdem, das sich über das Dorf und sein Schicksal belustigte.
Doch wie immer begann der Morgen mit dem Üblichen: als die Hähne bei den ersten Sonnenstrahlen dieses Morgens auf der Höhe des Sommers krähten, verließen viele ihre Betten, um die Kühe und Ziegen zu melken. Rund um sie war es dabei noch dunkel genug, dass die Ställe wie Höhlen anmuteten. Dann ergriffen sie Behälter, stellten sie unter die Tiere und melkten sie, wie es gelernt hatten. Es war wie seit jenen Tagen, da das Erinnerungsvermögen bei den Menschen des Dorfs einsetzte, so, wie es schon immer in ihren Erinnerungen gewesen war, und wie es auch im Erinnerungsvermögen der mittlerweile Toten gewesen war.
Die Frauen waren mit Brotbacken beschäftigt zu Zeiten, da noch nicht jeder erwacht war. Der Tag kehrte schrittweise zurück, und die Helligkeit kam mit dem Wind. Und obwohl alles wie immer schien, erwachten sie alle mit einem Gefühl der Beklemmung.
Dieser Tag war anders als die anderen. Dieser Tag war der erste Tag, da der Himmel ein großes Auge war und ein großes Ohr zudem, wo die Gräser und Blumen Augen besaßen und alle Tiere Auskundschafter waren.
Das Gefühl der Fremde nahm von Lorn Besitz, kaum dass er wach war.
Der Himmel hatte geweint. Der Himmel hatte über sie alle geweint, auch über ihn, und das war das Schlimmste, was er sich vorstellen konnte. Was hatte er die ganze Zeit falsch gemacht? Was hatte er sich zu Schulden kommen lassen? Warum verlor eine Macht, dessen Gestalt und Ursprung er nicht einmal erfassen konnte, eine Träne über ihn und seine Umgebung? Es war so furchtbar. Er dachte an das Buch und an das Bild darin. Dieser mysteriöse Mann mit dem seltsamen Schein um den Kopf und den Löchern in den ausgestreckten Händen, der verkrusteten Stirn und dem nicht erklärbaren Gesichtsausdruck: er hatte die Frau zu Tode erschreckt, sie fürchtete sich vor diesem Mann. War es wegen des Scheins, den er um den Kopf trug?
Lorn hatte keine Lust, einem Menschen zu begegnen, der dergestalt aus der Höhle kam. Aber darum hatte der Himmel wohl geweint. Es waren wohl neue Zeiten angebrochen, ein Umstand, den niemand von ihnen deuten konnte.
Wenn das hieß, dass nichts mehr so sein sollte, wie es gewesen war, Tag für Tag und Jahr für Jahr seines ganzen bisherigen Lebens, dann wollte er diese neuen Zeiten nicht.
Wie sehr sehnte er sich danach, aufzuwachen, das gewohnte Zimmer zu erblicken und seine Frau neben ihm, die noch zusammengerollt schlief und die er nicht wecken wollte, eingehüllt in den Schein eines noch frühen Morgens mit den Geräuschen der Vögel und wissend, dass dieser Tag die übliche Arbeit brachte, um dann abends am Feuer zu enden.
Er wollte nun lieber herausgehen und Holz hacken für das Feuer heute Abend. Er wollte frühstücken, wollte durch das Gras marschieren und Jessica den Hintern versohlen, wenn sie wieder unartig war, aber er wollte nicht diese neuen Zeiten.
Er stand auf und redete sich ein, dass es sie niemals anbrechen würden. Alles sollte so sein, wie es immer gewesen war, seit Anbeginn der Zeit, und diese Sache mit dem weinenden Himmel und dergleichen war nichts anderes als ein seltsamer Traum. Jeder hatte einen früher oder später.
Einmal hatte eine Frau, die nun tot war seit langer Zeit, als er noch ein Kind gewesen war dass sie in seiner Erinnerung nur als nebulöses Etwas ohne Züge Einzelheiten erschien,, einen Traum gehabt wie diesen. Sie war fest davon überzeugt gewesen, dass dieser Traum kein Traum war. Sie hatte ihr Leben umgestellt, hatte nach Dingen gehandelt, die sie für geschehen hielt, die es in Wirklichkeit aber nie gegeben hatte. Sie war schon sehr alt gewesen, aber ihr Leben, das ebenso harmonisch und gleichmäßig verlaufen war wie das von Lorn, war nach diesem Traum ein völlig anderes. Dabei hatte jeder gewusst, dass die Frau nur einen Traum gehabt hatte.
So eine Episode hatte auch Lorn nun offenbar erlebt, denn er sah sich um, und alles war wie früher. Das Licht eines erwachenden Morgens hauchte alles ein in den Schein von Frieden, und seine Frau, die er nicht wecken wollte, lag zusammengerollt neben ihm. Die Decke hob und senkte sich regelmäßig mit ihren Atemzügen, die wispernd in der Luft hingen.
Wohlgemut stand er auf, trat auf das Stück Boden, das immer knarrte, wenn er es betrat, wusch sich an einem Eimer Wasser, den er am Vorabend zu diesem Zweck gefüllt hatte, und es war angenehm kühl. Er ging in die Wohnküche und brach einen Laib Brot, nahm sich einen kleinen Eimer und ging nach draußen, um eine Kuh zu melken.
Es war nichts anders an diesem Tag, bis er auf dem Rückweg zum Haus Karul traf, der ebenfalls vom Melken zurückkehrte.
»Morgen, Lorn.«
»Morgen, Karul. Hast du gut geschlafen?«
»Wie man so schläft. Und du?«
»Gut. Bestens. Ich habe gar nicht aus dem Bett kommen wollen.«
»So geht es uns allen, oder?«
»Ja. Kannst du mir helfen, heute mittag einen neuen Zaun für die Pferdekoppel zu bauen? Nachher rennen sie uns fort und wie haben keine Pferde mehr.«
»Sicher, Lorn, wenn ich Zeit habe. Ich bin heute erst auf dem Feld, das bestellt werden muss. Lass es uns morgen machen. Dann habe ich mehr Zeit und bin ausgeruhter.«
Lorn setzte seinen Eimer ab. »Ist dir was an meinem Sohn aufgefallen?«
»An Mark? Was denn?«
»Ich weiß nicht recht, aber es kann gut sein, dass ich mich irre, aber ich denke, er hat eine Erfahrung gemacht, die jeder macht.«
»Findest du? Kann schon sein, Lorn, kann schon sein.«
»Hast du ihn nicht mit Sarah verschwinden sehen?«
»Nein, habe ich nicht.«
»Ich aber.«
»Machst du dir Sorgen?«
»Nein, gar nicht. Ich freue mich für ihn. Und für sie auch. Ich gönne ihr Mark. Er ist ein Prachtbursche.«
»Ja, das ist er. Manchmal kommt mir der Gedanke, dass er uns eines Tages alle überflügelt.«
»Warum sollte er das? Und wie?«
»Ich weiß es nicht. Er ist so reif, so gerecht, und das schon immer. Wenn ich daran denke, wie er mit Jessica umgeht. Ich an seiner Stelle hätte ihr schon längst den Kopf abgerissen.«
»O ja, ich auch. Aber sie ist keine Göre. Sie ist nur lebhaft und gemein wie alle Mädchen ihres Alters. Und sie ist auch nicht dumm. Und das macht mir zur Zeit Sorgen.«
»Wie meinst du das?«
Lorn wurde nachdenklicher. »Sie scheint keine Angst vor Tirata zu haben. Sie schient mir zu neugierig. Sie ist von der Hexe gefangen!«
»Übertreibst du da nicht ein wenig?«
»Jessica ist wie besessen von ihr. Sie spricht mit ihr wie mir ihren Freundinnen. Sie hat mich bei ihr wie einen Trottel aussehen lassen.«
»Wenn ihr Weg der Tiratas ist, wirst du das nicht verhindern können.«
»Nein, das wage ich mich auch gar nicht. Wer weiß, was das alte Weib dann tut, wenn ich es meiner Tochter verbiete!«
»Wenn du eine Tochter verlieren solltest, gewinnst du eine Wahrsagerin.«
»Ich will keine Hexe aus meinem Haus.«
»Du übertreibst wieder. Und außerdem: sei stolz, eine Wahrsagerin gezeugt zu haben, sofern sie denn eine wird. Das wird dir Achtung im Dorf bringen.«
»Ach, zum Teufel damit!«
»Du unterschätzt das, Lorn. Du wärst geachtet als Vater der Wahrsagerin.«
»Aber ich will doch keine Angst haben müssen vor meiner eigenen Tochter!«
»Sie ist dann nicht mehr deine Tochter. Sie ist dann die Tochter des Windes, und sie wird weise sein und dir als ihren Erzeuger schon nichts antun.«
»Ich will es dennoch nicht. Ich will meine Tochter nicht verlieren, schon gar nicht an Tirata!«
»Und du könntest es dennoch nicht verhindern. Und wenn es dein Sohn nicht schafft, uns alle zu überflügeln, dann schafft es deine Tochter ganz sicher.«
»Das ist ein schwacher Trost für den Verlust der eigenen Tochter.« Lorn schwieg eine Weile, und die Schatten wurden langsam kürzer. »Wie dem auch sei. Ich freue mich für Mark. Und du hast wirklich nichts gesehen?«
»Ich habe selbst Kinder, auf die ich mehr achte als auf die anderer Leute, Lorn.«
»Sicher, natürlich.«
»Du bist etwas verwirrt, Lorn. Du sorgst dich zu viel, und deine Gedanken sind nicht mehr ganz gerade, finde ich. Betrachte die Sache mit Jessica als gewollt. Ihr wird das Wissen nicht schaden, und wenn sie auch in deinen Augen wunderlich werden sollte, so wird sie es wohl nicht werden, ohne es zu wollen. Vertraue auf das Schicksal. Es macht schon keine Fehler.«
»Du hast wohl recht, Karul. Ich hoffe, ich bin dir so früh am Morgen nicht zur Last gefallen.«
Karul huschte ein schäbiges Grinsen über die Züge. »Das bin ich durch meine Frau wohl gewohnt, und sie plappert viel mehr wirres Zeug als du. Wir sehen uns.«
So nahmen sie wieder ihre Eimer mit frischer, noch warmer Milch und gingen ihrer Wege in ihre Küche, um dort mit einem guten Frühstück angemessen den Tag zu beginnen.
Im Hause Tsams begann nun das zweite Mal ein Tag ungewöhnlich. Jeder, der im Haus erwachte, wusste, dass etwas fehlte. Maraims Anwesenheit war, das leuchtete nun den Eltern und Tsam ein, in gewisser Hinsicht marternd gewesen. Maraim war der schwarze Schatten im Haus gewesen, das Loch des Bösen und des Abscheulichen, das zu Zeiten, da es noch anwesend gewesen war, seinen massigen, unansehnlichen Körper, vor dem man stets zurückwich, durch das Haus gewuchtet hatte, um Unfrieden zu stiften.
Tsam hatte Mariam tatsächlich gehasst, und um so beglückter war er über sein Verschwinden. Immer hatte er sich gewünscht, dass Maraim verschwand und nie wieder auftauchte. Zugegeben, diese Angst vor Maraims Zurückkehren steckte Tsam in den Knochen – aber die Tatsache, dass der Bruder so lange fort war, war in gewisser Hinsicht erleichternd. Die Luft roch anders, denn sie erinnerte nicht an Maraim, da man sicher sein konnte, dass dieser sie nicht eingeatmet hatte. Ein Loch klaffte im Haus, und dieses Loch war eines dieser Art von Löchern, an deren Rand man steht und auf eine hinabgestürzte, gefallene Stadt der Feinde hinabblickt, die nun in Trümmern weit unter den Füßen liegt und niemals mehr aufersteht.
Dieses Loch war ein stiller Triumph und allgegenwärtig. Eine Art von verpestendem, lähmendem Gestank war aus dem Haus gewichen, und dennoch war niemand glücklich. Er hatte sich an dem Streich beteiligt, wegen dem Maraim davongelaufen und verschwunden war, was ihn mit Schuld erfüllte. Denn er fragte sich, was aus Maraim geworden sein mochte. Wölfe hätten ihn zerreißen können, langsam, blutig und qualvoll. Die Schmerzen waren für Tsam auf lächerliche Weise nachvollziehbar, da er sich daran erinnert fühlte, wie er in einen Dornenbusch gefallen war und sich böse Risse zugefügt hatte. Wie sehr musste es schmerzen, wenn scharfe Zähne sich nicht nur zentimetertief in die Haut bohrten, sondern ganze Stücke heraus- und Gliedmaßen abrissen? Was, wenn er ertrunken war? Wenn all die Luft ausging, dann musste das ein schrecklicher Tod sein. Oder wenn er in die Corrin-Höhle gelaufen war und dort den schrecklichsten Geheimnissen begegnet war, um von ihnen auf eine nicht vorstellbare Art und Weise getötet zu werden?
Er gönnte Maraim viel Schlechtes, doch konnte er es nicht verkraften, dass er Schuld sein sollte.
Dieses Loch im Haus, das Mairaims Fehlen hinterließ, beängstigte ihn. Trotz allen Hasses, den er hegte, wünschte er sich, Maraim unten in der Küche zu sehen, liegend im eigenen Erbrochenem, sich an nichts erinnernd und so widerlich wie früher. Tsam würde seinem Bruder anders begegnen: Wer sich nicht wehrte, war selbst Schuld, dachte er sich und fand sich im Recht, er nun Maraim die Stirn bieten würde.
Er stand auf. In der Küche fand er seine Eltern, die ihn hatten schlafen lassen.
»Seid ihr schon lange wach?«, wollte er wissen.
»Schon seit einiger Zeit«, antwortete ihm seine Mutter.
»Warum habt ihr mich nicht geweckt?«
»Warum hätten wir das tun sollen? Hast du heute etwas vor?«
»Nein, natürlich nicht.«
»Heute wird es wieder sehr warm, fürchte ich«, meinte der Vater nachdenklich, und das Licht des reifen Morgens wallte wie der Umhang einer großen Fee durch die vielen Fenster. »Es wird Zeit, dass es wieder regnet, sonst trocknet uns das Land aus.«
»Es wird schon regnen, früher oder später«, meinte die Mutter. »Das hat es immer getan.«
»Das stimmt nicht. Vor ein paar Jahren hat der Regen auf sich warten lassen, und unsere Ernte war so gut wie ruiniert. Ohne unsere Vorräte hätten wir harte Zeiten gehabt.«
»Aber auch jetzt hätten wir Vorräte, wenn es zu einer Dürre kommen würde.«
»Das ist richtig, ja.«
»Warum ist der Himmel eigentlich immer so wütend, wenn er und nach langer Zeit der Hitze Regen schickt?«, fragte Tsam unbedarft. »Es ist jedesmal so, nie anders.«
»Das ist so eine Sache«, antwortete sein Vater, und er setzte sich gemütlicher auf seinen Stuhl. »Tirata hat gesagt, der Himmel würde seine Wut ausspeien in Lärm. Sie sagte, es sei einer Warnung an uns. Der Himmel würde uns strafen wollen mit einer Dürre, damit wir auf den Pfad der Erkenntnis zurückkehren, wenn wir davon abweichen, und dann, wenn wir wieder darauf zurückgekehrt sind, schenkt er uns Wasser, damit wir überleben, aber er warnt uns und brüllt uns an.«
Tsam sah zu Boden, und sein Herz wollte nicht mehr schlagen. »Dann will uns der Himmel jetzt also strafen.«
Sein Vater schluckte. »Das will er, ja. Das will er.«
»Und … vielleicht schickt er uns keinen Regen, weil er uns jetzt richtig strafen möchte?«
Das Licht fiel ein und warf Schatten, warf dunkle Dämonen ins Haus, und Tsam erhielt darauf keine Antwort.
Jessica hatte gute Lust, mit ihrem Frühstück zu spielen und zu-dem noch das unbändige Verlangen, Mark zu ärgern. Aber sie tat es nicht. Sie tat es deshalb nicht, da sie sich dachte, dass es albern wäre. So etwas taten nur Kinder, die nichts Besseres zu tun hatten. Sie hatte selbstverständlich etwas Besseres zu tun. Sie musste nun essen, aber nicht, weil man es ihr gesagt hatte, sondern weil sie zu Kräften kommen wollte. Sie wollte stark sein für das, was sie heute zu tun beabsichtigte. Das, was in ihrem kleinen, klugen Kopf an Plänen vorging, war wahrhaft kühn und im Dorf einmalig. Dass gerade ein kleines Mädchen wie Jessica darauf kam, so etwas zu tun, was jedem ausgewachsenem, mutigem Mann aus dem Dorf Angstschweiß auf die Stirn getrieben hätte, war sicherlich ungewöhnlich. Aber Jessica sah ihren Weg. Jessica konnte nicht von sich behaupten, dass sie auch nur entfernt verstand, was vor sich ging und was Tirata repräsentierte. Aber sie wusste – nun gut, das wusste jeder – dass Tirata das Symbol für das Mächtige in allem war. Sie war der Schlüssel zum Raum, den niemand außer Tirata betrat, und dieser Raum war für die meisten die Corrin-Höhle, und nur sie.
Jessica hatte da schon ein paar Schritte mehr getan, und das war bemerkenswert. Zwar war sie der Ansicht, dass dort in der Corrin-Höhle, und nur dort das Zentrum all dessen lag, das sie Welt auf so unverständliche, übermenschliche Art und Weise bestimmte; aber der Einfluss von diesem ging weit über die Corrin-Höhle hinaus. Da war Tiratas Haus, da war der Frauenbaum, da war der Wald etwas weiter fort, da waren die Berge … all das musste irgendwie dazugehören.
»Iss weiter und hör‘ auf zu träumen«, hörte sie ihre Mutter sagen.
Jessica sah hoch und blickte ihr in die Augen.
»Sieh mich nicht so an«, ermahnte die Mutter. »Hast du geträumt?«
»Ich glaube schon«, meinte Jessica leise und aß weiter.
Es herrschte Schweigen im Haus. Jeder aß für sich, und den Eltern fiel der merkwürdig traurige Gesichtsausdruck Marks auf, der aß und auf den Tisch starrte. Seine Augen waren feucht und ausdruckslos, sein Blick verklärt. Seine Glieder waren schlaff und seine Mundwinkel nach unten gezogen.
Niemand war an diesem Morgen in der Stimmung zu reden, und Lorn sah Mark an und fragte sich, was wohl in ihm vorging. Mark war mit Sarah zusammen gewesen, und nun war er traurig. Jessica interessierte sich magisch für Tirata und schwieg gleichfalls, obwohl in ihrem Gesicht keine Trauer, aber Merkwürdigkeit blitzte.
Lorn konnte diese Anblicke kaum ertragen. Seine Augen wanderten von seinem Sohn zu seiner Tochter und wieder zurück, und er wusste, dass etwas mit ihnen nicht mehr so war wie früher. Was war nur so anders geworden? Was ging vor im Dorf, was veränderte die Menschen so?
Obwohl Karul ihm gesagt hatte, dass alles doch normal war, konnte Lorn es nicht glauben. an. Es fühlte sich schlecht und ausgehöhlt. Aber wohlmöglich war er nur einer Einbildung erlegen. »Hilft mit heute jemand, einen neuen Zaun für die Pferdekoppel zu bauen? Sonst rennen uns noch die Pferde fort.« Er war überrascht, wie gelassen und ausgeglichen das geklungen hatte.
»Ich bin doch viel zu klein dafür«, meinte Jessica in dem Ton, den sie immer anschlug, wenn sie sich vor Aufgaben drücken wollte. »Ich könnte ja doch nur zugucken, und es ist mir zu langweilig.«
»Aber du warst doch sonst auch immer dabei. Du kannst ja mit deinen Freundinnen spielen.«
»Eigentlich wahr. Vielleicht. Wenn ich nicht komme, ist das ja auch nicht so schlimm, wo ich dir ja doch nicht helfen kann.«
Ihre Mutter schlug vor: »Du kannst mir doch beim Weben helfen, das machst du doch sonst so gerne.«
Jessica zuckte die Achseln. »Mal sehen.«
»Nein, du siehst nicht. Du hilfst.«
»Gut.«
Mark hatte die ganze Zeit dabei gesessen, als hätte er nichts gehört, und das hatte er auch nicht. Er jagte den Phantomen nach, die ihn quälten. Noch nie hatte sich der Himmel so direkt an ihn gewandt.
»Dann hilfst du mir heute, Mark«, bestimmte Lorn.
Mark hörte nichts.
»Mark!«
Mark schreckte auf. »Was?«
»Lieber Himmel«, entfuhr es Lorn, »was ist heute eigentlich hier los? Träumen heute denn alle? Bist du jetzt in der Lage, mir zuzuhören, wenn ich dir jetzt etwas sage?«
»Ja, Pepe.«
»Gut. Du hilfst mir heute beim Zaun um die Pferdekoppel. Karul hilft wohl auch mit, und ich kann jede Hand gebrauchen. Hast du das mitbekommen?«
»Ja.«
»Gut.«
»Aber der Zaun ist doch in Ordnung«, widersprach Mark plötzlich recht teilnahmslos. »Wir haben ihn doch erst im Apriliam repariert. Das hält bis ins nächste Jahr.«
»Nein, tut es nicht. Ich habe ihn mir letztens angesehen. Wir haben wohl keine gute Arbeit geleistet, denn er muss an einigen Stellen neu gemacht werden, und du hilfst mir dabei, keine Widerrede. Und nun esst beide weiter, haltet den Mund und stellt euch auf Arbeit ein.«
Und so kam wieder Ruhe an den Tisch zurück, bis das Frühstück beendet war.
Mit zunehmender Sonne stieg auch die Temperatur in unerträgliche Höhen. Über das Dorf spannte sich die riesige, tiefblaue Netzhaut des Himmels. Die Tiere standen auf ihren Weiden und verhielten sich still, und wo Bäume standen, drängten sie sich in ihre Schatten. Manche legten sich in den kühlenden Schutz von Hecken und Büschen.
Nicht ein Lufthauch regte sich. Jessica war mit ihrer Mutter ins Haus zum Weben zurückgekehrt, da es dort wesentlich kühler war als draußen, wenngleich auch das Holz die Hitze von außen aufsog. Die Balken schienen brennen zu wollen, und die Luft war stickig und ließ jeden Laut ersterben. Jede Bewegung war anstrengend, und zu dem im Haus vorherrschenden Holzgeruch kam nicht nur der des verwebten Stoffes, der die Luft nur noch trockener machte, sondern auch der des Schweißes von Jessica und ihrer Mutter, die häufig ihre Arbeit mit Keuchen unterbrach.
»Das ist grässlich«, sagte sie schnaufend und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Ihre Haare klebten an der Stirn, ihre Ärmel hatte sie hochgekrempelt. »Ich kann kaum etwas machen, Jessica. Lass uns aufhören.«
»Ja, das wäre wohl besser.«
»Geh mit deinen Freundinnen im Bach schwimmen, ja? Vielleicht sind sie schon alle da.«
»Bestimmt sind die das«, erwiderte Jessica, die neben ihrer Mutter saß und ihr nicht einmal geholfen hatte. »Aber willst du nicht mitkommen? Es sind sicherlich nicht nur Kinder da.«
»Ich komme nach, Jessica, verlass dich drauf. Und nun geh, wenn du willst.«
Natürlich wollte sie. Also stand sie auf und ging hinaus, ließ ihre Mutter allein im brütend heißen Haus zurück.
Schon von weiter Ferne hörte sie Rufen und aufstobendes Wasser, und als sie den Bach sah, umgeben von Bäumen und Gräsern und Büschen und Blumen, stellte sie fest, dass fast das ganze Dorf sich in einer Länge von mehr als zweihundert Metern im Wasser des an einigen Stellen sehr tiefen Baches stand oder lag. Er bot mit einer durchschnittlichen Breite von etwa fünf Metern genügend erfrischendes Wasser für alle. In den Uferzonen und zahlreichen Nebenärmchen, in denen das Wasser stand und sich teilweise zu bizarren Teichen und Tümpeln ausgebreitet hatte, lebten Frösche, und kein Mensch wagte sich dort hinein.
Jessica gesellte sich zu ihren Freundinnen und genoss das kühle Wasser.
»Jessica, wo ist denn deine Mutter?«, wurde sie von einer Frau gefragt, mit der ihre Mutter sich manches Mal unterhielt.
»Sie ist noch im Haus, Ara, aber sie will gleich nachkommen. Sie wollte weben.«
»Dazu ist es doch viel zu heiß!«
»Deshalb kommt sie ja auch gleich.« Jessica wurde nassgespritzt und untergetaucht, und sie wehrte sich nach Kräften wie immer. Sie war für einige Momente die übliche Kratzbürste, in denen sie um sich schlug und trat, harte Worte benutzte und krakeelte, wie es nur Jessica unter ihresgleichen im Dorf tun konnte.
Dann aber kam ein überraschender Windzug auf, kurz, aber stark, und die Badenden nahmen ihn wie Labsal auf. Dieser Augenblick war für alle schön und viel zu kurz, für Jessica verwunderlich, denn sie fühlte sich durch diesen Luftzug von etwas Außergewöhnlichem berührt, und sie blieb im Wasser stehen und ignorierte alle Einladungen zum weiteren Spiel. Sie stand da und starrte zu den Bergen, die nie ein Mensch betreten hatte, die nie ein Mensch erklommen und überblickt hatte, obgleich der Wind, den alle so ersehnten und eben so gelobt und wie Labsal aufgenommen hatten, von eben diesen Bergen kam. Und in diesen Bergen lag auch die Corrin-Höhle. Spie etwa sie den Wind aus?
Jessica ging aus dem Wasser und suchte ihre Sachen zusammen. Niemand rief ihr hinterher, als sie in die Richtung von Tiratas Haus ging, um endlich dort anzuklopfen und jemand anderes zu werden.
Und ihre Mutter, die, als sie zum Bach gehen sollte, ihre Tochter zum Haus der Wahrsagerin gehen sah, rief Jessicas Namen, doch sie reagierte nicht und ging dessen ungeachtet weiter, weiter den Weg, den sie zu gehen gezwungen zu sein schien.
Ihre Mutter stand allein im Dorf, aufgewühlt von der Tragweite dessen, was die Schritte ihrer Tochter bedeuteten. Sie sah ihre Tochter, wie sich von ihrem Dorf und dem gewohnten Leben ein für alle Mal entfernte.
Wie alles um ihn schwieg, als wollte es erst neu erweckt werden. Mark indessen schwitzte mit seinem Vater und fand seine Arbeit so sinn- wie trostlos. Lorn hingegen war eifrig bei der Arbeit, mit freiem Oberkörper riss er Pflöcke aus der Erde und rammte neue mit solcher Kraft wieder hinein, dass es Mark schauderte.
Das Gras um sie, das ihnen bis zu den Knien reichte, war von ausgeblichenem Dunkelgrün – es war durstig wie Mark und ebenso kraftlos. Die Pferde hatten sich unter Bäume geflüchtet und standen geduldig da.
»Du bist still, Mark. Ist was?« Dabei arbeitete Lorn weiter und erzwang sich einen Ton der Gelassenheit.
»Nein, nichts.«
Wieder Stille. Lorn arbeitete weiter und nahm den Geruch der Blumen, die dem dichten Teppich des Grases ein wunderschönes Muster verliehen, wohlwollend auf. »Du machst aber den Anschein. So still bist du doch sonst nicht. Erzähl mir nicht, dass dich nichts bedrückt.«
»Nein, es ist nichts.«
»Gut, wenn du meinst. Gib mir einen Pflock.«
Mark gehorchte schwieg. Seine Augen nahmen wie so oft das auf, was um ihn war, und es war wie immer berauschend schön, und es würde immer berauschend schön sein, ganz gleich, wie oft und wie lange man es sich ansah. Was hatte er in dieser planen Landschaft, die sich nur über einige weit ausladende, seichte Hügel schwang, alles erlebt. Es hatte nur schöne Momente gegeben, kaum oder nie Dinge, die ihn betrübt hatten, und so war ihm das Gefühl von Sorge und Schuld bislang fremd – um so zerstörender wirkte es nun auf ihn.
»Es ist alles so anders«, sagte er plötzlich, ohne den Blick von der Landschaft zu nehmen.
Lorn hielt inne. »Alles geht seinen Weg, Mark. Ich habe mich auch seltsam gefühlt.«
»Ich bin so verwirrt. Es ist zu heiß, es ist zu still, seitdem der Himmel geweint hat.«
Lorn holte tief Luft und sah in Sonnenrichtung. »Ja, wir haben wohl Fehler gemacht.«
»Was meinst du, werden wir in die Höhle gehen?«
»Wir werden warten müssen, was Tirata sagt. Wenn sie meint, dass wir es tun sollten, wird kein Weg daran vorbeigehen.«
»Die Höhle macht mir Angst.«
»Ist es wirklich das, was dich bedrückt, Mark? Oder ist es etwas anderes? War es nicht so gut, wie du es dir vorgestellt hast? Das macht doch nichts. Es wird wieder werden.«
Mark sah ihn. »Was, um Himmels willen, meinst du?«
Lorn zuckte mit den Achseln. »Nun, ich bin nicht blind. Ich habe gesehen, wie du mit Sarah verschwunden bist.«
Mark wurde rot und sah beschämt zur Seite.
»Du musst nicht wegsehen«, beschwichtigte Lorn, »das ist der Lauf der Dinge. Irgendwann einmal ist jeder so weit wie du.«
Mark schwieg und hing seinen Gedanken nach, die nichts mit denen seines Vaters gemein hatten.
»Du brauchst kein schlechtes Gewissen zu haben«, meinte Lorn. »Oder hast du sie verletzt?«
Mark schüttelte den Kopf. »Nein, habe ich nicht.«
»Dann ist doch alles in Ordnung. Möchtest du sie wiedersehen?«
»Was soll das? Ich würde sie ohnehin jeden Tag sehen.«
»So meine ich das nicht.«
»Was meinst du dann?«
»Ob du etwas für sie empfindest.«
»Ja.« Vorübergehenden Ekel.
»Gut. Dann geh zu ihr, mach mit ihr, was immer du tun möchtest. Sie ist ein hübsches Mädchen.«
»Ja, das ist sie.« Aber warum, dachte er verzweifelt, hatte der Himmel deswegen geweint? Weil er Tsam hintergangen hatte? Und wenn er das hatte, dann war entweder er falsch oder alles andere, was ihn umgab.
»Ich hoffe, das war dann alles, was dich bedrückt.«
Mark fühlte sich allein. »Ja, das war es wohl«, log er.
Lorn lächelte. »Schön. Und jetzt geh zu den anderen und vertreib dir die Zeit, es ist zu heiß zum Arbeiten.«
Die Sonne wollte eine andere sein, die Hitze wollte eine fremde sein, die Stille wollte eine Natur sein, die nichts zu sagen hatte.
Mark ging bedrückt zum Dorf und schwieg.
Ende des 7. Kapitels – Der Wind von Irgendwo geht weiter mit Kapitel 8: Jessica bei der Wahrsagerin
Wann ist eine Veröffentlichung eine »echte« Veröffentlichung? Diese Frage ist für Schreibende wie mich relevant. Wir, die wir schreiben, schreiben zwar in erster Linie, um zu schreiben – wir tun es für uns, wir tun es wegen uns – aber Publikum wäre dennoch schön.
Da der Weg in Verlage oder Literaturzeitschriften steinig, langwierig und aus verständlichen Gründen auch oft unmöglich sein mag, bieten sich Plattformen an. Nach dem Motto: Account erstellen, einloggen, publizieren, Leserinnen und Leser finden.
Klingt einfach, verlockend und erfolgversprechend.
Aber ich will dennoch keine Plattform nutzen, sondern meinen eigenen Blog als Plattform verwenden. So sind Erzählungen wie Sag mir, wer du bist, Im Schweigen oder Das Ähm im M.’s Garten in der Nähe von Emsdetten sowie sogar mein kompletter Roman Der Wind von Irgendwo in meinem Blog Das hat verschiedene Gründe:
Bei mir ist es WordPress-Blog, damit kenne ich mich aus. Da es mein eigener Blog ist, überlege ich gar nicht allzu lange, sondern konzentriere mich auf das, was ich tun will: Veröffentlichen – ich stelle online, was, wann und wie ich es möchte. Ich entscheide mich für ein Format selbst, eine Struktur, einen Termin.
Bloggen mag manchen nicht gut genug sein, um als »veröffentlicht« zu gelten – dabei sehe ich viele Aspekte des »richtigen« Veröffentlichens eher als Ballast. Ich erziele schnell Ergebnisse, indem ich einfach selbst veröffentliche, was, wann und wie ich es möchte.
Absolut großartig ist es für mich, gerade bei Kurzgeschichten und Erzählungen auf eine ganze Reihe von Texten zurückgreifen zu können, von denen viele bislang auch in Anthologien veröffentlich worden sind – aber ganz ehrlich: Auf meinem Blog erreiche mehr Leserinnen und Leser, denn er hat eine größere Reichweite als manche Plattformen, denn nur weil etwas auf einer Plattform veröffentlicht ist, heißt das nicht, dass die eigenen Texte auch gelesen werden. Wer in einem Genre schreibt, das untypisch für die Plattformen ist, kann unter Umständen mit einer Veröffentlichung dort wenig bis nichts erreichen, wenn die dort vernetzte Leserschaft solche Texte nunmal gar nicht mag. Da fühle ich mich auf meinem eigenen Blog wohler.
Nein, ich habe weder vor Verlagen, noch vor Literaturzeitschriften kapituliert. Nein, ich habe mich nicht aufgrund einer oder mehrerer Absagen beleidigt zurückgezogen. Nein, ich reagiere mit meinem Vorgehen nicht auf »etwas«.
Im Gegenteil:
Es geht mir um nichts anderes als meine persönlich Freiheit in allem, was ich tue. Wenn man das eigene Schreiben als »etwas Eigenes« betrachten kann und will, geht es in erster Linie einmal nur darum: Das Eigene. Und das hat zwei Dimensionen:
Denn ich möchte nicht nur meine Geschichten veröffentlichen, sondern diese auch bei Bedarf mit zusätzlichen Inhalten anreichern wie begleitende Making-ofs, Hintergrundartikel und Blick in die Schreibstube, hätte ich diese gerne auf der gleichen Plattform wie die Geschichten selbst.
Geschichten wie Artikel sollen parallel laufen und untereinander verlinkt sein. Ein Plattformwechsel bringt aus meiner Sicht lediglich Unvollständigkeit.
Ich möchte dies unter meinem eigenen Namen auf meinem eigenen Blog tun, der meinen Namen trägt, um so authentisch und persönlich wie möglich zu bleiben – was mir besser möglich ist, wenn ich alle Texte, Artikel und Bilder in meiner eigenen Blog-Plattform anbiete und verwalte.
Außerdem habe ich damit selbst in der Hand, mit welcher Art von Dateien ich meine Artikel und fiktionalen Texte anreichere, wie diese aussehen und welche Form sie haben. Diese Freiheit habe ich auf Plattformen nicht in diesem Maße, sondern muss mich an alle möglichen Regeln und Vorgaben halten, die nicht ich mache, sondern andere. Das ist nicht in meinem Sinne.
Ich möchte selbst entscheiden, wem ich meine Texte anvertraue. Denn ich verstehe meine Texte nicht als »Content«, weder meine Artikel, und schon gar nicht mit meinen schriftstellerischen Texte.
Da ich von Texten spreche, die mir wichtig sind, ist es mir auch wichtig, wo ich sie platziere – und damit meine ich die Server und die Rechte, die ich habe bzw. abgebe.
Ganz klar: Die Server für meinen Blog werden in Deutschland betrieben und unterliegen den europäischen Datenschutzrichtlinien. Das war es dann auch schon.
Sie gehören mir, weil ich den digitalen Ort verwalte, an dem ich sie speichere.
Bei Plattformen ist das anders. Da wandern meine Texte auf Server, über die ich keine Kontrolle habe und unterliegen vielleicht Bestimmungen, die ich nicht möchte – und mit denen ich mich erst einmal befassen muss. Für mich ein Unding: Der Cloud Act, mit dem die USA automatisch Zugriff auf meine Daten haben, sobald ich meinen Blog etc. bei einem amerikanischen Unternehmen hoste – dabei spielt es keine Rolle, ob ich bei »der deutschen Tochter« eines US-Unternehmens bin.
Ich finde das als Gängelung und sogar persönliche Frechheit. Natürlich kann jeder selbst für sich entscheiden, dass es keine Rolle spiele, da man »nichts zu verbergen hat«. Da schlägt in mir das europäische Revoluzzer-Herz in mir, das eine Allergie gegen diese untergeschobenen »Selbstverständlichkeiten« hat.
Und ich möchte mich auch nicht erst mühsam durch endlose Bestimmungen von Plattformen lesen, um zu erfahren, wer da was mit meinen Daten machen kann – so ist es ja zudem möglich, dass Plattformen Inhalte sperren können, weil man gegen ihre Richtlinien verstößt. Da sträubt sich in mir alles.
Alles, was in meinem eigenen Blog passiert und angeboten wird, kann ich gut monitoren und aufeinander abstimmen. Es stimm natürlich, dass ich auch Inhalte auf anderen Plattformen monitoren kann, allerdings bin ich da auch limitiert. In meinem eigenen Blog unter meiner eigenen Domain profitiere ich selbst am meisten von meinen Artikel, Stories und Kapiteln – nun mag man völlig zu Recht einwenden, dass ein Text von mir auf einer gut gerankten Plattform eine größere Reichweite erzielen könnte, als lediglich als Post in meinem Blog.
Völlig richtig.
Allerdings ist es fraglich, ob diese Reichweite sich auch nennenswert in größerer Leserschaft niederschlägt. Aber das zu beobachten und selbst in der Hand zu haben, ist reizvoll.
Es gibt noch andere Punkte, die ich anführen möchte, spare mir die aber für einen eigenen Artikel auf, auch, um diesen nicht allzu lang werden zu lassen.
Der Wind von Irgendwo von Anfang an lesen
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Mit dem Abend kam der Wind, der die Hitze wegfegte, und vom Himmel begannen die Sterne zu leuchten. Die Akteure und Komparsen traten auf. Sie kamen aus ihren Häusern – nicht alle gleichzeitig; aus Jasefs Haus kam Jasef selbst, schritt durch die Dunkelheit und die von den Grillen untermalte Stille und klopfte an ein anderes Haus, in dem er kurz verschwand und nach einiger Zeit mit einem Begleiter wieder erschien, um ans nächste Haus zu klopfen; und mit einem Mal war fast das ganze Dorf versammelt.
Ein Feuer wurde angezündet, und die orangeroten Flammen stachen wärmend in den Himmel, und das Universum, ausgebreitet als ruhiges Publikum in schwarzem Stoff und Pailletten, wurde aufmerksam auf den kleinen, strahlenden, flackernden Punkt inmitten der Bühne vor interessiertem Publikum in versteckten Logen.
Eine Tradition wurde fortgeführt: das Feuer! Mehrmals in der Woche wurde es gezündet, und Männer und Frauen begannen zu reden und zu erzählen, und viele Männer und Frauen sahen viele Dinge. Welche, die sie zu deuten nicht in der Lage waren. Welche, die geheimnisumwittert in der Umgebung und den Köpfen der Menschen spukten. Das Feuer war das Herz des Dorfes. Es gab da nichts, was wichtiger gewesen wäre. Es gab da nichts, was aufregender gewesen wäre. Wenn das Feuer inmitten des spinnenartigen Körpers des Dorfes zu knistern begann, schlugen alle Herzen des Dorfs im Gleichklang. Je nach Geschichte langsam und friedlich oder schnell und gehetzt. Dann hetzten Furcht und Aberglaube die ansonsten ruhigen Menschen von einer Paranoia in die nächste.
Nun leckte das Feuer gierig am Holz. Die Gesichter orangerot und flackernd, saßen sie um das Feuer und hörten zu, wie Jasef, einer der alten Männer mit dem Knistern sprach: »Ich spüre Fremdes in unserer Gegend. Etwas ist nicht mehr wie früher.«
»Was meinst du, was es ist, Jasef?«, fragte jemand.
Dieser schüttelte nur den Kopf. »Ich kann es nicht sagen. Aber ich sage euch: spürt ihr nicht den Atem des Fremden? Habt ihr nicht bemerkt, wie der Himmel in letzter Zeit weint?«
»Ich habe vor einiger Zeit eine dicke Träne niederfallen sehen. Groß und hell.«
»Was will uns nur strafen?«, fragte Jasef in die Runde. »Warum hat der Himmel in den letzten Nächten Tränen über uns verloren? Was machen wir falsch?«
Schweigen brach herein. Jeder hörte das Knistern des Feuers, und hin und wieder gab es ein lautes Knacken, wenn feuchtes Holz zersprang und hunderte von Funken in das schwarze Tuch des Himmels jagten, als wollten sie es entzünden.
Manchmal ächzte und stöhnte das Holz, schnarchte und fauchte – und um das Feuer und die Menschen herum waren tausend Augen von Dingen, vor denen sie sich fürchteten und tausend Augen der Sterne waren über ihnen.
Tief in dieser Dunkelheit sahen sie den kaum erkennbaren Buckel eines riesigen Monsters, das so groß war, dass Bäume darauf wuchsen, das eine Haut aus Erde und Stein besaß und daher nicht zu töten war; das so groß war, dass es eine ganze Höhle als Maul besaß, aus dem es befremdenden Atem hauchte. Dieses monumentale Geschöpf mit den tausend Augen schlief rein äußerlich. Doch niemand bezweifelte, dass darin Grausiges steckte.
»Was Tirata wohl darüber weiß?«, fragte jemand leise. »Kann sie uns sagen, warum der Himmel weint?«
»Vielleicht hat er es ihr gesagt?!«
»Ich höre viele seltsame Stimmen.«
»Ja, hört ihr das Feuer flüstern?«
»Hört ihr den Wind flüstern? Die Bäume?«
»Tirata wird es wissen.«
»Wohin ist Maraim gestern gelaufen?«
Stille.
Jeder sah ihn vor sich, wie er weinend vor ihrem Gelächter in die Nacht gelaufen war.
»Ist er wiedergekommen?«, wollte Jasef wissen, und etwas schnürte ihm wie allen anderen den Magen zusammen. »Habt ihr ihn gesehen?«
Niemand wollte etwas sagen.
»Agatha!«
Agatha sah zu Boden. »Ich habe ihn nicht gehört. Er ist doch so oft so lange allein draußen in der Nacht. Das ist schon immer so gewesen.«
»Und ist er nicht immer seltsamer geworden? War er nicht immer … böse?«
Das Feuer knisterte.
»Was, wenn ES ihn verwandelt hat?«
Keiner wagte zu atmen. Die Luft wurde dick und heiß. Dies war die aufregendste Geschichte seit Langem, und Vieles ging den Leuten durch den Kopf.
Ja, Maraim war immer unflätig und bösartig gewesen, hatte nie am Leben im Dorf teilgenommen, hatte immer nur getrunken und hatte jeden attackiert, der sich ihm in den Weg gestellt hatte. Er war ein Tyrann. Er war wie ein Dämon – und nun war er verschwunden in der Dunkelheit, in der er schon immer gern allein gewesen war.
»Und was«, führte Jasef weiter aus, »wenn Maraim nun dort hin gelaufen ist, wohin er gehört? Mit was hat er gesprochen? Zu wem ist er gelaufen?«
Angst machte die Runde, nahm das Menschenrund um das Feuer gefangen und bildete einen lodernden Zirkel der Furcht.
Jasef sah in die Runde, ein entsetzliches Kribbeln fühlend. »Was ist es?«
Wände schienen auf die Menschen zuzurasen, die Nacht begann zu einem einzelnen monumentalen Geschöpf zu werden, das von allen Seiten auf sie zugekrochen kam. Ihre Herzen pochten im Stakkato, und ihre Häuser waren im Feuerschein düstere Karikaturen des Schutzes, den zu geben sie nur heuchelten. Plötzlich war das Böse überall. Und das brachte das ganze Dorf in Aufruhr. Man sah sich in einem Rudel von Wölfen, wie es schon einmal geschehen war – man hatte sich tagelang verkrochen, während draußen graue Wölfe umhergestreunt waren und Tiere gerissen hatten. Die Menschen hatten in ihren Häusern gesessen und das Schreien der Tiere gehört. Sie hatten die vielen Todeskämpfe durch die Nacht hallen gehört. Die Wölfe hatten die Weidetiere in schrecklichem Ausmaß dezimiert, und seitdem bangte man der Rückkehr der Wölfe mit Schaudern entgegen.
»Der Himmel weint über Maraim«, sagte Jasef schließlich nach langer Pause, in der das Feuer die knisternden Worte der Angst gesprochen hatte, die jeder verstand.
Auch Jessica saß mit am Feuer. War sie eigentlich nur mit zum traditionellen Feuer gegangen, um sich ein wenig von der wundervollen Ruhe einzuhauchen, die sie schläfrig machen sollte, und mit den anderen Kindern irgend etwas zu tun, so war sie nun von der Geschichte über Maraim vollkommen gefesselt. Trotz ihres Alters war sie sich darüber im Klaren, dass sie an Maraims Verschwinden beteiligt gewesen war; er war fortgelaufen wegen ihres Streiches, und nun war er fort, fortgelaufen zu dem, das niemand kannte und jeder fürchtete. Hin zu dem, das in der Nacht, in der Corrin-Höhle lag – denn wo sonst sollte es sich verbergen. Doch Tirata fürchtete sich nicht, sie war nicht unwissend, und Jessica fühlte sich zu all dem hingezogen. Sie dachte sich, dass man vielleicht schweigen musste, wen man von allem wusste. Diese Dinge konnten nur gewissen Menschen vorbehalten sein – und da es üblich war, dass eine Wahrsagerin stets eine Tochter hatte, die ihre Nachfolgerin wurde, fragte sich Jessica, ob Tirata sie als solche anerkennen würde. Sie wollte es, denn nichts interessierte sie mehr als all die Geheimnisse, über die man so gut wie nie abends am Feuer sprach, auf dem Boden rund um das Feuer sitzend, mit Phantasiegebilden losgelöst wie die auftanzenden Funken.
Sie wollte mehr über all das erfahren, das auftauchte, wenn die Stimmen der Erzählenden das Rund der Menschen gefangen nahm und sie mit dem unsichtbaren Band der Neugier verband. Wenn man das Gefühl hatte, allein in einem gewaltigen Magen eines viel gewaltigeren Molochs zu sein, den das spärliche Feuer nicht auszuleuchten vermochte; wenn einen das Gefühl übermannte, auf einer Welt auf bestimmte Weise allein und verloren zu sein, umgeben von finsteren Dingen, jedoch wissend, dass dennoch nichts geschah und man in die sichere Hülle seines Hauses zurückkehren konnte, wie sollte man das nennen? Gab es ein Wort dafür? Wenn jemand das wusste, dann war das Tirata, und Jessica war willens, daran teilzuhaben.
Sie konnte sich daran erinnern, dass sie einmal an einem Feuer gesessen hatte, das wegen Regens in einer großen Scheunen stattgefunden hatte. Das Feuer war winzig gewesen im Gegensatz zu jenen, die draußen gezündet würden, die Scheune sollte kein Feuer fangen. Wieder hatte es einen Redner gegeben, der gesprochen hatte, während Regen rauschend auf das Dach geschlagen, an dem Dach heruntergelaufen und zu Boden gefallen war. Dieses Hintergrundrauschen hatte alle beruhigt und ihre Glieder waren bleischwer geworden. Das, was der Mann gesagt hatte, war durch die Scheune geschwebt wie der Rauch des Feuers, der sich den Weg durch einige hochgelegene Öffnungen in den Wänden kurz unter der Decke gesucht hatte.
»Ich habe letzte Nacht einen merkwürdigen Traum gehabt.«, hatte der Mann begonnen, und Jessica wusste die Worte noch, so hypnotisch, wie sie in der damaligen Atmosphäre erschienen waren.
»Ich träumte von Menschen fernab von uns. Ich träumte, wir wären nicht allein. Große Vögel flogen über das Land, einen gewittrigen Himmel mit sich bringend. Und ich bin der Überzeugung, dass in der Corrin-Höhle Unaussprechliches ist.«
»Was sollte denn Unaussprechliches dort sein?«, wollte Lorn wissen, an den sich Jessica lehnte. Ihr Blick ruhte auf einem ledernen Pferdehalfter, der an einem Balken hing. Sie blickte durch die Scheune, die das Abbild ihrer Welt darstellte, ihrer Existenz. Alles, was ihr Leben ausmachte, alles, woran sie dachte, wenn sie morgens erwachte, war hier vereint; hier war Heu, in dem man spielte unter dem man herkroch und sich versteckte; hier war Holz, in dem man wohnte und mit dem man lebte; hier schlug für dieses Abend das Herz des Dorfes; hier waren zurzeit ihre Angehörige und Freunde. Die Scheune war zweistöckig – unten waren die Ställe für die Tiere, die nur winters dort standen. Hier standen Geräte für Garten- und Ackerbau, Riemen und Halfter.
Oben, gehalten von teils morschem Holz, war die zweite Ebene, auf der Heu lag, und auf die man sich so gut wie nie wagte, weil dort Geister umgehen sollten. Weil es dort oben gefährlich war und weil es dort oben niemanden gab, der einen hätte beobachten können. Hier herrschte Sturzgefahr, aber jeder, obgleich man sich fürchtete, war neugierig und hoffte nur, den Mumm zu haben, sich dort oben zu verstecken und allen zu beweisen, dass nichts dort oben war. Bei den Kindern galt das Heraufklettern als Mutprobe, die nur die wenigsten bestanden.
»Das Unaussprechliche kann ich nicht beschreiben«, sagte der Mann. »Seltsam aber, denn seit meinem Traum habe ich das Gefühl, dass nicht mehr alles so ist, wie es war.«
Nun machte sich Jessica abermals Gedanken darüber, mehr zu erfahren. Sie wollte auf den Dachboden der Scheune! Und wenn möglich, dann auch noch auf das Dach!
Als habe es das Schicksal so gewollt, dachte Mark an Sarah, und diese kam, setzte sich zu ihm und lächelte. Dieses Lächeln!
Er freute sich darüber, dass sie kam, doch mit einem Zwicken im Magen hielt er nach Tsam Ausschau und war erleichtert, als er ihn nicht fand.
Beide hörten zu, was Jasef zu sagen hatte.
»Warum weint der Himmel über Maraim, wenn er Böses im Schilde führt?«, wollte eine Frau wissen.
»Er weint über den Verlust einer Seele. Oder er weint über uns.«
Schlagartiges Staunen. Schweigen.
Nur das Feuer knisterte und knackte.
»Warum sollte der Himmel über uns weinen?«, fragte die selbe Frau etwas leiser.
»Weil wir uns schuldig gemacht haben.«
Die Worte hingen wie Gewitterwolken über dem Rund, und Wind trieb die Flammen zu wildem Zucken.
»Wessen?«
»Das weiß nur Tirata. Wenn der Himmel weint, dann lügt er nicht.«
»Vielleicht beweint der Himmel unsere Feigheit. Unsere Feigheit vor dem Fremden. Unsere Feigheit, dass wir nicht nach Maraim suchen. Vielleicht weint der Himmel, weil wir uns nicht in die Corrin-Höhle trauen.«
Die Männer und Frauen blickten einander nervös an.
»Was sollen wir dort? Außer Tirata ist nie jemand von uns dort gewesen.«
»Eben«, meinte Matia, ein junger Mann, plötzlich. »Vielleicht ist es ein Zeichen des Himmels, dass wir uns trauen sollen. Kennt ihr nicht das Buch?«
Natürlich kannte es jeder. Das Buch, das nur Tirata lesen konnte, das Buch mit viel Papier, dünnem Papier, auf dem viel stand , in zwei Blöcken nebeneinander pro Seite, auf vier Blöcken pro Doppelseite. Morkus nannte dieses Buch sein Eigen, und er hatte Grund, stolz darauf zu sein. Dieses Buch war das einzige im Dorf abgesehen von denen, die Tirata besaß. Es war ihm vererbt worden, denn seine Familie besaß das Buch schon länger, als jeder im Dorf denken konnte; selbst Tirata hatte einmal gesagt: »Dieses Buch ist vor der Zeit unserer Häuser entstanden.«
Niemand wusste, woher es kam, und das machte es wertvoll. Und nur Tirata hatte es gelesen, wie die Wahrsagerinnen vor ihr, und alles, was sie gesagt hatte, war: »Dieses Buch ist heilig.« Und als ein solches wurde es auch behandelt. Morkus war stolz – so sehr, dass er es oft herausnahm und betrachtete und es längst nicht jedem zeigte. Die Bilder darin reizten ihn besonders, und obwohl die Farben der ganzseitigen Bilder schon ausgeblichen waren und die Ränder der Seiten Gelb und Kräusel aufwiesen, hatten sie noch Pracht und Schönheit. Er verstand die Bilder nicht, aber die waren magisch. Sie waren meist wunderschön, manchmal auch grausam.
Er sagte: »Ich habe sie mir oft angesehen, auch gestern wieder. Jedes einzelne. Und eines war dabei, das mir sagt, dass der Himmel tatsächlich weint, weil wir in die Corrin-Höhle gehen sollen, es aber nicht tun. Ich hole es.« So stand er auf und ging. In der Zeit war es still ums Feuer, und jeder gab sich seinen Gedanken hin, und in Mark brodelte es.
Ja, warum sollten alle Verbote weiterhin Verbote bleiben? Warum sollten Höhlen mit ihren Geheimnissen gemieden werden? Was war das Geheimnis tief im Innern der Corrin-Höhle, und warum sollte man nicht mutig sein? Er sah Sarah in die Augen, und es lag wieder eine unaussprechliche Faszination in ihrem Gesicht, in ihrem Haar und überall an ihr, eine Faszination, die nur tief im Innern gespürt werden konnte. Der Wind, der um sie hauchte, blies ihnen beschwörende Formeln ins Ohr, und das Knistern des Feuers war wie das flüsternde Kichern von Voyeuren. Der Ansporn ließ ihn über sich hinauswachsen. Bevor sie sich versahen, küssten sie sich. Sie wussten nicht, warum sie es taten, aber sie wussten, dass sie es tun mussten, weil ihnen keine Wahl blieb. Sie gingen in die Dunkelheit hinter eine entlegene Scheune, wo sie sich zu Boden fallen ließen und sich gedankenlos die Kleider abstreiften. Die Finger des jeweils anderen, das Gras und der Wind ließen sie bis in die kleinste Faser vibrieren. Mark war wie von Sinnen. Ohne darüber nachzudenken tat er, was er tun musste, ohne zu wissen, wie leidenschaftlich, aber zugleich auch wie mechanisch er seiner Liebe freien Lauf ließ. Er vergaß alles um sich herum und sollte später nur noch eines wissen: wenn man tatsächlich in die Höhle gehen wollte, würde er dabei sein!
Währenddessen kam Morkus mit dem Buch zurück und setzte sich, das Buch betrachtend. Es sah bei Feuerschein noch faszinierender aus als bei Tag. Der Einband war aus altem, mittlerweile hartem Leder. Alle Augen sahen darauf, und das Rund brach auseinander. Man rottete sich zusammen, um das Buch zu betrachten, denn nicht jeder hatte es schon einmal gesehen – wurde es doch als Morkus‘ wertvollster Schatz bestens behütet.
Der Umschlag war alt und verfärbt. Wasser hatte das Leder wellig gemacht und aus der Form gebracht, und das Dunkelrot war nur noch ein fleckiges und ausgefärbtes Fragment.
Das Buch war schwer, dick und so groß wie vier Handflächen. Es lag im Schoß des stolzen Besitzers, der eine Seite aufschlug, wo die Seiten eine seiner Finger einklemmten. Es offenbarte sich den Neugierigen eine Doppelseite, deren rechte Hälfte unverstandene Schrift, deren linke Hälfte ein farbenprächtiges Bild zeigte. Morkus wies darauf. »Da, seht, da, seht. Soll das etwa heißen, dass wir uns von der Höhle fernhalten sollen?«
Alle betrachteten sie das Bild gespannt, und man schob sich gegenseitig zur Seite, um einen Blick darauf werfen zu können. Es zeigte im Hintergrund eine Höhle, deren schwarzer Schlund in die Tiefen eines gezeichneten Berges hinein zeigte. Umrahmt war sie von einigen Bäumen, wie es auch die Corrin-Höhle war. Aus ihrer Richtung kam ein Mann mit weißen Gesichtszügen, langen Haaren und einem Gewand, um den Kopf einen leuchtend-gelben Kreis tragend, den niemand zu deuten verstand, und er hielt seine Hände nach vorn, die in ihren Mitten Wunden zeigten. Das Bild war von umwerfender Anmut und Pracht. Es zeigte zudem eine Frau, die ihn verwundert und verängstigt ansah.
»Wir müssen in die Höhle hinein«, beschwor Morkus. »Wir müssen dorthin. Seht doch.« Wie sehr ihn doch das Bild in den Bann schlug, wie schon viele Male zuvor! Er wusste nicht, wozu es gemalt worden war und wen es darstellte, aber eines war für ihn unwiderruflich: »Ich glaube nicht, dass dieser Mann böse ist, der da aus der Höhle kam. Seht ihr nicht das Zeichen?«
Jeder sah das Bild und brachte es in Verbindung mit seiner eigenen Angst.
»Die Frau erschrickt sich aber«, merkte jemand an.
»Weil sie nicht wusste, dass in der Höhle etwas ist«, meinte Morkus. »Sie war wie wir, und nun kann sie es nicht fassen, dass sie sich geirrt hat.«
»Nein«, sagte jemand entschieden. »Das ist ein Zeichen, dass wir heraus bleiben sollen. Die Frau hat Angst vor dem Mann aus der Höhle. Ich werde nicht gehen.«
Leise Zustimmung fraß sich durch die Runde, und eingenommen von Furcht verteilte man sich wieder am Feuer, der Kreis wurde wieder aufgebaut, und nichts Fremdes von außen wurde eingelassen.
Und weitab von dem, weitab vom Kreis und den anderen lag Mark mit Sarah hinter der Scheune und lernte, ein Mann zu sein, lernte, Vergnügen dabei zu empfinden und fühlte sich schwebend, als Sarah plötzlich aufschreckte.
»Was ist los?«, wollte Mark wissen.
»Sieh doch«, meinte sie angsterfüllt und mit bebender Stimme.
Mark sah in den Himmel, in den sie zeigte und sah eine Träne niederfallen, eine große, dicke Träne, und kurz darauf wieder eine weitere.
Sarah wich zurück, und Mark trat der Angstschweiß aus den Poren. »Der Himmel weint«, entfuhr es ihm, und sein Magen wollte ihm explodieren. »Oh nein, was haben wir getan? Was haben wir getan?« Er sprang auf und lief davon. Sarah, die hinter ihm herrief und sich aufrichtete, hörte er in seiner Panik nicht mehr, und er lief zum Rund und um das Feuer und schrie: »Der Himmel hat geweint! Der Himmel! Der Himmel hat geweint!«
Alle sahen auf, und der Schrecken saß allen in den Gliedern. Lorn fragte: »Bist du sicher?«
Mark zitterte. »Ich habe eine Träne gesehen, und Sarah auch. Wir haben es beide gesehen!«
Man kauerte sich aneinander.
»Was hat das zu bedeuten?«
»Das ist ein Zeichen. Wir werden Tirata fragen müssen. Der Himmel weinte, als ihr meintet, dass das Bild in meinem Buch kein Zeichen zum Betreten der Corrin-Höhle ist.«
»Wenn Tirata sagt, dass wir gehen sollen, werden wir gehen.«
Und Mark setzte sich hin, starrte ins Feuer und spürte das erste Mal in seinem Leben Panik und war sich sicher, vom Himmel ein Zeichen bekommen zu haben, das ihm Angst machte. Er musste einen Fehler gemacht haben.
Der Himmel weinte nicht ohne Grund.
Ende des 6. Kapitels – Der Wind von Irgendwo geht weiter mit Kapitel 7: Ein neuer Tag
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Das Feldfrucht-Fest ging spät zu Ende, sehr spät, jedoch nach der Meinung mancher Feiernden zu früh. Es war schon lange neuer Tag, als die Letzten die rauchenden Feuerreste verließen und in ihre Häuser zurückgingen, um dort ihren Rausch auszuschlafen, und die meisten üblichen Arbeiten ruhten für einen Tag oder wurden später in Angriff genommen.
Viele Stunden war es so ruhig, als wäre das Dorf vollkommen verlassen.
Niemand sah, wie Tirata aus ihrem Haus trat und ihrem mysteriösem Treiben nachging, das niemand verstand. Hätte es jemand gesehen, hätte man sich die Köpfe darüber zerbrochen; doch Tirata nutzte die Gelegenheit, in denen sie unbeobachtet war. Sie nutzte Dunkelheiten und Momente wie diese, um unbemerkt aus dem Haus zu gehen, ohne dass man spekulierte. Selbst wenn sie nur Holz holte, war es für die Leute verdächtig, denn es blieb den Leuten nur die vage Gewissheit, dass Tirata ihr Haus verlassen hatte und irgend etwas tat. Aus der Entfernung wirkte alles mysteriös und geheimnisumwittert.
In Momenten wie diesen hatte Tirata so manches getan, wovon niemand wusste. Es war seltsam, dass Tirata wie alle Wahrsagerinnen vor ihr nur Mädchen gebaren, niemals Jungen.
Tirata schlich sich ins Dorf uns hielt Ausschau. Sie nutzte die Betäubtheit der Leute und kam ins Dorf, wenn niemand es bemerkte. Schon oft war sie nach dem Feldfrucht-Fest ins Dorf gekommen wie jetzt, mit wehendem Rock und leisen Schritten, als wäre der Wind ihr Boden, mit wachen Augen Ausschau haltend nach einem geeigneten Haus mit einem geeigneten Mann, der betrunken genug gewesen war.
Es war durchaus Methode, den Menschen beizubringen, dass es religiösen Zwecken diente, sich bis zur Besinnungslosigkeit zu betrinken. All ihre Vorgängerinnen hatten es ihr gleichgetan, und nur sie wussten davon. Es galt, einen Mythos aufrechtzuerhalten.
Die Spitzen der Häuser bohrten sich in das strahlende Azur des Himmels. Tirata war darauf bedacht, auch von den Kindern nicht gesehen zu werden, die am Abend natürlich nicht getrunken hatten, und die nun sehr wohl wach sein konnten. Jedoch hieß es im Dorf, dass am Tag nach dem Feldfrucht-Fest erst dann das Licht des Tages in die Häuser einfallen durfte, wenn die Eltern erwachten, denn der Schlaf nach dem Feldfrucht-Fest galt als heilig. Somit blieben die Kinder liegen oder tappten durch das dunkle Haus, ohne herauszusehen oder gar zu gehen.
Tirata fand ein Haus, von dem sie wusste, dass dort Toma mit seiner Frau wohnte, die ohne Kinder waren; das sollte noch folgen. Toma hatte erst im letzten Jahr die Frau seines Herzens gewählt, und nun warteten sie auf das erste Kind.
Zudem war Tirata nach wie vor noch eine Frau, die für den jungen Toma eine Vorliebe hatte; er war gut gebaut und hübsch und jung, und so wollte sie der Sache auch einiges Vergnügen abgewinnen.
Sie schlich in das Haus, und suchte sich den Weg in den Schlafraum. Dort war es dunkel, und die Luft war abgestanden. Sie nahm ein Tuch, das sie mit Pflanzenextrakten getränkt hatte, und hielt dieses Tomas Frau ins Gesicht, die daraufhin in eine zuverlässige Ohnmacht fiel. So konnte sich Tirata sich daran machen, Toma in seinem Rausch und seiner Unzurechnungsfähigkeit zu erregen, um ein Kind von ihm zu empfangen. Sie tat dies rasch und genau, ohne große Euphorie, aber mit ein wenig Genuss. Als es vorbei war, schlich sie sich wieder in ihr Haus zurück und hoffte, dass es ein Mädchen werden würde. Wenn nicht, so würde Erde den Zwischenfall bedecken und aus der Chronik des Dorfs für alle Zeiten streichen und so weiter den Mythos nähren, dass Wahrsagerinnen nur Mädchen gebaren.
Wirre Träume begleiteten Marks Schlaf. Träume von intensiver Schönheit, aber auch von ebensolcher Merkwürdigkeit. Mark sah Vieles und zugleich nichts, und er wachte bereits nach zwei Stunden unvermittelt aus dem Schlaf auf.
Sarah ging ihm nicht aus dem Kopf. Das, was er am Abend mit ihr erlebt hatte, war einmalig gewesen. Wie warm sie war, wie weich, wie rundherum wunderbar. Er hatte ihr Haar zwischen seinen Fingern entlanggleiten lassen, er hatte ihre Lippen gespürt, hatte das Geräusch mit Entzücken vernommen, wenn sie sich schmatzend von seinen lösten. War dies immer so herrlich?
Er verglich seine Erlebnisse und fühlte sich verwirrt.
Mit Tsam hatte er derlei noch nicht erlebt, zumindest nicht ganz so. Es war wunderbar gewesen, ihn zu spüren, zu fühlen und zu riechen, aber sie hatten sich nie auf den Mund geküsst. Und das, was sie getan hatten, dieses staunende, zittrige Berühren und Spüren: war es nun ungewöhnlich und verboten, weil er herausgefunden hatte, dass es mit einem Mädchen auch schön war?
Pepe hatte ihm einmal gesagt: »Die Zeit wird kommen, da wirst du sehen, was du willst.«
Darauf hatte er gefragt: »Dann muss man beides probieren?«
»Du musst gar nichts. Aber in einem gewissen Alter kannst du oft nicht anders, als an beides zu denken.«
Und so hatte er sich nicht davor gefürchtet, wenn er mit Tsam irgendwo in den Feldern oder auf dem Boden einer Scheune gelegen hatte, um den anderen anzusehen oder hin und wieder auch zu berühren, um festzustellen, wie schön dies war.
Aber nun war alles ganz anders. Nun kannte er Sarah. Nun kannte er die Gegenseite intensiver als die bisher bekannte. Nun wusste er wohl, was er wollte. Oder doch nicht? Und wenn er wusste, dann war ihm klar, dass Sarah ihn weitaus mehr reizte als Tsam. Und was war es dann mit Tsam gewesen?
Er schämte sich dafür. Man kann nicht anders in einem gewissen Alter. Woher wollte Pepe das wissen? Und wie konnte er nur so leicht Reden haben? Auch hatte er ein schlechtes Gewissen, wenn Tsam sich irgendwann noch einmal ihm annähern sollte – dann müsste er ihm erklären, dass er es nicht mehr duldete, und würde seinen Freund wohlmöglich verletzen.
Es war alles so seltsam.
Er hoffte, dass Tsam genau das widerfuhr, was ihm selbst war im Schutz der Dunkelheit widerfahren war, umgeben von fernem Geflacker der Feuer und etwas anderem.
So wälzte er sich im Bett herum und verfing sich in seinen Gedanken.
Neben ihm lag Jessica, und sie war noch weit entfernt von dieser Art von Sorgen und Gedanken. Für sie waren alle Menschen nett oder nicht nett, hübsch oder hässlich; alles andere galt nicht, existierte nicht.
Dennoch hatte sie mit anderen Gedanken zu tun. Für sie hatte sich eine neue Welt aufgetan, sie hatte Neues entdeckt, das sie weiter ergründen wollte.
Die Wahrsagerin hatte ungeahnten Eindruck auf sie gemacht, und sie wurde sich dessen in ihrer kindlichen Art und Weise dessen bewusst. Für die war es einfach nur Gefallen und Neugierde.
So angsteinflößend war Tirata gar nicht – zumindest nicht für sie. Was für ein herrliches Gefühl es sein musste, Tirata als Freundin zu haben, mit ihr zu sprechen, zu ihr herüberzulaufen in ihr altes, seltsames Haus, nur um sie zu besuchen. Wie verängstigt würde man ihr hinterhersehen, wenn sie dorthin aufbrechen würde, und ihre Eltern würden sich Sorgen um ihre Tochter machen, aber niemand würde sie daran hindern können, dass sie ging. Jeder hätte Angst vor Jessicas großer, mächtiger Freundin. Und man würde so auch Respekt vor ihr selbst haben. Was für eine Sache! Jessica, die Freundin von Tirata!
Aber Jessica empfand mehr als nur dies banale Gefühl des Stolzes und der simplen Freude an den Vorteilen, die dies mit sich bringen würde.
Sie sah auch Geheimnisse, große Geheimnisse. Solche von einer Tragweite, dass es den Menschen beim bloßen Gedanken daran die Sprache verschlug. Das war reizvoll für Jessica. Mehr darüber zu erfahren. Überhaut Dinge zu erfahren. Vielleicht würde Tirata sie irgendwann einmal in die Corrin-Höhle mitnehmen, tief in diesen fernen, grausigen Schlund, den man meistens nur aus sicherer Entfernung ausmachte, als kleinen dunklen Fleck unbekannten Stück Erde, das sich aus der Ferne nur bei klarer Sicht zeigen wollte, und selbst nur dann nur unter der Voraussetzung, wenn man sehr genau hinsah. Selbst dazu fehlte den Leuten der Mut. Ihre Äcker und Koppeln waren zumeist in die anderen Richtungen angelegt, und nur ein wenig in Richtung Berge.
Die Corrin-Höhle war die Hölle für alle. Sie war das Zentrum alles Unbekanntem, alles Gefährlichem. Dort, und nur dort sollte und konnte das wohnen, was das Dorf mit allen Einwohnern auf irgendeine mysteriöse Art bedrohte. Tief in ihrem Schlund lauerte das Monster, lauerte die Angst.
Wenn ein Mann oder eine Frau während der täglichen Arbeit zufällig auf die Corrin-Höhle blickte und aus Ehrfurcht und blanker Angst mit den Augen dort verharrte, wurde dies abends am Feuer als böses Omen gewertet und Tirata zu Hilfe gerufen, die mit ihren seltsamen Worten beruhigte, aber auch warnte. Die Leute waren anschließend zwar beruhigt genug, um schlafen zu können, doch die Angst vor dem, das sie nicht kannten, blieb,
Tirata wusste über all dies Bescheid. Sie war schon oftmals in der Höhle verschwunden, und jedes Mal war sie wiedergekommen. Mit noch mehr Wissen, mit noch mehr Macht und noch mehr Respekt.
Und wenn die Möglichkeit bestand, sich ein wenig davon anzueignen und selbst zu einer derart respektablen Person zu werden, dann wollte Jessica die Möglichkeiten ausschöpfen.
Ob ihre Eltern nun wollten oder nicht – sie fühlte sich plötzlich zu etwas Größerem berufen.
Der Tag wollte nicht zu Ende gehen. Draußen herrschten Windstille und Ruhe. Es war, als wäre kein Leben auf der Welt. Die Vögel schwiegen in die Hitze hinein, und nur Insekten flogen durch die heiße, flirrende und stehende Luft, die alles wie Bernstein einschloss.
Die Sonne stand hoch und neigte sich wieder ihrem Untergang, und noch immer hatte sich kein Mensch vor die Haustür gewagt. Manche schliefen noch, manche dösten vor sich hin, und nur einige wenige taten die nötigste Arbeit, indem sie die Tiere versorgten, die auf den Weiden standen.
In dieser Ruhe langweilte sich Jessica und schlich durch die Stille des Hauses, dass sie sich manchmal erschrak, wenn die Holzbohlen knarrten. Sie schlich in die Wohnküche, in der es nach Holz und abgestandener Luft roch. Die Sonnenstrahlen fielen in Fäden hinein und beleuchteten Dinge oder kleine Punkte wahllos.
Sie öffnete leise die Tür. Heiße Luft stieg ihr entgegen. Der dunstige Innenraum des Hauses war im Gegensatz zur flirrenden, betäubenden Hitze draußen wahrlich angenehm. Insekten schwirrten um sie herum, und sie vergewisserte sich, dass sie von niemandem beobachtet wurde, und niemand war zu sehen.
So brach sie auf, und ihr Ziel war klar: Bald schon sah sie das Haus mit dem brüchigen Dachholz in einiger Entfernung vor sich, um das die Bäume standen. Tiratas Haus war der Kehlkopf von einem gewaltigen, fremdartigen Etwas, und die Bäume darum herum waren die Stimmbänder. Aber zur Zeit schwieg das etwas, es schien zu schlafen.
Was, wenn auch Tirata noch schlief? Schließlich war sie nicht lange beim Fest geblieben wie jedes Jahr. Sie kam, sprach und ging, und Jessica kam der Gedanke, dass Tirata sich langweilen musste, wenn sie immer so allein war. Tirata bekam nie Besuch, sie besuchte das Dorf selbst höchst selten, und wenn, dann atmete jeder erleichtert auf, wenn sie wieder ging. Waren all die Geheimnisse, mit denen sie sich immerfort zu beschäftigen schien, tatsächlich so ausfüllend und so spannend? Wenn ja, dann wurde es Zeit, dass Jessica den Mut zusammennahm.
Der Boden schluckte die Geräusche ihrer Schritte, und die stehende Luft trug diese nicht weiter. Das Haus kam näher. Warum sich alle nur so fürchteten! Es lag doch ganz still da und tat nichts weiter! Und diese alte Frau! Wenn alle nur ein wenig neugieriger wären, dann würde nicht Furcht, sondern Wissensdurst deren Leben bestimmen. Aber nein – sie wollten es nicht so. Sie wollten sich nur fürchten.
Was Tirata jetzt wohl darin tat. Vielleicht kochte sie etwas Geheimnisvolles? Für was? Oder sprach sie gerade mit ihren Geistern?
Jessica hatte so wenig Ahnung.
Vögel jagten tonlos über sie hinweg.
Entschiedenen Herzens kam Jessica näher, und der ruhige Felsblock, als der das Haus von Weitem aus erschien, strahlte Ruhe aus. Nein, darin konnte es nichts geben, vor dem man sich fürchtete, über das man sich Sorgen zu machen brauchte. Jessica bewegte sich beim Näherkommen zwar entschlossen, aber immer andächtiger.
Das Dorf lag hinter ihr, als hätte sich eine Tür hinter ihr geschlossen. Kühle überkam sie trotz der Hitze. Sie durchschritt die Gras- und Baumreihen auf dem Weg plattgetretenen Grases, und wilde Ähren links und rechts neben ihr schienen Gebete abhalten zu wollen, ruhig und andächtig zu Tiratas Haus hin geneigt. Über all dem war das hohe Dach des Himmels; Bäume streckten sich wie ihn stützende Säulen nach oben und Tiratas Haus lag als Mittelpunkt dem allem voraus, so dass es schien, als wollte dahinter ein Bauwerk enden, durch das Jessica nun hindurchging, um sich zu bekennen.
Kaum war sie nahe genug an das Haus herangetreten, das wie von den umherstehenden Bäumen wie von einer Apsis umrahmt vor ihr stand, wurde ihr die Kehle trocken und sie spürte ihren hämmernden Herzschlags und das Rumoren im Bauch. Es juckte und kniff darin, und sie fühlte sich eigenartig nervös. Sie stand nur noch wenige Meter von dem Haus entfernt, das wie ein schlafendes Etwas vor ihr stand, und das sie atmen zu hören meinte.
Sie klopfte leise und fragte sich still, ob sie gut genug war, darauf zu hoffen, in Tiratas Geheimnisse eingeweiht zu werden. Was würde die Wahrsagerin zu ihr sagen? Würde sie böse werden, da sie Jessicas Begehren als anmaßend erachtete? Würde sie sie auslachen oder ihr letztlich doch böse Träume bescheren?
Sie bekam keine Antwort, und während es um sie still war, als spräche alles um sie herum ein stilles Gebet, klopfte sie vorsichtig noch einmal, ohne eine Reaktion zu bekommen.
Das Haus war und blieb still. So stand sie da, allein und ungehört in der Dumpfigkeit. Sie blickte sich um, richtete ihren Blick auf die Bergkette, wo sie Tirata vermutete, und suchte mit scharfem Blick die Corrin-Höhle; jenes dunkle, schwarze und abgrundtiefe Loch in den Bergen. Und als sie es fand, meinte sie ein Flüstern in sich zu vernehmen, und es war ihr, als sprachen all die ungelösten Geheimnisse zu ihr. Sie fühlte sich auserwählt. Aber niemand war da, und obwohl sich der rege Wunsch in ihr ausbreitete, Tirata hinterherzugehen in die Höhle, dort nach ihr zu rufen und sie zu finden, erschauerte sie bei dem bloßen Gedanken daran und machte sich alsbald auf den Heimweg, um wieder in die Außenwelt zu treten, in die Romantik und Verschlafenheit des Dorfs, der sie bald zu entkommen wünschte.
Ende des 5. Kapitels – Der Wind von Irgendwo geht weiter mit Kapitel 6: Der Himmel weint
Da liegt es vor ihnen und man weiß nicht weiter. Die Schneise in der Gartenerde, die es geschlagen hat, die ist offensichtlich: Erst hat es sich beim Eintritt schräg vom Himmel in die Gemüseparzellen gebohrt und ab dort eine Furche geschlagen, zu deren Rändern sich die Erde auftürmt. Je weiter es sich in Richtung Rasenfläche vorgearbeitet hat, hat es sich weiter in die Tiefe gebohrt, sodass die Furche tiefer und die Ränder höher werden. Erdklumpen rieseln herab, überall liegen Pflanzenreste, es sieht aus, als wolle jemand ein Rohr verlegen. Die drapierte Buschgruppe hat es zerlegt, es ist fraglich, ob das einst so hübsche Arrangement, das sorgsam ausgesucht das ganze Jahr über blüht und im Winter mit Immergrün erfreut, den wüsten Schneisenschlag überleben wird. Derzeit sieht es nicht danach aus. Möglich, dass die äußersten Triebe sich noch retten lassen, sorgsam getrennt, liebevoll in Erholung gepflegt – wer weiß.
Ja, all das, was sie hier sehen, ist irgendwie klar, auch wenn es an sich unfassbar ist, wie etwas aus heiterem Himmel – im wahrsten Wortsinn – kometenhaft in spitzem Winkel in den Garten eintreten konnte. Überdies hat es beim Sturz den Zaun ruiniert. Wie den eine Versicherung ersetzen soll, ist fraglich, denn da stehen sie, alle anwesenden Parteien des Hauses, in dessen Garten nun die Schneise schneist, und sie starren auf das, was bis zur Terrasse durchgedrungen ist, dass es die ersten Bodenplatten anhebt.
„Ähm“, sagt M. Er sagt es nun zum dritten oder vierten Mal. Aber mehr fällt ihm nicht ein.
„Ja“, pflichtet S. von der Etage drunter bei. „Das ist wirklich … ähm.“
„Sauerei“, zischt R., der im Parterre wohnt und das Haus so lange kennt wie niemand sonst. R. begrüßte alle bei ihren Einzügen und hat schon manchen beim Auszug verabschiedet. R. ist es auch, der gerade im Frühjahr für neue Bodenplatten auf seiner Terrasse gesorgt hat, die neben der Terrasse für die Allgemeinheit von einer stirnhohen Hecke umgeben ist, damit er blickdicht seine Ruhe hat. „Das ist eine Sauerei. Für so was haben die Geld. Und dann fällt es ihnen auch noch runter in unsere Gärten. Sauerei.“
Im Gegensatz zu L. und T. hat Frau W. noch kein Wort gesagt. Ihr ist das alles einfach zu viel, und so sagt sie nichts. Denken übrigens auch nichts. Sie steht einfach da, reines Betrachten – oder möchte man Gaffen sagen – völlig ohne Staunen und Wundern, sondern einfach nur bloßer Blick, der die Schneise bis zum Endpunkt verfolgt, immer und immer wieder.
„Ähm“, sagt M. schon wieder. „Was soll denn das sein?“
Es ist nicht das erste Mal, dass diese Frage gestellt wird. Vielmehr wird sie weiter gereicht oder reicht sich selbst weiter von Mund zu Mund, und wen soll es wundern, denn schließlich ist dies das einzig Logische, das dazu gesagt werden kann.
Da liegt es vor ihnen und man weiß nicht weiter. Wenigstens um die Ausmaße gibt es keine Unklarheit. Größer als einen Meter ist es keinesfalls. M. schätzt es eher kleiner. 80 Zentimeter vielleicht.
Doch ob es rund ist oder eckig, da hört es dann schon auf. Ob das ovale Teil, das sich in den Boden gebohrt hat, nun die Spitze oder das Ende, eine Seite oder das Oben oder Unten sein mag, weiß schon wieder niemand. Überhaupt, diese Form.
„Keine Ahnung“, erwidert L., ebenfalls nicht zum ersten Mal. „Echt. Echt keine Ahnung.“
„Tja.“
L. geht in die Hocke, so weit, dass seine Knie die Erde berühren, die sich am Rand der Schneise aufgetürmt hat, und seine Frau holt zischend Luft und fährt ihren rechten Arm zu seiner Schulter aus, doch es ist zu spät, da hockt er schon und reckt den Kopf. „Tja. Ein Satellit vielleicht?“
„Glaub ich nicht. Wo soll denn ein Satellit herkommen?“
„Von oben. Von wo denn sonst?“
Dass ausgerechnet jetzt Max heimkommt, ist eher unpassend. Er war mit Freunden Gott weiß wo und ist normalerweise den Tag über nicht da, aber ausgerechnet jetzt kommt er doch heim und ist allein. „Was machst du denn hier?“ fragt seine Mutter verstört, und er schaut sie an und gibt zurück „Sorry, ich wohne hier?“ Dann blickt er auf das, worauf alle starren. „Was ist das denn?“
„Ähm“ sagt M.
Und ja: Was ist es nur?
Das beginnt nicht nur mit der Form und Größe, sondern auch mit der Farbe. „Irgendwie grau?“ hat L. eben gefragt, und obwohl jeder aus der Hausgemeinschaft „irgendwie schon“ formuliert hat, sträubt sich dagegen die Erkenntnis, denn es ist gleichzeitig ein „irgendwie nein“. Grau: Was heißt das schon? Ein wie auch immer geartetes Dazwischen von Weiß und Schwarz, eine Schattierung dieser Mischung beider Töne ist nicht erkennbar. Denn da ist keine Schattierung zu erkennen, keine Ahnung von Schwarz, keine Andeutung von Weiß. Überhaupt ein Farbton – ist da einer? Niemand weiß es, L. nicht, wie auch die anderen nicht. Im Gegenlicht, je nach Blickwinkel macht es den Anschein, als reflektiere es die Sonne, andererseits auch wieder nicht. Nein, es glänzt nicht. Und weil es nicht glänzt, reflektiert es auch das Sonnenlicht nicht. Andererseits hat es je nach Sonneneinfall und Blickwinkel hellere und dunklere Partien.
M. hat weder Begriff noch Vorstellung dafür außer einer Sache: Er hat dergleichen noch nie gesehen und sich nie vorgestellt. Was er sicher weiß ist, dass es seinen Garten ruiniert hat, und so bricht sein Blick immer von der Unbekanntheit vor ihm ab in den Garten, den er pflegt, den er plant, den er umsorgt. Er zahlt mehr Geld als alle für die Nutzung dieses Raums, den Rasen, die Beete, und die Tomaten, die dort wachsen und die noch neben der Schneise im Sonnenlicht leuchten, erst gestern hat er einige von ihnen im selbst gemachten Salat verputzt. Dieses Ding, was immer es sein mag und wo immer es auch herkommen mag, hat seinen Garten ruiniert, so viel steht fest. Fest steht auch, dass es nicht damit getan ist, die Zerstörung zu fotografieren – er wird das Chaos so lange bestehen lassen müssen, bis Sachverständige da gewesen sind, Polizei ganz sicher, aber auch Versicherungsmenschen, die prüfen müssen, ob und in wie weit sie für den entstandenen Schaden geradestehen werden. Ärgerlich.
Niemand hat mitbekommen, dass sich Max auf den Boden gelegt hat und mit dem Oberkörper nah über dem Ding schwebt. Seine Mutter ruft „Max“, doch es ist zu spät. Er reckt seine Hand danach aus. „Mach dir nicht ins Hemd“, sagt er, ohne den Blick von dem Ding zu nehmen, „ich fass es nicht sofort an, ich bin doch nicht bescheuert.“
M. mag Max. Ihm gefällt diese Rotzigkeit, mit der der Junge mit seinen 16 Jahren auftritt.
Jeder hält den Atem an, während Max Hand kurz über dem Ding schwebt. „Also heiß scheint es nicht zu sein“, meint der Junge. Er streckt den Zeigefinger aus, und jeder spürt, dass Max fast das Herz stehen bleibt, doch er kann nicht anders: Trotz aller eigener Bedenken tippt er daran, nur für den Bruchteil einer Sekunde. „Ne. Ist nicht warm.“
„Pass wegen der Radioaktivität auf“, stöhnt seine Mutter durch die Hände, die sie vor ihren Mund geschlagen hat.
M. schaut sie verstört an. „Wieso Radioaktivität?“
„Naja“, beginnt sie, ihre Hände noch immer vor den Mund gepresst, die Augen tellergroß, „sind diese Dinger nicht immer radioaktiv?“
„Wieso sollten sie das sein?“
„Naja. Es kommt ja von …“
Der Rest ist Schweigen.
Frau W. schreitet die Schneise ab und ist inzwischen an den Gemüsebeeten angelangt. Sie sucht zwar nichts, aber sie schaut trotzdem über das, was ihr Nachbar M. so züchtet und sich regelmäßig in die Töpfe und Salatschüsseln schnippelt.
Max pult in der Erde, die auf das Ding rieselt ohne Geräusch. Nichts deutet darauf hin, dass das Ding sich tiefer in die Erde gebohrt hat und damit einen Teil von sich verbirgt. „Komisch, hat keine Delle oder so.“
„Ja, es sieht unbeschädigt aus“, meint M.
„Aber aus was ist es dann gemacht?“
Metall ist es nicht, und wenn, dann eines, das noch niemand gesehen hat. Und überhaupt: Das Material ist jedem fremd.
„Ähm“, sagt diesmal L., der noch immer kniet und sich der Hand seiner Frau auf seiner linken Schulter sicher weiß.
„Was ist denn da bei Ihnen passiert?“ ruft es da von jenseits des Zauns, und als sie sich alle umdrehen, bemerken sie die zahllosen Gesichter, die über Zäune und aus Fenstern und von Balkonen rund um das Grundstück zu ihnen und ihrer Misere herüberschauen.
„Etwas ist abgestürzt“, ruft L. pflichtschuldig, so laut es geht, „wir wissen auch nicht, was es ist!“
„Um Gottes Willen, jemand muss die Polizei rufen!“
„Eine Bombe! Eine Bombe! Passen Sie bloß auf!“
Sie wenden sich wieder dem Ding in der Erde zu, das Max, der noch immer auf dem Boden liegt, inzwischen mit beiden Händen berührt. Fasziniert streicht er darüber, betrachtet es, und es scheint, als habe es ihn ganz in den Bann geschlagen. „Max, nicht!“ ruft seine Mutter ungehört, und Max stellt fest, dass er keine Ahnung hat, wie es sich anfühlt, was da vor ihm liegt. „Nicht warm, nicht kalt. Nix.“
„Wie, nix?“, will M. wissen und bückt sich seinerseits, um es zu berühren. Die anderen Gesichter recken sich synchron herab und sehen M.’s Händen bei der Berührung zu.
„Er hat recht“, meint M. „Nix.“
„Was soll das heißen? Wie fühlt es sich an?“
„Das ist es ja: Es fühlt sich gar nicht an.“
Jedes Material bietet ein Gefühl, doch dieses hier sendet Signale ins Leere. M. weiß nur, Derartiges nie gefühlt zu haben.
Ungläubig streicht er über die Fläche, und es gibt keinen Ton der Reibung. Er spürt keine Kante, keine Unebenheit, aber auch nichts, was auf eine gänzlich glatte Oberfläche hindeutet. Er spürt nur Fremdheit.
„Hm.“
„Ja hallo, ich möchte den Absturz eines Dings melden.“
Alles dreht sich um, denn die Stimme gehört zu Frau W., die mit der Polizei telefoniert. Sie steht ein wenig abseits, ihr linker Arm um den Oberkörper geschlungen, ihr Telefon am rechten Ohr, und ohne jede Regung schaut sie in Richtung Ding, ohne es anzusehen. „Wir wissen es nicht. Es ist vom Himmel gefallen. Ja, runter. Natürlich runter, es kam ja vom Himmel. Es hat den Garten verwüstet. Nein, ich kann Ihnen nicht sagen … – kommen Sie doch her und sehen es sich selbst an. Nein, ich kann es nicht beschreiben, nein. … – warten Sie.“ Sie schaut in die Runde. „Die wollen wissen, was es ist.“
„Sollen sie es sich doch selbst ansehen“, grollt M. „Woher sollen wir das denn wissen?“
Frau W. spricht weiter: „Maschine? Keine Ahnung. Nein, ich kann nicht beschreiben, wie es aussieht. Bombe? Moment.“ Sie sieht sie an: „Kann es eine Bombe sein?“
Niemand hat bislang von ihnen eine Bombe leibhaftig gesehen. Aber niemand kann sich eine Bombe wie diese vorstellen.
Frau W. schürzt die Lippen. „Eher nicht. Warum kommen Sie nicht selbst, dann sehen Sie es doch? Warten Sie.“ Sie fragt wieder in die Runde: „Er will das Material wissen. Ob es ein Meteorit oder ein Ding ist.“
„Was unterscheidet denn einen Meteoriten von einem Ding?“, kläfft L. „Keine Ahnung. Sieht nicht nach einem Stein aus. Oder?“
Max und M. befühlen das Fremde weiter und finden nicht, dass es aus Stein ist. Oder Holz. Aus Plastik aber auch nicht.
„Sie kommen nicht“, sagt Frau W. „Sie halten es für einen Scherz. Sie meinen, sie können nicht kommen, wenn nichts passiert ist.“
L.’s Frau wedelt mit beiden Händen in Richtung Ding. „Ist da etwa nichts passiert?“ Sie weist weit ausholend auf die Schneise im Garten. „Ist DAS etwa nicht passiert? Was wollen die denn noch?“
„Er meinte, verarschen kann er sich selber.“
„Ich glaub’s nicht! Muss die Polizei nicht kommen, wenn man sie ruft?“
„Er meint, wir müssten angeben können, was passiert ist.“
„Ich fass es nicht.“
„Ja aber …“ M. richtet sich wieder auf. „Was ist denn passiert, frage ich Sie? Was können wir sagen, was passiert ist? Da ist dieses … – dieses … ähm …“
„Es ist vom Himmel in unseren Garten gekracht!“ empört sich L.
„In meinen Garten“, sagt M. „Es ist mein Garten.“
„Oh, ich bitte um Verzeihung, dürfen wir weiter in Ihrem Garten stehen und Anteil nehmen? Also wirklich! Immerhin liegt es direkt an UNSEREM Haus und UNSEREN Wohnungen!“
„Ja aber er hat recht“, sagt L.’s Frau. „Was ist passiert? Was ist das da?“
Alle Blicke wandern wieder auf das fremde Ding ohne Nähte, ohne Ösen und Schrauben, ohne jeden erkennbaren Hinweis darauf, gemacht zu sein.
Da reißt Frau W. ihre Augen auf, lässt das Telefon in den Rasen fallen und springt mit vor dem Mund zusammengeschlagenen Händen entsetzt zurück. „Oh Gott!“
Kaum liegen die Worte in der Luft, ergreift jeden die Panik, denn jedem ist nun klar, auf was Frau W. zu sprechen kommen will. Auch wenn niemand recht daran selbst gedacht hat, steht nun eine Möglichkeit im Raum, die der Instinkt jedem von ihnen in den Geist gelegt hat.
„Es LEBT!“ ruft sie aus, und jeder weicht zurück. Max ist schneller auf den Beinen, als irgend jemand sehen kann, und M. wird schlagartig heiß. Da krabbelt etwas seine Hände hinauf, mit denen er eben noch das Ding berührt hat, ein scheußliches Kribbeln, als werde sein Körper geentert.
Es ist, als habe jemand alle Atemluft aus der Welt gesogen, und voller Grauen starren sie alle auf das Ding da, das … – vielleicht LEBT?
Wie lange sie starren und schweigen, wissen sie nicht, als Max die Stille durchbricht: „Also wenn das so ist, dann ist es jetzt sicher tot.“
M. kann wieder Sauerstoff in seine Lunge ziehen.
„Naja, das überlebt doch keiner“, schließt Max. „Fallt ihr mal vom Himmel und kracht in den Garten. Das will ich sehen, was das überlebt.“
„Und wenn es ein Panzer ist wie bei einer Schildkröte?“
Sie nähern sich schrittweise und beugen sich zaghaft herab.
„Ne, glaub ich nicht“, meint L. „Kann aber sein. Ach, was weiß denn ich.“
„Okay“, sagt M. da. „Das wird mir jetzt zu blöd. Lassen wir es einfach liegen.“
Alle Augen richten sich auf ihn, und er blickt in die Runde. „Ja, ich meine es ernst. Was sollen wir denn den Leuten erzählen? Ich hab keine Ahnung, was das ist, oder geht es einem etwa anders?“
Verstohlene Blicke sind die Antwort. „Na also. Wir wissen alle nicht, was das da ist, was das da soll und woher es kommt. Also ich hab echt keine Idee.“
„Wir sollen also einfach so tun, als wäre es nicht da?“
„Was heißt, so tun? Da ist nichts! Nichts, was wir benennen können. Nichts, wovon wir eine Vorstellung haben. Für mich ist das quasi gar nichts.“
L. schürzt die Lippen. „Da hat er recht.“
„Stimmt“, pflichtet seine Frau ihm bei.
Max, der wieder auf dem Boden liegt und seine Hände mit größerer Vorsicht als zuvor über die Oberfläche gleiten lässt, gibt ein kurzes „Hm“ von sich. Während er das Ding so untersucht, wird ihm klar: „Die Leute würden das auch für einen Fake halten.“
„Einen was?“ Frau W. ist irritiert.
„Eine Fälschung. Wenn ich das fotografiere und teile, denkt jeder, ich mach nen Witz. Das glaubt einfach keiner.“
„Und wer soll so eine Schneise aus Jux in einen Garten buddeln?“
„Geht auch als Fake durch. Und es gibt echt viele, die notfalls buddeln, um was zum Erzählen zu haben.“
Sie schauen herab, hinter ihnen verschwinden die ersten Zuschauer und wenden sich ab. Grillgeruch weht herüber, die Stille der Umgebung weicht.
„Deshalb sag ich ja“, meint M. „lasst es uns einfach zuschütten. In ein paar Wochen ist wieder Gras über die Sache gewachsen und kein Hahn kräht mehr danach.“
„Und wenn es doch lebt?“, fragt S. besorgt. „Unsere Terrasse ist doch direkt daneben …“ Der Gedanke, dass dort jemand oder etwas nächtens plötzlich vor seiner Terrassentür stehen mag, behagt ihm gar nicht. „Nachher wächst das noch zu einer echten Krise aus!“
Max zuckt die Achseln. „Also wie gesagt: Nix überlebt das.“
M.’s Blick wandert zu seinen Gemüsebeeten. Das Chaos, die abgeknickten Äste, die halb herausgerissenen Pflanzen tun ihm fast körperlich weh, und die Sehnsucht überfällt ihn, sie zu richten. Dass da Tomaten und Gurken auf der Erde liegen, stört ihn, er möchte nicht, dass sie faulen. „Also. Es ist meiner Meinung nach nichts passiert. Sieht es jemand anders?“
Niemand sagt etwas. Mit jedem Schwung Erde, der das Ding im Boden kurze Zeit später verdeckt, kehrt Frieden ein. S. verbuddelt es nahezu im Alleingang, Max kommt mit seiner Schaufel kaum hinterher. M. sortiert seinen Gemüsegarten, und von jenseits des Zauns nimmt man nur wahr, dass dort Ordnung einkehrt. Sicher, die Büsche sind größtenteils hin, und bis diese Bresche vollends zugeschüttet ist, werden Tage vergehen. Ganz zu schweigen von der Zeit, die es braucht, bis das neue Gras gewachsen ist.
Aber ihm dabei zuzusehen, wie es täglich mehr wird, ist doch ein schönes Gefühl.
Ja, 1985 ist lange her, aber genau hier muss mein Making-of Der Wind von Irgendwo starten. Denn in diesem Jahr beginnt die lange Entstehungsgeschichte meines Romans »Der Wind von Irgendwo« – auch wenn es damals weder die Idee zu einem Roman, noch zu dem heutigen Titel gab.
1985 hörte ich als damals 14-Jähriger erstmals alle Schallplatten von Chris de Burgh durch, den ich schon seit seinem Album »The Getaway« von 1982 sehr liebte. De Burghs Lieder haben mich damals häufig inspiriert, so zu ganzen Passagen eines SF-Romans, den ich seit 1984 per Hand schrieb (übrigens nie zu Ende, allerdings habe ich noch sämtliche Originalseiten).
Im Sommer 1985 waren wir gerade aus meinem heiß geliebten Osnabrück, in dem ich 10 Jahre lang aufgewachsen war, zurück nach Hamm gezogen, aus dem meine Familie stammt. Der Schock saß damals tief. In Osnabrück hatte ich meine Clique zurücklassen müssen wie auch sonst alles, was mir lieb und teuer war. Ich hatte Hamm nie gemocht, und frustriert zog ich mich in mich selbst zurück. Geschrieben hatte ich schon zu dieser Zeit auch in Osnabrück viel, aber erst in Hamm begann ich, der Realität entfliehen zu wollen. Und so stellte ich mir verstärkt Geschichten oder Szenen für Geschichten zu Musik vor, die ich damals exzessiv hörte.
Schließlich kam de Burghs Album »Eastern Wind« von 1980 an die Reihe – und beim Titelsong »Eastern Wind« machte es Klick.
Ich war fasziniert von den Textzeilen:
Well my furrows are filled with corn
I have my woman to keep me warm
But there’s one thing that I do fear
That Eastern wind is getting near
(…)
But I am sure, as the willow will grow
That Eastern wind is going to blow
Blowing a hole in my life, Eastern wind
Running away with my life, Eastern wind;
(…)
I saw a mad old man, and I ran to the door
And then that wind began to roar
Basierend auf diesem Lied schrieb ich auf einer grünen, mechanischen Erika-Schreibmaschine eine Kurzgeschichte: »Der Wind von Osten«. Nur 1,5 Seiten war sie lang. Aber für mich war sie ein großer Wurf.
Natürlich ist de Burghs Lied politisch, was »Der Wind von Osten« ebensowenig war wie letztlich, Jahrzehnte später, die Romanversion »Der Wind von Irgendwo« heute ist.
Aber meine Kurzgeschichte legte, basierend auf Chris de Burghs Lied, das Setting meines Romans »Der Wind von Irgendwo:« Sie spielte in einem Dorf, und abends saßen die Bewohner am Feuer, um sich gegenseitig von dem drohenden Wind von Osten zu erzählen. Sie warnten, dass er ein Loch in ihr Leben blasen würde. Am Ende kamen die Flugzeuge und zerstörten das Dorf.
Ich kann dieses Ende hier getrost verraten, weil es nicht das Ende des Romans »Der Wind von Irgendwo« ist.
Auch war ich fasziniert von der bedrohlichen Atmosphäre des Liedes. De Burgh war früher ein begnadeter Geschichtenerzähler, der auch häufig den Widerstand seiner irischen Heimat gegen die Briten thematisierte, den Nordirland-Konflikt oder Krieg im Allgemeinen. Sein »Eastern Wind« war ging also um etwas ganz anderes: Er sang über Widerstand gegen Invasoren – und folglich hatte es auch meine Kurzgeschichte. Welche es waren, spielte für mich damals keine Rolle. Dass am Ende meiner Story feindliche Flugzeuge das Dorf zerstörten, war meine eigene Idee; davon findet sich nichts in De Burghs Lied.
Dann war da natürlich dieses Album-Cover! Ich setzte in meiner Story das Dorf genau in diese Landschaft – und in der ist es bis heute.
Aber das Cover war letztlich nicht der Auslöser, der mich Jahrzehnte später davon überzeugte, meinen Roman ebenso in dieser Landschaft spielen zu lassen: Ich hatte Jahre überhaupt nicht vor, »Der Wind von Osten« als lose Vorlage zu einem Roman zu verwenden. Dieser Auslöser war etwas ganz anderes – worüber ich später noch schreiben werde.
Der Wind von Irgendwo von Anfang an lesen
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Erst Kapitel 3 lesen
Mit der hereinbrechenden Dunkelheit wuchs die Begeisterung der Menschen. Das Fest war nahe, und in der Luft lag der unverkennbare Duft eines vergehenden Tages. Die Sonne stand noch immer heiß im unteren Viertel des Himmels, und man sichtete Lorn, Jessica und Tirata schon von Weitem. Sofort verbreitete sich die Nachricht im Dorf, und alle kamen zusammen, standen beieinander, um Tirata zu begrüßen, wie es sich geziemte. Man atmete die Luft, die mit ihr kam, und respekterfülltes Schweigen machte sich breit. Niemandem wäre aufgefallen, wenn irgendetwas oder irgendjemand in eines der leeren Häuser gegangen wäre.
Einige hundert Augen blickten auf Tirata, und nur auf sie; Lorn war nur Beiwerk, man würde ihn erst loben, wenn das Fest in vollem Gange war. Die Bäume an Tiratas Haus spieen ein sich weit verbreitendes Rauschen aus, das wie ein Flüstern über sie selbst zur wartenden Gemeinde rollte.
Lorns Mund war trocken und sein Herz schlug ihm bis zum Hals. Gleich würde er einen hochprozentigen Schnaps trinken, und vielleicht sofort noch einen hinterher. Er sah nach vorn und auf Jessica, die in der Mitte der beiden ging, und es behagte ihm nicht, dass seine Tochter allem Anschein nach Feuer gefangen hatte für diese Hexe mit ihrer Magie und ihren merkwürdigen Kräften. Doch allem Verdruss zum Trotz wagte er nicht, etwas dagegen zu unternehmen, denn wahrscheinlich hatte Tirata gerade Jessica verhext, und sein Herz krampfte sich bei dem Gedanken daran zusammen.
Sie kamen schweigend näher, und schweigend wurden sie empfangen. Tirata war es, die das Schweigen brach. »So ist es nun wieder so weit, dass man das Feldfrucht-Fest feiert, und ich soll ein paar Worte dazu sprechen.«
»Deshalb holte ich dich«, meinte Lorn, der sich daraufhin wie ein Held vorkam, zumal jeder mitbekommen hatte, dass er sie freimütig angesprochen hatte.
»Nun«, meinte sie, während Stille in der Luft hing, »das Leben ist hart, aber auch schön. Es ist gut, zu feiern, wenn man Grund dazu hat.«
Niemand wagte, etwas zu sagen, ja, niemand wagte es einmal, auch nur den Blick von ihr zu nehmen. Es war Heiliges, das da aus ihrem Mund kam.
»Ihr habt es euch verdient, und mögen die Augen des Himmels von eurem Fest etwas sehen, das ihr ihnen zu Ehren feiert. Ihr feiert schließlich nicht euch, ihr feiert das Allgegenwärtige, das uns mit dem gleißenden Auge der Sonne am Tag betrachtet und mit dem funkelnden Licht der Nachtaugen in der Dunkelheit. Es ist euer Verdienst, dass ihr so gut leben könnt, denn ihr tut Manches dafür. Aber ohne das Allgegenwärtige, das euch die Möglichkeit dazu gibt, wäret ihr zum Schaffen und zum Leben nicht in der Lage, vergesst das nicht. Vergesst nicht einen Augenblick lang euren Respekt dem Allgegenwärtigen gegenüber. Es ist gnädig und gütig, aber verstimmt es nicht allzu sehr. Dankt ihm. Feiert es. Genießt es. Freut euch.«
Und so konnte das Fest beginnen. Mit dem Schwinden des Tageslichtes begannen die Augen der Nacht über dem Dorf zu leuchten, und der Ozean um sie herum wurde grau und grauer, bis er eine unbestimmbare schwarze Masse war, deren Wellen man nur zu hören ahnte.
Man feierte das Fest, ein großes Feuer brannte in der Mitte des Dorfes und viele kleine darum herum, auf denen gebraten und gekocht wurde. Um sie herum saß und sprach man, trank, sang und spielte Musik, fiel in den Rausch des Alkohols und freute sich, das zu feiern, was man feierte.
Auch Mark und Tsam waren eifrig dabei. Sie aßen und tranken reichlich, wie es üblich war, und langsam wurden sie immer betrunkener. Es machte Spaß zu spüren, wie der Boden unter ihnen zu kreisen begann, wie nichts mehr festzustehen schien, wie sich alles in Gallerte auflöste, und wie man über noch so Verrücktes laut zu lachen begann. Es war ihr erster Rausch, und er kam schneller als erwartet, dafür genossen sie ihn umso mehr. Man ließ sie trinken, man ließ sie lachen.
Mark sah sich um, und alles um ihn herum flackerte in merkwürdigem Scheine der vielen Feuer. Andere hatten sich zu ihnen gesellt, auch Sarah, die ihn ansah und sich still verhielt.
Irgendwann sah er sie. Sie saß im Schneidersitz auf dem Boden, und ihre Haare trug sie offen. Sie war ein wahrhaft schönes Mädchen, das erkannte er nun. Und nicht nur das.
Wieder regte sich etwas in ihm, das er nicht zu deuten verstand, vor dem er sich gar fürchtete, aber gegen das er sich nie hatte wehren können – und nun schon gar nicht.
Er sah sie an, wie sie in einigen Metern Entfernung von ihm saß, umgeben vom flackernden, gelblichen Schein, und ihre Haut machte nie geahnten Eindruck auf ihn, und in ihren Augen lag etwas Merkwürdiges, das er nicht verstand. Aber so hatte sie ihn noch nie angesehen, und er spürte, wie eine Macht in ihm aufwallte und ihn ergriff.
Tsam stieß ihn an. »He, die Kinder wollen Maraim nun seine Abreibung geben. Komm mit.«
Teilnahmslos fragte er nur: »Was?«
»Hast du mir nicht zugehört?«
Wie es in ihm pumpte und schlug, und er begann zu begreifen, warum es stets hieß, dass Männer und Frauen zusammengehörten, auch wenn er nicht leugnete, mit Tsam genauso leben zu können.
Mark sah Sarah an, die ihn nicht losließ mit ihrem Blick, und er verspürte die Lust, zu ihr zu gehen, sich neben sie zu setzen, einen Arm um sie zu legen, sie zu küssen, sie … was eigentlich? Was sollte er mit ihr machen? Was wollte er von ihr? Er war nicht so dumm, dass er nicht wusste, was zu tun war, aber er konnte es sich einfach nicht vorstellen, es selbst zu tun, auch wenn sein Körper nun danach verlangte. Nur, wie sollte er es anstellen?
»Mark! Du hast es vorgeschlagen! Jetzt komm auch mit!«
Er sah zu Tsam auf, der ungeduldig neben ihm stand. »Ich weiß schon, was mit dir ist«, meinte dieser ziemlich vorwurfsvoll. »Ich kenne das. Aber Sarah?«
»Warum nicht?«
»Helena ist viel, nun …«
»Helena? Versuch doch, an sie heranzukommen.«
Tsam grinste. »Das war natürlich auch ein Grund, weswegen ich mich auf heute gefreut habe. Komm schon. Erst Maraim, dann das Andere.«
So gingen sie.
In der guten Stimmung, bei der Musik, die in der Luft hing, dem Lachen und den Gesprächen war es ein Leichtes, die Kinder des Dorfes zu sammeln. Mit andauerndem Kichern holte man Eimer und Schüsseln, in denen es glibberte.
Das Dorf war eine flackernde und sich bewegende Masse. Die Häuser schienen zu zucken und unregelmäßig zu tanzen, Feuergeruch und Hitze lagen in der Luft, und im Schutz der Schatten und der Dunkelheit bereitete man sich auf den größten Streich vor, den man jemals im Dorf gesehen hatte.
Maraim saß unbeachtet und gemieden an einem Feuer, um ihn herum tobte das Fest, ohne dass er es recht mitbekam.
Niemand sprach mit ihm, niemand war interessiert an ihm, jeder hatte irgendeine Abneigung gegen ihn. Wäre er nicht so abscheulich gewesen, hätte er das Fest wohl schöner verleben können. Da er aber jedem seiner Art und Weise wegen ein Gräuel war, war er der Pol des Schweigens in einem bunten, redenden, und johlenden Haufen, der sich im seltsamen Licht und Schatten der Feuer amüsierte und trank allein. Mittlerweile völlig im Rausch, nahm er das Meiste nicht mehr wahr, was um ihn herum geschah; und hätte sich jemand mit ihm unterhalten, wäre allen aufgefallen, wie verletzlich Maraim war, wenn er sich allein betrank. Zu einem Gespräch war es noch nie gekommen, meistens war er unverschämt und wies alle von sich, um etwas Dunkles in ihm zu verschleiern, das er mit niemandem teilen konnte und teilen wollte, auch, weil ihm die Begriffe fehlten für das, was in ihm vorging.
Ohne es zu wissen und ohne dass die Erwachsenen es wussten, war er bei den Kindern die Hauptperson des Abends – und wäre der Grund dazu nicht so ein finster gewesen, hätte sich Maraim das erste Mal rühmen können, bei einigen Personen im Mittelpunkt zu stehen.
Die Kinder, unter ihnen auch Mark und Tsam, waren im Licht zuckende Tentakel, die sich überallhin ausbreiteten, wohlkoordiniert und Maraim umschließend, um möglichst von allen Seiten an ihn heranzukommen. Niemandem fiel auf, dass die lachenden Kinder Eimer und Schüsseln trugen.
Nichtsahnend vergaß er alles um sich herum und war nicht einmal mehr dazu in der Lage, seine Nachbarn auszumachen, die einige Meter von ihm entfernt das Fest feierten.
Die Kinder schlichen kichernd auf ihn zu, von fast allen Seiten, und sie lachten teils laut, um kurz darauf einen erstickten Laut von sich zu geben, wenn sie sich das Lachen abzuschnüren versuchten. Sie sahen Maraim sitzen.
Sein massiger Oberkörper war zusammengesunken, seine Augen waren triefend, seine Haare fettig, seine Beine lagen wie nicht zu ihm gehörig leicht gegrätscht vor ihm, und alles in allem machte er den Eindruck einer dicken, tranigen Kröte.
Jessica juckte es im Magen, so nervös und belustigt war sie. Sie konnte es gar nicht abwarten, bis Maraim unter all dem Schlamm und Glibber sowie Froschlaich verschwand. Auch hatten sie Kuhmist gesammelt. Mark sah sich um und gab Handzeichen. Sie alle waren nur noch ein paar Meter von Maraim entfernt, und auf Marks Wink hin begannen sie zu laufen, kreisten ihn ein und entleerten mit Schwung ihre Eimer und Schüsseln. Schlamm, Laich und Kot trafen ihn ins Gesicht und auf die Brust, faserige, glitschige Pflanzen benetzten ihn, und die Kinder schrien laut vor Vergnügen.
»Hier hast du das, woraus du kommst, du Kröte!« schrie Tsam, dass sich seine Stimme überschlug, und Maraim, dem der Schlamm vom Gesicht troff, schrie aus Ekel und Schreck. Er war nass, kalt und glitschig, und einige gefangene Frösche sprangen und quakten um ihn herum. Er konnte nur dasitzen, von Ekel und Schrecken zusammengezogen und brüllen, und die Kinder liefen um ihn herum und riefen und sangen: »Maraim, die alte Kröte! Maraim, die alte Kröte!«
Die Umsitzenden und Umstehenden stimmten ein gemeinsames Lachen an, sie lachten und schrien vor Vergnügen, sie zeigten mit Fingern auf ihn und machten ihn zum Mittelpunkt des Hohns und der Schadenfreude. Sie kamen heran, um Maraim auszulachen, denn es gab niemanden im Dorf, der ihm diese Behandlung nicht von Herzen gönnte. Das hatte er nun von seiner an den Tag gelegten Abscheulichkeit, die er jeden Tag aufs Neue unter Beweis stellte. Im Dorf, in dem jeder am Leben arbeitete und jeder zugleich auch das Leben der anderen lebte, mithalf und unterstützte, war er das Geschwür, das sich diesen Streich wahrhaftig verdient hatte. Und nun lachte man über ihn und lobte die Kinder, die um ihn herumtanzten und noch immer sangen: »Maraim, die alte Kröte!«
Maraim selbst war außer sich. Er war erschrocken, angeekelt – und allein. Er schrie allen Zorn aus sich heraus, ohne mehr tun zu können, als nach einigen Sekunden damit zu beginnen, sich Schlamm, Kot und Laich aus seinem Gesicht zu wischen. Dabei konnte er bei der Menge nicht verhindern, dass ein wenig davon in seinen Mund kam. Schlamm rutschte in sein Hemd, in seine Hose, überallhin. Schließlich sprang er auf und weinte lauthals. Es hörte sich an wie der Schrei eines Bullen, der sich die Beine gebrochen hatte und nun auf der Weide lag. Es ging im Lachen der Leute und im Singen der Kinder unter. Er war die Hauptperson des Moments, ohne ihn zu fragen.
Er lief fort. Man sprach von ihm als rennende Schleimkröte. Die Feuer tätowierten den Lachenden und Vergnügten Masken der Schadenfreude und des Hohnes in die Gesichter, und sie ließen Maraim laufen, der panisch vor allem davonlief, hinein in die Dunkelheit, hinein in das, was von den Menschen des Dorfs um diese Zeit zumeist gemieden wurde: die Nacht.
Mark und Tsam waren stolz auf sich. Sie lachten und konnten einfach nicht aufhören. Um sie herum tobte eine Schar Kinder, die die Soprane eines donnernden Tutti darstellten, das alle vor Lachen von sich gaben.
Derlei hatte es im Dorf noch nie gegeben, und wenn, dann lag es so weit zurück, dass keiner der Lebenden dabei gewesen war. Und überliefert war auch nichts.
Dafür hatten Mark und Tsam und alle anderen Kinder etwas getan, das überliefert werden sollte. Es gab keinen richtigen Ausdruck dafür im Dorf, und so war das Getane nur eine herzerfrischende Abreibung.
Die kleinen Kinder tanzten und hüpften um Mark und Tsam herum, und diese beiden hielten sich laut lachend in den Armen. »Wir haben uns verewigt«, meinte Tsam stolz, und sie ließen sich etwas ferner eines der Feuer nieder. Hier war es nicht voll, die Erwachsenen waren alle nahe der Feuer, und die Kinder rannten vergnügt wieder zu ihnen, um sich loben zu lassen für ihre Tat.
Die Einzige, die bei den beiden blieb, war Sarah. Sie stand vor ihnen und sah Mark abermals auf diese wundersame Weise an, und Mark konnte sich dem Blick nicht entziehen. »Das war großartig«, sagte sie. Sie wollte sich wohl nicht setzen, und so sah sie auf ihn herab. Die Feuer, die hierher nur einen diffusen, flackernden Schein von der Schwäche eines fernen Sterns trugen, zeichneten in ihr Gesicht einen fremden, unnatürlichen Eindruck. Ihre langen, gekämmten Haare waren eine dunkelgraue Masse, und die Schatten auf ihren Zügen waren tief. Was war es nur, was in ihnen lag?
Eigentlich hatte Mark ihr entgegnen wollen, wie sehr es ihn freute, dass es ihr gefallen hatte, doch die Luft schien ihm das Sprechen verbieten zu wollen. Er saß nur da und sah zu ihr auf. Ihr Kleid war luftig und leicht, und das erste Mal wollte Mark die Silhouette ihres Körper unter dem Kleid bemerken, ein Umstand, der ihn einerseits befremdete und andererseits anregte. Mit einem Mal wurde die Nacht, die er sonst höchstens aus jugendlichem Übermut nicht hatte meiden wollen, zu etwas Wundervollem, wurden die Schwärze und die Undurchsichtigkeit zu etwas Idealem. Die Corrin-Höhle, dachte er sich, ohne sich dessen bewusst zu werden, musste reizvoll sein in all ihrer Unergründlichkeit. Tief in ihr zu sein, wo das Innerste lebte und bebte, wo das Geheimnis schlummerte, das überall um sie herum war und das an ihm nagte – dort hatte es Ursprung und Erfüllung.
Die Nacht machte unsichtbar, sie löschte Existenzen aus, wie die Corrin-Höhle mit allem, was dazugehörte. Und Tirata – mochte sie sagen, was sie wollte. Wo der Drang ist, zu erkunden, kann kein Weg zu steil, zu stachelig und zu tief und zu gefährlich sein.
Er erschrak ein wenig, als er bemerkte, dass Tsam nicht mehr bei ihnen war; jedoch sah er sich nicht einmal um. Tsam war fort, und das war wohl ganz gut so. Er widmete sich ganz Sarahs Gesicht und dem merkwürdigen Ausdruck darin, den leicht orangenen, gesunden, fleischlichen Schein, den sie zur Schau trug.
Und als er sie das erste Mal berührte und küsste und ihre Haut spürte, dachte er an die Tiefe und Fremde der Corrin-Höhle, ohne auf den Gedanken zu kommen, wirklich ihr Geheimnis lüften zu wollen.
Beschmutzt und elend rannte Maraim wie von Sinnen vom Fest fort und von all den Menschen, die dabei waren und die ihm so Böses angetan hatten. Man schien ihn nicht mehr dulden zu wollen. Hinzu kam sein Rausch, der ihn ins Trudeln versetzte und nur noch mehr seine Wut und Traurigkeit anstachelte. Maraim war nicht fähig zu erfassen, weswegen man ihm seine Behandlung gegönnt hatte, und das lag nicht nur am Alkohol. Auch im nüchternen Zustand war er nicht fähig dazu. Er besaß weder Takt noch Anstand, aber auch nicht das geistige Potential, das zu erfassen. Das brachte ihn in eine einmalige, schlechte Situation. Er weinte, heulte, holte geräuschvoll Luft, und in ihm pumpte es dermaßen, dass er nichts anderes tun konnte, als zu laufen wie ein Mann von Sinnen. Mittlerweile hatte er schon vergessen, wo er war, und das war ihm auch völlig gleichgültig, er wollte nur fort, fort, und sein Rausch ließ ihn alles vergessen. Für ihn war die Nacht ein schwarzer Tunnel, und alles, was in ihm war, schoss an ihm vorbei, ohne sich in sein Gedächtnis einzubrennen.
Irgendwann brannte ein Feuer in ihm, er bekam keine Luft mehr. Seine Lunge schmerzte, und Übelkeit überkam ihn. Nichts war hier vom Fest zu hören und zu sehen, er musste weit gelaufen sein. Vor ihm türmte sich ein bedrohlicher, kaum sichtbarer schwarzer Riese auf, es waren die Berge, vor denen er stand. Die Nacht war so unheimlich schwarz und undurchsichtig, dass es Maraim geschockt hätte und vor Furcht hätte vergehen lassen, wenn er sich ihrer bewusst geworden wäre. Auch wäre ihm dann aufgefallen, dass er sehr nah an die Berge gelaufen war, ein enorm weites Stück, und für nachts schon eine an Wahnsinn grenzende Entfernung.
Maraim keuchte und weinte alles aus sich heraus. Er spürte nicht, wenn er sich in Dornen verfing, die ihm Kleidung und Haut zerrissen, er hörte das Knacken der Äste nicht, wenn er sie zertrat, er nahm kaum wahr, dass er hin und wieder Bäume rammte. Brechreiz stieg in ihm auf, er würgte, und die säuerliche Masse spülte schon in seiner Kehle, er röchelte nach Luft, doch er lief dessen ungeachtet weiter, als plötzlich gegen etwas stieß, er verlor das Gleichgewicht, fiel zu Boden wie ein kippender Baum, und als er aufkam, kam es einem Hammerschlag gleich. Sein Kopf wollte explodieren, es gab einen Knall, als sein Schädel zerbarst und Blut spritzte in die Nacht auf den Stein, auf den er gefallen war mitsamt seinem beachtlichen Gewicht.
Als Maraim den furchtbaren Schlag spürte, riss er die Augen auf und rollte ein wenig zur Seite, Dornen bohrten sich in sein Fleisch wie tausend kleine Nadeln, und er sah in den letzten Augenblicken seines Lebens die Sterne in der Unendlichkeit des Alls, und er strebte zu ihnen, bevor die Finsternis Arme ausstreckte, die ihn auffingen, bevor sich die Nacht über ihn legte wie ein Totentuch und er in wohligen, ewigen Schlaf sank.
Als Selfpublisher einen eigenen Roman komplett einfach so im Blog veröffentlichen, hältst du das für eine gute Idee? Das war nur eine der Reaktionen auf meinen Plan, den ich inzwischen auch schon begonnen habe, in die Tat umzusetzen.
Meine Antwort darauf ist simpel: Ja, ich halte das für eine gute Idee.
Warum? Auch diese Antwort ist klar:
Ich wollte es einfach, denn ich hatte keine Lust mehr, zu warten. Der Wind von Irgendwo war von mir zuletzt als eBook geplant, das ich als Selfpublisher veröffentlicht hätte. Einen Verlag hatte ich gar nicht im Kopf – und auf ein eBook hatte ich schlicht und einfach keine Lust mehr.
Die Gründe: Ein eBook ist eine fertige Datei, die Entwicklung ist abgeschlossen, es geht dann nur noch um das fertige Werk an sich.
Das war mir zumindest im Hinblick auf Der Wind von Irgendwo aber zu wenig. Auch für das eBook habe ich geplant, den Roman mit einer eigenen Website zu begleiten. Ich wollte den Roman als Blick in meine Schreiberstube nutzen: Ich wollte Making-ofs machen, über die Story-Entwicklung erzählen, über die Arbeit an Stoff und Sprache, über Orte, Namen, Musik und vor allem über meine Inspirationen erzählen. Daher war für mich schließlich die Idee, die 15 Kapitel des Romans wöchentlich in meinem Blog zu veröffentlichen, die naheliegendste. Diese Form kam dem am nächsten, was ich mit dem Roman eigentlich vorhatte: Keinen singulären Romantext, sondern Romantext mit Bonusmaterial.
Schon bevor das erste Kapitel online ging wusste ich genau, mit welchen Artikeln ich die Veröffentlichung über Wochen hinweg flankieren wollte.
Und ja: Ich wollte einfach nicht mehr warten. Ich wollte anfangen, auch auf die Gefahr hin, in Fallen zu tappen, Fehler zu machen, mich blöd anzustellen. Mir sind Fehler lieber als Bedenken. Hier geht es nicht um die sorgsame Erwägung, ob und wie ich einen Teich voller Krokodile über eine morsche Holzbrücke überquere. Hier geht es um etwas, das mir wichtig ist, und wir Schreibende wollen doch vor allem gelesen werden.
Ich habe mich schlicht gefragt: Wieviel Leserinnen und Leser erreiche ich mit einem eBook im Selfpublishing? Wie realistisch ist es, eine Leserschaft in einem Verlag zu erreichen?
Für mich war klar, dass all dies Variablen waren, die ich nicht in der Hand hatte – und die mich vor allem weitere Zeit kosteten. Diese Zeit war ich nicht bereit, zu investieren. Ich wollte jetzt loslegen und Leser*innen erreichen, sie einladen, die Entwicklung des Romans über Wochen zu verfolgen, in die Welt einzutauchen und sich – hoffentlich – auf ein neues Kapitel zu freuen. Ich wollte, dass sie ganz nah dabei sind und damit Teil der Entstehung werden. Denn obwohl der Roman selbst schon längst geschrieben ist, wird er durch die wöchentliche Veröffentlichung etwas Neues: Ein gemeinsamer Raum zum Entdecken. Diese Idee finde ich ganz wunderbar.
Und natürlich möchte ich mit einer wochenlangen Veröffentlichung des Romans Aufmerksamkeit und Reichweite erhöhen. Da die einzelnen Kapitel nicht SEO-konform sind – weder von der Headline noch vom eigentlich Text – sollen das auch die flankierenden Artikel sowie zusätzlich veröffentliche Kurzgeschichten richten. Zwar wird der Roman nicht wie eine herkömmliche Veröffentlichung von Beginn an fertig zur Vermarktung bereit liegen, aber das Ende ist mit der Veröffentlichung des 15. Kapitels ja gesetzt. Danach kann ich noch immer ein eBook aus dem Roman machen.
Zu guter Letzt: Es fühlt sich für mich gut und richtig an. Hoffentlich geht es anderen auch so.
Der Wind von Irgendwo von Anfang an lesen
Erst Kapitel 2 lesen
Jessica war gespannt auf das, was kommen sollte.
Nicht, dass es das große Ereignis war, das immer näher rückte. Das Feldfrucht-Fest war ein Fest zu Ehren dessen, das den Menschen des Dorfes die Dinge gab, die sie benötigten. Das waren Lebensmittel, Holz zum Bauen, Nutztiere, die Gunst des Wetters, auf dass die Früchte der Felder und Bäume und Sträucher gut und erntereich gediehen. Die Menschen hatten keine Vorstellung von dem, was Gott war oder sein sollte. Sie beteten die Natur an und ihre Dinge. Sie zu erfassen, überstieg die Denkweise der Menschen des Dorfes, wäre da nicht immer eine Frau gewesen, die von sich behauptete, Wahrsagerin zu sein, eine Weise, eine Allwissende fast, die die Sterne zu deuten verstand und die in der Lage war, längst Vergangenes und gerade Geschehenes zu einer Zukunftsdeutung zu verbinden. Somit besaß Tirata, die Wahrsagerin, einen hohen Stellenwert im Dorf.
Sie war weise und gefürchtet. Jeder achtete sie in einer Art und Weise, die vergötternder Furcht gleichkam. Man erzählte sich, dass Tirata einem anderen Geschlecht abstammte, das es im Dorf sonst nicht gab. Einmal im Leben einer Wahrsagerin wurde ein junger Mann aus dem Dorf ausgewählt, um mit ihr ein Kind zu zeugen, und, so wundersam es auch erschien, es waren immer Töchter. Kam es zu einer Totgeburt, wurde ein neuer Mann auserkoren, bis eine Tochter das Licht der Welt erblickte. Aus diesen Mädchen erwuchs stets eine neue Wahrsagerin, die die Anlagen von etwas Nichtirdischem innehatte, Markenzeichen sowohl innerer, als auch äußerer Art, die sie von dem normal Menschlichen abhob.
Sie als Zukunftsdeuterin und Wunderheilerin, die das ganze Dorf beeinflusste und auf gewisse Weise leitete, nicht darin, sondern weitab davon einsam wohnte, hatte jedem Ereignis wie Geburt, Tod, Heirat oder großen Festen mit ein paar Worten das entsprechende Quantum Heiligkeit zu verleihen. Wenn sie sprach, schwiegen gar die Vögel, und was sie sprach, ließ keinen Zweifel offen: Sie wusste als Einzige über das Rätselhafte, das in allem steckte, Bescheid.
So sollte sie auch nun ein paar Worte sprechen, um das Feldfrucht-Fest zu segnen und seine Bestimmung deutlich zu machen. Zu diesem Zweck war es diesmal Lorn, Tirata im Namen des Dorfs zu bitten, das Dorf zu besuchen. Jessica hatte mitgehen wollen, obgleich sie sich vor Tirata fürchtete. Es war der merkwürdige Zug des Menschen, an dem Schrecklichen das Schöne zu finden.
Jessica sah Tirata nicht oft. Bei jedem Fest tauchte sie auf und hielt sich vielleicht eine Stunde bei der Dorfbevölkerung auf, bevor sie sich entschuldigte. Einmal hatte Jessica einer Geburt beiwohnen dürfen, bei der sie auch Tirata gesehen hatte. Und bei einer Beerdigung hatte sie sie einmal gesehen – und öfter hatte sie sie niemals zu Gesicht bekommen.
All die anderen Gesichter des Dorfes sah man jeden Tag gleich mehrere Male, und wenn nicht, dann war das am Rande des Merkwürdigen.
Tirata hingegen war eine Sensation. Manchmal sah man sie aus der Ferne, wenn die in Richtung Corrin-Höhle ging, um dort für einige Stunden zu verschwinden. Niemand sonst traute sich in die Corrin-Höhle, und nach dem, was Tirata erzählte, würde dies niemand außer ihr tun. »Die Geister der Vergangenheit sprechen in dieser Höhle«, meinte sie einmal.
Niemand stellte das in Frage, und niemand dachte daran, das nachzuprüfen. Wer es wagte, wurde verrückt, oder kehrte niemals wieder – von solchen Fällen berichtete man.
Tiratas Haus lag etwa einen Kilometer außerhalb des Dorfes inmitten einer weiten Weide, und es wurde von den Wellen des grünen Ozeans umspült. Im Sommer flog die Gischt der Samen an die Wände, und einige Bäume um das Haus ließen den Wind zu einer hörbaren Stimme werden.
Es war still und heiß, als Lorn mit Jessica in Richtung Tiratas Haus ging. Sie hatte ihre kleine Hand in die große, schweißnasse Hand ihres Vaters geschoben, die sie festhielt. Der Wind rauschte durch das hohe, dichte, saftige Gras, und der Himmel war azurblau, von tiefster Schönheit, und einige Vögel jagten über ihn hinweg. Zu ihrer Linken türmte sich das Gebirge auf, mit dem tiefen Schlund der bösen Corrin-Höhle irgendwo im Gestein. Niemand sagte ein Wort. Sie hörten ihre raschelnden Schritte, sie hörten die Vögel, ansonsten hörten sie nichts. Sie sahen sich nicht zum Dorf um, wo es geschäftig zuging, und wo jeder, mit Ausnahme von Alba, der Frau vom Schmied, die über eine böse Magenverstimmung klagte, auf den Beinen war. Sie hatten alles hinter sich gelassen und schauten nur nach vorn auf das Haus von Tirata, dieser Hütte umgeben von Bäumen und Grün, dessen Dachholz allmählich brüchig wurde, und durch das es durchregnen musste.
Wer einmal in das Haus kam, war bald ebenso eine Sensation wie alles, was auch nur weit entfernt mit dieser Frau zu tun hatte. Lorn hatte diesmal die Ehre bekommen, wobei Ehre nur dazu missbraucht wurde, den Menschen des Dorfs nur einmal im Leben diese Aufgabe aufzubürden.
»Hast du eigentlich Angst, Pepe?«, fragte Jessica leise in den Wind hinein.
»Nicht doch«, antwortete Lorn viel zu leise. Denn ja, er hatte Angst. Er wusste, dass Tirata nichts Böses tat, dass sie nicht einmal böse war, doch die Ehrfurcht ließ ihn fürchten. Er presste Jessicas kleine Hand.
»Aua, du tust mir weh«, meinte Jessica und versuchte, die Hand ihm zu entreißen.
»Oh, entschuldige, Kleines«, meinte er verstört und ließ sie los, um sich daraufhin seine Hände zu reiben, mit denen er eben noch in Litern von Blut des Schlachtviehs gesuhlt hatte, die Eingeweide und Organe herausgenommen und den Tieren zum Fraß vorgeworfen hatte.
»Ich glaube, Tirata tut nichts Böses, Pepe. Sie ist unheimlich, aber richtige Angst habe ich auf einmal gar nicht mehr vor ihr. Sie ist sicher nur alt und lieb.«
»Sie ist alt, aber lieb ist sie nicht. Nein, sie ist nicht böse, und sie tut auch niemandem etwas, aber sie ist nicht lieb, ganz sicher nicht. Sie kann viel Böses tun.«
»Kann sie die Leute verwandeln?«
»Ja, das kann sie.«
»Kann sie die Menschen verschwinden lassen?«
»Ja, das kann sie.«
»Kann sie den Menschen Angst in die Träume bringen?«
Lorn schüttelte es. »Ja, das kann sie.«
Das Haus war näher gekommen, und sie erreichten die Skelettfinger der Bäume, die es umrandeten. Jessica sah zu ihnen auf und ließ den Blick auf den Raben in den Wipfeln haften.
»Was sind das für Bäume, Pepe?«
»Ich weiß es nicht, Jessica. Sie stehen jedenfalls nur hier.«
»Du hast Angst, das merke ich. Du hast Angst. Warum hast du Angst, Pepe?«
»Weil man vor Tirata immer Angst hat. Und weil sie merkt, wenn du keine vor ihr hast und sie dann böse wird.«
»Will sie denn, dass man sie fürchtet?«
»Jeder fürchtet sie.«
»Ist das ein Grund, Pepe?«, wollte sie wissen und sah zu ihm auf, blieb stehen und wartete, bis auch er ein paar Schritte später stehengeblieben war und sich nach ihr umsah. Der Wind rauschte um sie beide. »Wenn alle Angst vor ihr haben, muss das einen Grund haben. Sie kann Böses tun.«
»Das glaube ich nicht.«
»Sie ist mächtig und geht in die Corrin-Höhle. Sie ist mit den Geistern dort in Verbindung.«
»Na und? Und was ist, wenn die Geister gar nicht böse sind?«
»Sie sagte es uns aber, Jessica, und willst du sagen, dass sie gelogen hat?«
»Nein. Dann wird es wohl so sein.« Sie schritt zu ihrem Vater und ergriff seine Hand. Seltsamerweise hatte sie nun wirklich keine Angst mehr vor der Frau. Vielmehr war sie neugierig, sie zu sehen, sie zu begrüßen und sie allerlei Dinge zu fragen, auf die sie sich Antworten erhoffte. Und dann war sie wenigstens ein bisschen so mächtig wie Tirata.
Ehrfurcht hatte sie. Bewunderung, auch – aber Furcht? Nein. Warum auch? Die Frau hatte ihr nie etwas getan, und sie konnte sich auch nicht an irgendeine der vielen Geschichten erinnern, die man sich am Lagerfeuer erzählte, in denen auch nur einmal andeutungsweise eine böse Tat oder Absicht vorgekommen wäre.
Das Haus, in dem die Wahrsagerin wohnte, war älter als alle, die Jessica aus dem Dorf kannte, und der Wind flüsterte unverständliche Geschichten durch die Ritzen des Hauses und durch die Wipfel der Bäume. Lorns Knie waren weich, er zitterte am ganzen Körper, und trotz der Wärme war ihm kalt. Wann hatte er Tirata jemals so aus der Nähe gesehen? Er konnte sich an ein Mal erinnern, aber das war Jahre her und er wäre auch beinahe gestorben vor Angst. Diese erhabene Gestalt der Frau, die schon damals alt war und nun noch viel älter, und die nie sterben zu wollen schien, ihre langen, grauen Haare, ihre schnarrende Stimme, ihre Vorhersagen, die sie getroffen hatte und die eingetreten waren. Und nun sollte er sich ansprechen. An ihre Tür des Hauses klopfen, das er immer gemieden hatte. Er hatte es immer nur aus der Entfernung gesehen, von sich zu Hause, von den Feldern. Immer hatte es einsam und still dagelegen wie ein Felsbrocken im Gras, manchmal hatte er Tirata gesehen, wenn sie nach draußen kam und in ihrem Garten Gemüse und Kräuter holte, wie sie Wasser schöpfte oder wie sie gar ihre Tiere schlachtete. Das tat sonst keine Frau.
Sein Herz raste, als er vor der Tür Halt machte. Er sah an sich herab, begutachtete seine Kleidung, denn er wollte nicht ungepflegt erscheinen, kurzum, er wollte ihrer würdig erscheinen. Mit einem Anflug von zusammengefasstem Mut räusperte er sich und klopfte gegen die Tür. Was wollte er sagen? Wie sollte er es sagen? Sollte er wieder gehen, schnell und heimlich, sich durchs kniehohe Gras ungesehen davonschleichen und im Dorf sagen, er hätte es sich nicht getraut?
Welch Blamage!
Da öffnete sich die Tür.
Lorn stand da und das Herz wollte ihm stehenbleiben, ein Schlag von unerträglicher Hitze überwallte ihn.
Da stand er Tirata gegenüber, und er hatte einen grässlich trockenen Mund.
Wie sie dastand und ihn ansah mit ihren dunklen, geheimnisvollen Augen. Sie trug bunte Schnüre in ihrem langen Haar, das grau war wie altes Holz, und ihre Falten schlugen Täler in die fremde Landschaft ihres Gesichts.
Es hatte ihm die Sprache verschlagen, und der Wind wehte um sie herum, Luft aus dem Innern dieses merkwürdigen, gemiedenen Hauses stieg ihm in die Nase. Sie roch süßlich und ließ ihn schwindelig werden.
Tirata blickte ernst wie immer; man sah sie nie lachen. Sie blickte ihn an und schien darauf zu warten, dass er etwas sagte, und da er es nicht tat, blickte sie nach unten und erblickte dieses reizende Mädchen, das da neben Lorn stand und zu ihr aufblickte mit großen Augen und keiner Spur von Angst darin.
»Oh, kleine Dame, bist du nicht die kleine Jessica?«, fragte die Wahrsagerin mit tiefer, brüchiger Stimme, die schon oft am abendlichen Feuer beschwörend in die Runde getragen worden war.
Für Jessica eröffnete sich etwas Neues, und sie war in der Lage, wenngleich auch leise, zu antworten: »Ja, das bin ich.«
»Jessica«, wiederholte Tirata geheimnisvoll und wiegte den Namen in ihrem Mund, aus dem so manch Rätselhaftes kam. »Jessica. Jessica. Ein schöner Name, dieser Name.« Sie zeigte beiläufig mit der linken Hand auf Lorn, ohne ihn anzusehen. »Hat er ihn dir gegeben?«
Jessica nickte nur.
»Wie kam es? Kann er schreiben, dass er ihn aufgeschrieben hat, oder kann er tatsächlich sprechen und tut das nur nicht mit jedem?«
»Er hat Angst vor dir«, erklärte Jessica freimütig und spürte, wie Lorns Hand sich strafend fest um die ihre drückte.
Da sah Tirata an und durchbohrte ihn förmlich mit einem stechenden Blick. »Dann bist du Lorn, richtig?«
Ein heißer Schauer überlief ihn, und mit weit aufgerissenen Augen nickte er nur verängstigt die Andeutung eines Nickens.
»Soso. Du hast eine kluge Tochter. Bewundernswert. Soll ich sie fragen, weswegen du angeklopft hast?«
Tausend Möglichkeiten rasten durch Lorns Kopf, wie er es anfangen konnte, Tirata zum Fest einzuladen, doch ihm fiel keine ein. Keine der tausend Möglichkeiten war einer Meinung nach die richtige.
»Kommt erst einmal herein, es ist ziemlich windig heute.«
Sie schritt zur Seite und bedeutete so, dass die beiden hereinkommen sollten.
Jessicas erster Impuls war, einen Schritt nach vorn zu machen, doch plötzlich wurde sie der Tatsache gewahr, dass Lorn noch ihre Hand hielt und noch keinen Zentimeter von der Türschwelle gewichen war.
Für ihn war dies eine zweite Corrin-Höhle, in der es umging, in der Dämonen lebten, in der böse Dinge geschahen, die seinen Horizont überstiegen. Er sah nur die Einrichtungsgegenstände und erschauerte. Sie hatte eine viel größere Feuerstelle als alle anderen im Dorf, an den wenigen Fenstern hingen Stoffe, die das Sonnenlicht milderten und den ganzen Innenraum in ein schummriges, fremdes Licht tauchten; ein Feuer brannte in der Ecke links voraus von ihm, und das Knistern war so gespenstisch, dass es kein normales Holz sein konnte, das da brannte. Es roch nach Feuer und nach etwas Süßlichem, das er nicht deuten konnte. Er sah kein Bett, wohl aber wallenden Stoff, der von der Decke herabhing und etwas verbarg. Auf einem Holztisch lagen bunte Steine, ein kleines Säckchen lag daneben. In Tassen war Wachs, und er sah einige Bücher, von denen er nur wusste, dass in ihnen Geheimnisse standen.
Dies war kein normales Haus, dies war somit kein Heim einer normalen Frau. Nicht, dass sie eine Hexe war. Aber sie war schrecklich. Sie sah schrecklich aus, sie hatte eine schreckliche Stimme, sie hatte Schreckliches in ihrem Haus, und selbst das war schrecklich, weil es bald zusammenfiel.
»Komm, Lorn, tritt ein. Ich werde dir die Zukunft sagen.«
Lorn konnte nicht, und jede Faser in ihm wehrte sich dagegen. Jessica stand nach wie vor da und zog ihn ein wenig mit ihrer spärlichen kindlichen Kraft.
Tirata sah ihn böse an. »Willst du deiner Tochter meine Gunst verwehren, Lorn?«
Das genügte. Ihre Gunst nicht innezuhaben hieß, von bösen Träumen geplagt zu werden. Das sollte nun auf seine kleine Tochter zukommen, einzig und allein durch seine anscheinend nicht überwindbare Feigheit? Langsam tat er einen Schritt und noch einen in die zweite Corrin-Höhle, obgleich alles in ihm dagegen revoltierte.
Tirata schloss hinter ihm die Tür und ging um sie herum. »Hast du Durst, Jessica? Ich habe etwas ganz Besonderes für dich. Nur ich weiß, wie man es zubereitet, wie ich so vieles als Einzige weiß in diesem Dorf.«
Jessica nickte stumm und sah sich um. Wie hübsch es hier war. Die bunten Steine waren lustig, der Stoff, der überall hing, war in einer Weise romantisch, dass sie auf die Bezeichnung romantisch nie gekommen wäre; es gefiel ihr einfach. Das brennende Holz roch eigenartig, aber es roch gut und erfüllte das Haus. Sie schritt im Raum herum und sah die vielen Töpfe, Pfannen, Löffel und Stäbe, die in der Küche hingen. Niemand sonst hatte so viel Töpfe und Pfannen und Löffel und Stäbe.
Die alte Frau betrachtete sie und bemerkte ihr Interesse daran. »Habt ihr Zuhause nicht so viele Dinge zu Kochen?«
»Nein. Was machst du nur damit?«
»Viele Dinge. Viele Rezepte, die nur ich weiß. Sie stehen in den Büchern da.«
»Du weißt, was darin steht?«
»Natürlich weiß ich das. Meine Mutter hat es mir schon vor langer Zeit beigebracht, und meine Großmutter hat es meiner Mutter beigebracht. Meine Urgroßmutter meiner Großmutter, und so weiter.«
»Und sind das merkwürdige Sachen, die du kochst?«
»Merkwürdig nur, weil niemand sonst sie kennt. Und nur ich esse sie, mein Kind.«
Lorn stützte sich an einem Stuhl ab und nahm seinen ganzen Mut zusammen, er räusperte sich und formte einen Satz, als Tirata ihn ansah. »Oh, Lorn, möchtest du mir etwas sagen? Ich nehme es an, denn du bist bestimmt nicht gekommen, um mir nur guten Tag zu sagen, da du ja nicht einmal das getan hast.«
Das Blut raste durch Lorns Adern, und er spürte, wie er puterrot wurde. »Ich … bin gekommen, um …ähem …«, und er räusperte sich wieder unbeholfen.
Tirata stand mit Jessica in einigen Metern Entfernung und sah ihn geduldig an. »Weswegen bist du gekommen, Lorn?«
»Heute ist der Tag des … Festes, und ich bin gekommen, um dich zu bitten, dass du ein paar Worte sprichst.«
»Was soll ich denn sagen, Lorn?«
»Das … musst du wissen, Wahrsagerin. Heute ist das Feldfrucht-Fest.«
»Ich weiß, ich weiß, Lorn. Ich danke dir für die Einladung, und selbstverständlich werde ich kommen. Setz dich. Möchtest auch du etwas von meinem Getränk, das niemand außer mir kennt? Deine Tochter ist angetan davon. Setz dich endlich hin. Auf den Stuhl da.«
Lorn setzte sich und war wie vor den Kopf geschlagen. Eigentlich hatte er nun gehen wollen, schnell, schnell zurück ins Dorf und vielleicht noch ein, zwei Schweine schlachten. Holz hacken. Mähen. Vielleicht den Frauen und Kindern beim Beerenpflücken helfen. Ganz gleich, nur raus hier aus diesem schrecklichen Haus.
»Du scheinst über deine Ehre, mich diesmal einladen zu dürfen, nicht besonders glücklich zu sein, Lorn.«
Er sagte nichts und sah betreten zu Boden.
»Er hat einfach nur schreckliche Angst«, platzte Jessica heraus. »Ganz schreckliche Angst.«
»Die Angst vor Wissen und Macht ist immer ratsam, Kind.«
Lorn wurde plötzlich schlecht und er sah seine Befürchtungen bestätigt.
»Bist du denn wirklich so mächtig?«
»Jessica«, tönte es kleinlaut vom anderen Ende des Raumes, wo Lorn saß und sich schlecht fühlte. »Wie kannst du es wagen, so eine Frage zu stellen? Natürlich ist sie das. Tirata, verzeih, aber ich habe ihr das nicht …«
»Ist gut, Lorn, ist schon gut. Ich werde dich nicht strafen. Du bist ein guter Mann, und ich habe keinen Grund, dir etwas tun zu wollen. Habe du nur weiter Angst vor mir, Angst ist immer gesünder als Vertrauen. Ein Hase traut auch keinem Wolf über den Weg. Also bleib du ruhig der Hase und sieh mich weiter als Wolf, wenn du willst. Deine Tochter fragt ganz Natürliches. Nur fragt mich das sonst niemand.« Sie sah zu Jessica herunter und hielt ihr Kinn mit kalten, dürren Fingern. »Jessica«, begann sie leise und fuhr ebenso fort, »es gibt viele Geheimnisse um uns. Der Wind spricht. Die Corrin-Höhle ist seltsam, und Geister gibt es überall. Das Mächtige ist um uns, Kind. Wir sind ihm unterlegen. Ich gehöre einem Geschlecht an, das die Aufgabe hat, zumindest ein wenig mehr darüber zu erfahren. Ein wenig mehr zu wissen als die anderen. Weil ich auch mehr wage. Ich gehe in die Corrin-Höhle, ich höre den seltsamen Stimmen zu, die überall wispern. Und ich glaube, etwas ist in mir, das mir die Gabe gibt, mehr zu verstehen als ihr. Und so bin ich für euch da, um euch zu helfen.«
»Auch, uns zu strafen?«
Tirata sah auf und ging zu einem Tisch, auf dem ein Krug stand. »Hier, Kind, trink das. Es wird dir guttun. Du auch, Lorn?«
Lorn schüttelte den Kopf.
Tirata goss etwas in einen Becher und reichte ihn Jessica. »Trink, Kind, es ist eine Spezialität, kein geheimnisvolles Gift, keine mystische Essenz. Deiner Tochter werden schon keine neuen Köpfe wachsen.«
Lorn fand das gar nicht komisch und fragte recht brüsk: »Können wir dann gehen, wenn meine Tochter getrunken hat?«
Tirata sah ihn lächelnd an. »Aber natürlich, Lorn, natürlich.«
„Der Wind von Irgendwo“ geht weiter mit Kapitel 4: Maraim und die Frösche am Sonntag, 10. April 2021
Laura war klar, dass die Nachbarn reden, und auch wenn sie bedeutendere Probleme hatte, war es ihr unangenehm. Sie dachte daran, während sie im Zimmer ihres Sohnes saß und weinte. Sie dachte daran, als sie das erste Mal aus der Tür trat, nachdem es bekannt geworden war und sie den Blick der Leute hatte aushalten müssen. Viele von ihnen kannte sie gar nicht oder nur vom Sehen, wie Sternschnuppen waren sie zuvor aufgetaucht und wieder aus ihrem Blickfeld verschwunden, fortgeschwemmt mit ihren Ansichten, die belanglos für sie gewesen sind, wie umgekehrt auch sie nichts anderes für diese Nachbarn gewesen ist als eine Erscheinung, die zufällig den Weg kreuzte.
Bis vor drei Tagen. Als sie danach das erste Mal das Haus verlassen musste, spürte sie, wie sie zu einem Blickpunkt geworden war, der bewertet und verachtet wurde.
Dabei konnte sie unmöglich die Schuld tragen – zumindest nicht allein. Sie konnte sich nicht vorstellen, wie es hatte geschehen können, und so unbeteiligt sie sich fühlte, so ungerecht empfand sie zu allem Gram die Abwertung ihrer Nachbarn.
Ob alle Freunde noch zu ihr hielten, die sich bislang nicht gemeldet hatten?
Monika hatte keine Stunde nach der Mitteilung bei ihr angerufen, um ihr zu versichern, dass sie zu ihr halten werde „egal, was passiert ist“.
Wenigstens. Aber dieses „Egal“ war und blieb das Kainsmal. Denn was geschehen war, war nicht egal, und es ließ sich nicht mehr aus der Welt schaffen.
Seit drei Tagen bekam sie kein Auge zu, und die Stille zwischen all den Gesprächen und Telefonaten spendete Trost und Schmerz gleichermaßen.
Die Stille ließ sie eintreten in das Reich der Bewertung, und dieses Reich war gewaltig. Es hatte unerforschte Gelände wie ausgetretene Pfade, es hatte Klippen und Tiefen, stille Wasser und stürmische Steppen. Hin- und hergerissen zwischen Ohnmacht, Scham und Schuld fand Laura noch nicht den Platz, an dem sie sich niederlassen konnte – stattdessen trieb sie durch dieses Reich und marterte sich mit den unendlichen Möglichkeiten, die es bot.
Sie war zu betäubt, um müde zu sein, und auch zu betäubt, das Zimmer, in dem sie gerade saß, mit ihrem Sohn in Verbindung zu bringen, obwohl es seines war.
Das Zimmer eines Teenagers, auf rührende Weise chaotisch, auch wenn sie immer sagte, er solle aufräumen. Poster hingen da ebenso wie erste Bilder von Renoir – billige Pappdrucke in rahmenlosen Bilderhaltern, aber für ihn war es wie ein Museum und ein Schritt zum Erwachsenwerden. Renoir hatte er in einer Zeitschrift beim Arzt entdeckt, sich eine kleine Kollektion besorgt und zwischen Film- und Bandplakaten sowie einem Fan-T-Shirt an die Wand gehängt.
In diesem Zimmer machte er seine Hausaufgaben oder täuschte es wenigstens vor. Den Flachbildmonitor des Computers hatte er sich vor drei Monaten durch einen Ferienjob verdient, und er war so froh, als er ihn sich gekauft und aufgestellt hatte. „Wow“ war durch das Haus gehallt, voller Glück über dieses alberne Technik-Ding. „Superscharfes Bild!“
Und nun saß sie da und atmete die Luft eines seit drei Tagen ungelüfteten Zimmers ein, das noch ein wenig nach ihrem Sohn roch. Seinem Deo aus de mSupermarkt, das er sich unter die Achseln sprühte. Und fragt sich, was die Nachbarn wohl dachten. Ob sie letztlich fair seien – aber konnte sie das erwarten? Die Zeitungen fragten, wie es hatte geschehen können, und was sollte sie darauf sagen?
„Ich habe keine Ahnung“, sagte sie jedem und immer wieder sich selbst „Er war ein ganz normales Kind.“
„Er hat keine Auffälligkeiten gezeigt“, hatte der Schulleiter zu Protokoll gegeben, vor zwei Tagen, als die Schule plötzlich still stand. Seitdem spudelten die Ermittlungen mehr und mehr gruselige Details aus.
Warum ihr Sohn zum Mörder wurde, wusste noch niemand – doch die Nachbarn sagten nun, sie habe es verschuldet, schließlich sei sie die Mutter.
„Lass dich nicht fertigmachen“, sagte Monika, und der Beistand, den sie auch von anderen bekam, tat ihr weder gut noch schlecht. Zu benommen war sie, um glücklich darüber zu sein oder froh, das Wissen um Rückendeckung prasselte wie Wasser in eine Zisterne.
Vor vier Tagen war sie lediglich Mutter von Nils, ihrem 16-Jährigen Sohn, der zum Gymnasium ging und der sie ein ums andere Mal wahnsinnig gemacht hat. Mit seiner Lautstärke, mit seiner pubertären Pampigkeit, mit seinen unausgereiften und wöchentlich wechselnden Ansichten, wie man sie in dem Alter hat.
Den sie liebte für das, was er war und wie er war.
Nun war sie die Mutter eines Mörders, der in ein Haus eingedrungen und mit einem Freund ein Ehepaar erstochen hat – einfach so.
Über 50 Messerstiche bei jedem.
Als sie im Fernsehen Worte hörte wie „Blutrausch“ und „Wahnsinnstat“, dachte sie zunächst, welcher Geisteskranke und Perverse da zugeschlagen haben mochte.
Als sie hörte, dass Nils verhaftet worden war, weil er einer dieser beiden Geisteskranken und Perversen war, lähmte Schock die Welt ringsum.
Ein eigenartiges Gefühl, über das sie in einigen Monaten ein Buch geschrieben haben würde, nachdem ihr Sohn längst verurteilt und inhaftiert worden war.
Es war kein Gefühl inneren und äußeren Stillstands – auch keins von Eiswasser am Körper. Trudeln? Fallen? Nein. Ein Gefühl im Bauch. Ein Schmerz, der nicht fragte, ob er kommen dürfe oder nicht. Sondern der einfach kam und schlug. Seit drei Tagen schon.
Frank ist es gewesen, der recht schnell gesagt hatte: „Das liegt in unserer Verantwortung, er ist unser Sohn.“ Seitdem war er abgetaucht, dümpelte in der Trübe von Sprachlosigkeit und blickte mit stumpfen Augen nach nirgendwo. Oder in sich hinein. Oder wartete wie eine Maschine auf Standby auf einen Impuls, wieder anzuspringen, der nicht kam. Wer konnte das wissen …
Das Wort „Verantwortung“ hatte weh getan, auch „unser Sohn“. An ihnen wäre es gewesen, das zu verhindern, doch so sehr Laura nach Indizien blickte, nach Beweisen, die sie hätten übersehen können, fand sie nichts anderes als typische Dinge in einem typischen Zimmer eines typischen Teenagers.
„Die Computerspiele sind es“, sagten sie im Fernsehen, die einer ebenso geschockten wie höchst interessierten Menge die Tat zu erklären versuchte. Nils hat Spiele gespielt, auch online. Aber da traten Fabelwesen mit Waffen zwar, aber ebenso mit Zaubersprüchen gegeneinander an.
Diese Spiele haben Nils zu keinem Mörder gemacht – allein schon die Symbiose dieser beiden Worte: Nils und Mörder.
Sie erinnerte sich an die erste Begegnung mit Nils nach der Tat. Er hatte da gesessen, ihr Nils. Ernst sei er, kalt, sagten sie, doch sie wusste es besser. Er schwieg unter einer Maske. Der Mörder, der ihr gegenüber gesessen hatte im Moment ihres Eintretens kurz aufgesehen und sofort zu Boden geschaut. Geschämt hatte er sich, das wusste sie.
Als sie dem Mörder gegenüber saß, fielen ihr keine Worte ein, Frank war daheim geblieben. Er konnte den Anblick seines Sohnes nicht ertragen.
Sie auch nicht. Abscheu überkam sie, und Wut, dass sie ihn hatte schlagen wollen, mehrmals, einfach mitten ins Gesicht. Er hätte es verdient.
Nils Namen auszusprechen war schwer gefallen. Der Name verpuffte in den Universen zwischen ihnen. Kalt, sagten sie alle, die in ihm nur die Bestie sahen. Überrumpelt, sagte sie, die seine Mutter war und ihn besser kannte.
Die Stille zwischen ihnen war unerträglich laut geworden, und während sie da saß und das „Warum“ nicht zu fragen wagte, wünschte sie sich nach Hause, an den Beamten vorbei, die sie ansahen wie die Mutter eines Biests, die durch seine Geburt das Elend verschuldet hatte.
Das „Warum“ war ihrem Mund schließlich von allein entwichen – eine Antwort konnte es kaum geben, und so schwieg Nils. Er zuckte nur die Achseln.
„Warum?“ fragte sie nochmals, diesmal mit Nachdruck. „Wie kommt ein Mensch auf diese Idee? Warum TUT man so etwas?“
Auch jetzt, da sie in seinem Zimmer saß und das Monster und den Mörder darin zu finden versuchte (erfolglos) oder wenigstens Anzeichen darauf, gab es keine Antwort.
„Wir sind verantwortlich“, stammelte Frank immer wieder in die Stille hinein, wenn er überhaupt sprach. Wie sollte er jemals in seine Firma zurückkehren? Wie sollten sie das Haus halten können in dieser Umgebung, in der man sie ansah als Mörder-Eltern, deren Wertelosigkeit sich in ihrem Sohn manifestiert hatte.
Nils gab immer die Hand, wenn er Erwachsene kennenlernte. Nils gab sich immer Mühe bei der Auswahl der Geschenke für seine Eltern zu Weihnachten und zum Geburtstag. Nils hatte von sich aus einen Ferienjob gesucht, weil er sich Dinge leisten wollte, die er nicht bekam. Über diesen Nils sprach die Reportermeute nun als „Das Böse hat ein Gesicht“ und „Das Böse kam am Abend.“ Die Nachbarn sprachen nun davon, in der Nachbarschaft des Bösen zu leben, als sei Nils der Antichrist und Laura und Frank diejenigen, die die Schuld für sein Erscheinen trugen.
„Wer bist du?“ hatte sie Nils beim ersten Treffen gefragt. „Das kann doch nicht mein Sohn sein.“ Tränen quollen. „Das kann doch nicht mein Sohn getan haben! Sag mir wer du bist!“ Als sei ein Dämon in ihn gefahren, den es auszutreiben galt. „Sag mir wer du bist!“
Nils Gesicht begann sich darauf zu verformen, dass es nicht lang gedauert hatte, bis er weinte mit bebendem Körper, nicht wagte, sich hinter einer Hand zu verstecken und stattdessen zu Boden blickte.
Und „Mama“ sagte.
Mama – Verantwortung, Erziehung, Werte, Vermittlung, Liebe, Scheitern. Konzentriert in vier Buchstaben.
Es waren die letzten Worte, die sie miteinander gewechselt hatten. Sie konnte und wollte nicht Mama sein und gleichzeitig doch.
Sein Zimmer war so normal.
Das getötete Paar kannte sie nicht. Nils und sein Freund Peter hatten es sich wahllos ausgesucht, einfach geklingelt und den Mann nach dem Öffnen der Tür ins Haus getrieben mit gezückten Klingen und noch im Flur getötet. Die Frau hatten sie durch das Wohnzimmer verfolgt, zwischen Sofa und laufendem Fernseher war sie auf dem Boden gestorben. Mit Stichwunden in Brust, Rücken, Hals, sogar Gesicht.
In seinem Zimmer funkelte keine Messerklinge, keine Aggression zeigte sich. Auch die Polizei, die sein Zimmer durchsucht hatte, hatte nichts Verdächtiges finden können. Woher auch immer „das Böse“ gekommen war oder was es hatte ausbrechen lassen, niemand fand eine Antwort.
Er ist so normal.
Nach der Tat wurden Nils und Peter schon vor der Haustür von Nachbarn abgefangen, die die Schreie des Ehepaares gehört hatten. Beide Jungen waren voller Blut und hielten die Messer noch in den Händen.
Die einzigen Worte, die man bislang den beiden hatte entlocken können, waren ein gemurmeltes „Weiß nicht“ von Peter und ein „Einfach so“ von Nils.
Es quälte Laura, dass sie nicht um die Toten trauern konnte, doch dieses Ehepaar war so weit von ihr entfernt wie der Mars oder die Sonne oder Alpha Centauri.
Sie schämte sich dafür, nichts anderes zu empfinden als die Schande, versagt zu haben und sich über das Gerede anderer Leute den Kopf zu zerbrechen, und Trauer zu verspüren, weil Nils ihr und Franks Leben zerstört hatte. Ihr fielen die Worte ihrer Mutter von heute früh ein: „ Es ist nicht wichtig, wo man beginnt, die Sache zu begreifen. Wichtig ist, dass man damit beginnt.“
Beginnen, ja. Beginnen bei sich selbst. Lass es einfach fließen und sich zusammensetzen.
So kehrte die Frage zurück, die sie Nils gestellt hatte: „Sag mir wer du bist“, und die Antwort war so absurd wie einfach. Das Böse, das Biest, das Monster?
Mag sein.
Aber es kam ihr nun so vor, als hätte Nils auf Ihre Frage zu ihr aufgeblickt, sie lange angesehen und einfach das Naheliegendste gesagt: „Dein Sohn.“