Oliver Koch

Meine Schreiborte im Wandel

Früher war mein Schreibort festgelegt: Der Schreibtisch.

Schließlich standen dort zunächst meine laute mechanische Schreibmaschine und später mein PC. Wir gut, dass diese Begrenzungen dank Laptop oder Tablet schon längst aufgehoben sind. Und wie schön, dass ich das Schreiben mit der Hand wiederentdeckt habe. 

Samstagmorgen, 9 Uhr. Die Morgensonne scheint auf meinen Balkon. Seit Jahren ist er ein dicht bewachsenes Biotop mitten in der Stadt, eine kleine grüne Lunge jenseits der Balkontür.

Geschrieben habe ich bereits am Frühstückstisch bei einem großen Kaffee, in Stille eines Morgens, an dem alle noch schlafen.

Nun sitze ich in der Sonne, sie scheint morgens und abends auf meinen Balkon, da ist das Licht ohnehin am Schönsten.

Schreiben auf dem Balkon ist aber nicht so einfach bei all der Natur um mich herum, die ich sehen, ansehen, erleben möchte. Es freut mich einfach, hier zu sitzen und mir anzuschauen, was da teils in Dreierreihe wächst und blüht. Mit selbst gestehe ich wenig Platz zu, es reichen ein kleiner Tisch und ein Stuhl inmitten einer grünen Oase.

Ich bilde mir ein, dass die Texte, die ich hier schreibe, anders sind als jene, die ich nicht hier schreibe. Wer weiß.

Dass mir das Schreiben und die Natur und auf meinem Balkon guttun, ist indes unbestreitbar. Ich liebe diesen Schreibort!

Von der Schrulligkeit kostenloser Wochenendzeitungen

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Älterwerden und Altwerden sind glücklicherweise zwei verschiedene Zustände. Dennoch kommt es vor, dass ich mich frage: Werde ich alt? Nicht wegen körperlicher Gebrechen oder Vergesslichkeit, sondern wegen Verhaltensweisen, dir mir, als Älterwerdender, wie die eines Altwerdenden vorkommen.

Eine dieser schrulligen Verhaltensweisen, die sich mir angeheftet haben, ist das interessierte Durchblättern der kostenlosen Wochenendzeitung. Vor ewigen Jahren habe ich sie selbst eine Weile lang ausgetragen. Ich war durch meinen damaligen Wohnort gewandert und hatte fremden Menschen das in ihre Briefkästen gestopft, was im Fachjargon allen Ernstes „Werbeträger“ heißt – also gedrucktes Drumherum, um darin Werbeprospekte zu versenken. Damals war ich erstaunt, dass manche Leute schon in ihren geöffneten Fenstern lagen, weil sie so sehr darauf gewartet hatten. Es gab manche, die sich bei mir beschwerten, dass ich so spät kam. Ein Mensch beschwerte sich sogar bei der Firma über mich. Ich käme erst am Vormittag, dabei vermisste man das Blättchen bereits zum Frühstück. 

Ich fragte mich damals, was diese Menschen nur an diesen kostenlosen Werbeträger-Blättchen finden mochten.

Nun bin ich selbst einer geworden, der sie Woche für Woche durchblättert. Immerhin vermisse ich sie nicht morgens, manchmal ist sie erst Sonntag da statt Samstag, und das ist mir noch immer egal. Aber wenn sie da ist, blättere ich sie aufmerksam durch, lese gar manche Beiträge.

Was ist bloß mit mir los?

Vielleicht einfach gar nichts oder vielleicht eine Menge. 

Früher habe ich diese Druckerzeugnisse respektive Werbeträger mit dem Aufkleber „Keine kostenlose Werbung und kostenlosen Zeitungen“ abgewehrt. Bis die Hausverwaltung entschied, uns allen der schöneren Optik wegen einheitliche Aufkleber zu verpassen – auf denen lediglich „Keine kostenlose Werbung“ stand. Fortan also hatte sich das kostenlose Zeitungswerbeträgerding in meinen Briefkasten und somit in mein Leben geschoben. Nach dem Motto „Wenn sie schon da ist, kann ich auch reinschauen“ muss es irgendwann passiert sein: Gewöhnung setzte ein. Ich mutmaße, das es der gleiche Impuls so vieler Leute sein könnte, abends einfach den Fernseher einzuschalten, um „fernzusehen“ . Und wie stehe ich zu den kostenlosen Wochenendblättchen?

Ich habe mich gefragt, ob sie in den letzten Jahren möglicherweise besser geworden sind – so finde ich zuverlässig Artikel über Orte in der nahen und weiteren Region, die ich anschließend besuchen möchte. 

Auch ist mir das ein und andere Mal eine Veranstaltung in der Stadt begegnet, die ich sonst verpasst hätte.

Mit diesem sonst so geschmähten Medium hat sich also ein praktischer Nutzen verknüpft. Hatte ich früher einfach keinen Sinn dafür, dass ich all das übersehen habe? War ich früher einfach zu jung dafür – als Antithese zur Frage, ob ich nun stattdessen alt werde? Und wenn dem so wäre: Ist das wöchentliche interessierte Blättern in diesen Wochenendzeitungen dann doch nur eine beruhigende Kombination aus positiv besetztem Älterwerden und dem damit verbundenen weiteren Blick auf Welt und Umwelt?

Wer weiß – ich denke, letztlich ist das alles nicht so wichtig. Schließlich mischt sich bei derlei Überlegungen schnell ein Meinungs-Cocktail aus verschiedenen Instant-Zutaten zusammen, die gemeinsam keinen guten Drink ergeben. Es stehen uns nämlich Vorurteile, Werturteile, Meinungen, Ansichten, Befürchtungen ebenso im Weg wie auf der anderen Seite Wünsche, Ziele, Ambitionen. All das zusammengerührt kann man Ego nennen, und das sehen nicht nur die Buddhisten als nicht objektiv, sogar als schädlich kritisch.

Auch dieses Wochenende habe ich mich also dem Printerzeugnis gewidmet und fühlte mich ganz gut damit. 

Womit doch alles gesagt und entschieden ist. 

Mein Beinaheleben in Kamen-Methler

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Ich weiß nicht, wie mein Leben gewesen wäre, hätte ich es ab dem Jahr 1982 oder 83 in Kamen-Methler gelebt. Aber ich dachte erstmals darüber nach, als ich kürzlich auf einer Reise mit dem Zug dort hielt. Fast nämlich wäre es so gekommen. In der Schule dort war ich bereits angemeldet. Angeblich, so sagte mir damals meine Mutter, freuten sich die Jungen der Klasse auf mich, denn es gab dort mehr Mädchen.

Meinem möglichen Leben in Kamen-Methler auf der Spur

Ich finde es nicht eigenartig, 40 Jahre später darüber nachzudenken. In dem Moment nämlich, in dem mein Zug dort hielt, war alles so präsent, dass die Jahrzehnte nur irgendwelche Zahlen waren.
Natürlich ist alles Spekulation eines über 50-Jährigen, der sich einen möglichen Lebensweg seines 11- oder 12-jährigen Ichs vorstellt. Was immer ich mir vorstelle, geht von meinem heutigen Kenntnisstand meines wirklich gelebten Lebens aus. Alles, was im Leben nicht erfreulich verlief, gerät sofort auf die Liste „Was mir erspart worden wäre“. Eigenartig, dass erst später die Liste „Was mir alles entgangen wäre“ wichtig wurde.

Kamen-Methler. Eigenartig, dass wir seit damals immer Kamen-Methler sagen anstatt Kamen. In anderen Städten sagt man auch nicht automatisch den Ortsteil. Ich habe in Osnabrück gewohnt, in Hamm, in Waldbronn, in Karlsruhe. Nie spielte der Ortsteil je eine Rolle. Nie haben wir gesagt, in Osnabrück-Eversburg zu wohnen oder in Hamm-Süden, Waldbronn-Busenbach oder Karlsruhe Südstadt.

Bei Kamen-Methler schon. Vielleicht ist das der Grund der genauen Erinnerung. Die Spezifizierung als Trigger eines Neubeginns, der letztlich zum Beinahe-Neubeginn geworden war.
Wären wir wirklich dorthin gezogen, wäre es mir leichter gefallen als 1985, als wir letztlich nach Hamm zogen. Kamen-Methler war fortan fast vor der Haustür, aber Kamen bin ich nur auf der Autobahn oder im Ikea nahegekommen. Methler habe ich seither niemals wieder betreten.

1982 oder 83 wäre mir der Wechsel zwar nicht willkommen gewesen, aber es wäre in Ordnung gegangen. Ich war noch nicht so gefestigt in Osnabrück, obwohl ich diese Stadt immer so geliebt habe. Ich wäre ein 11- oder 12-jähriger Junge gewesen, der in einen anderen Ort gezogen wäre. Ein Neubeginn wäre nicht einmal ein Neubeginn gewesen, sondern ein Weitermachen unter anderen Vorzeichen. Dass man mich angeblich auf mich freute, hatte es mir einfach gemacht. Es kann gut sein, dass man mir es damals nur gesagt hatte, um mir den Wechsel zu erleichtern. Heute will ich gar nicht wissen, ob dem so war. Wahrscheinlich könnte sich meine Mutter auch gar nicht mehr daran erinnern.

Was wäre aus mir geworden? Schwer zu sagen. Ob ich nach der Realschule dort auch weiter aufs Gymnasium gegangen wäre wie in Wirklichkeit, kann ich nur spekulieren. Schon damals habe ich ständig Geschichten geschrieben, arbeitete an einem Science-Fiction-Roman, dessen handschriftliches Original ich tatsächlich noch besitze. Er blieb unvollendet. Nach einem gewissen Kapitel hatte ich keine Lust mehr, und heute kann ich nicht mehr sagen, wie er hätte weitergehen sollen.

Dass ich mit dem Schreiben in Kamen-Methler aufgehört hätte, kann ich mir nicht vorstellen. Meine Stärke in der Schule ist immer Deutsch gewesen. Das wäre auch dort nicht anders gewesen. Es ist also nicht unwahrscheinlich, dass ich auch dort aufs Gymnasium gegangen wäre, später wie in meinem wirklichen Leben an die Uni. Die Anlagen dessen, was mich heute noch ausmacht, waren damals schon ausgeprägt genug, dass ich sie guten Gewissens prägend nennen kann.
Auch kann ich sagen, was ganz sicher nie passiert wäre: Ich wäre nie in einen Fußballverein gegangen und hätte mich nie für Autos interessiert. Das weiß ich, weil mein Desinteresse daran schon damals ausgesprochen klar war.

Haarscharf am Leben in Kamen-Methler vorbei

Aber hätte ich nicht doch eine Lehre begonnen, weil ich „weg von zu Hause wollte“ oder weil sich eine tolle Gelegenheit bot? Und würde ich noch in der Nähe wohnen?
Mit dem Zug am Gleis stehend, fotografierte ich die Anzeigetafel im Zug, auf der Kamen-Methler stand. Ich fragte meine Mutter später, ob unsere Beinahe-Wohnung in der Nähe eines Gleises lag, doch sie entsprach meiner eigenen Erinnerung: Nein.

Wie kommt es aber, dass Kamen-Methler noch derart präsent sein kann? Weil es so unglaublich knapp gewesen war. Wir hatten bereits eine Wohnung dort. Sie war bereits tapeziert, die Tapete meines Zimmers hatte ich mir selbst ausgesucht. Ich hatte in dem tapezierten Zimmer gestanden und mich gefragt, wo meine Möbel stehen sollten. Das Einzige, was noch gefehlt hatte, war der eigentliche Umzug. Die Trennung meiner Mutter von ihrem damaligen Lebensgefährten kam buchstäblich in letzter Sekunde. Gedanklich hatte ich mich damals bereits ganz auf mein Leben in Kamen-Methler eingestellt.

Überall gibt es Geschichten

Ich bin neugierig, was ich über Methler finden mag, und erlebe einige Überraschungen: Methler hat einen eigenen Wikipedia-Eintrag. Darin ist zu lesen: „Die erste urkundliche Erwähnung des Namens Methler geht auf eine Schenkungsurkunde vom 11. April 898 zurück“ – Donnerwetter. Und es geht noch weiter: „Die Bodenfunde in Westick, einem germanischen Handelsplatz mit hohem Anteil römischen Fundmaterials, weisen aber auf weitaus ältere Besiedelung im Bereich Methler hin.“ Im Hammer Museum kann man sich Funde ansehen. 2006 wurde im Zuge der Fußball-Weltmeisterschaft die spanische Mannschaft in Kamen-Methler untergebracht.

Überall gibt es Geschichten, meine eigene hat einen anderen Verlauf genommen. Meine Geschichte ging bis 1985 in Osnabrück weiter. Wen ich kennengelernt hätte, wessen Freund ich geworden wäre – und ob ich vielleicht sogar bis heute mit mindestens einer dieser Menschen befreundet wäre – wer weiß. Eines jedoch ist klar: Meine Geschichte wäre vollkommen anders verlaufen. Ich hätte andere Erfahrungen gemacht und gewisse Erfahrungen, die mich auszeichnen, dafür nicht. Ich wäre eine Version von mir geworden, die mit mir Heutigem nur die Anlagen gemeinsam hätte.

Kamen-Methler war und ist ein bedeutsamer Abzweig in meinem Leben. So vieles wäre anders geworden, als es jetzt ist. Sich damit zu befassen, ist inspirierend. Es erlaubt einen Blick auf Möglichkeiten und mein eigenes Leben.

Es ist erstaunlich: Während meines Zugstopps sah ich so gut wie nichts. Aber der Name an der Anzeigetafel und später auch auf den Schildern am Gleis öffneten eine Tür zu einer Vergangenheit, die 40 oder 41 Jahre zurückliegt. Das ging ganz schnell. Die Tür öffnete sich, und etwas sagte mir „Schau hin.“ Das Nachsinnen über damals, darüber, wie knapp das Ganze war, und welches Leben ich hätte führen können, dauern indes länger.

Was soll dieses Nachdenken über derart ungelegte Eier? Es zeigt die Mechanik des Erinnerns, denn wie schon erwähnt, war zuerst die Liste mit all den Dingen präsent, die mir erspart geblieben wären. Ist das nicht seltsam, und ist das nicht eine Art von Sehnsuchtsort, den sich nur der ersehnt, der mit dem eigenen Leben unzufrieden ist?

Tatsächlich nicht. Auch diese Erkenntnis gehört zum Nachdenken dazu, und ich bin froh, dass es mich zu ihr geführt hat. Als ich 1985 letztlich nach Hamm zog, war es schwer für mich. Mit 14 hatte ich einen festen Freundeskreis und wollte niemals aus Osnabrück weg und ganz sicher nicht jemals nach Hamm ziehen. Aber Hamm war gut zu mir. Natürlich war die erste Zeit dort schwer, aber schnell schlug ich Wurzeln dort – eine große Hilfe: Mein Schreiben. Es machte mich unabhängig, und genau das war es, was ich damals gebraucht habe. Die Freunde stellten sich ein, ich erlebte großartige Zeiten in Hamm, und nein, ich möchte es nicht missen. Tatsächlich habe ich dort Freunde gefunden, die es bis heute geblieben sind. Meine Geschichte ist auch so gut geworden, und auch wenn es Schwierigkeiten, Niederlagen oder Rückschläge gab, bin ich mit meiner Geschichte ganz zufrieden.

Aber über alternative Welt– und Lebensläufe nachzudenken, auch die eigenen, finde ich einfach interessant. Und warum sollte ich damit fertig sein? Wenn ich die damalige Geschichte schon nicht beginnen konnte, kann ich sie mir jetzt einfach ausmalen. Und dafür habe ich viele bunte Stifte.

Warum ich Twitter doch nicht verlasse

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Fast hätte Twitter mich in die Flucht geschlagen. Wieder einmal. Wieder einmal nur fast.
Dabei habe ich kürzlich gepostet: Ich gebe meinen Twitter-Account auf. Ich sei dafür bei Mastodon.
Nach der Ankündigung fühlte ich mich befreit. Twitter ist Last und Problem. Das war schon vor dem Irrsinn von Elon Musk so. Es gibt für mich viele Gründe, Twitter entnervt zu verlassen.

Zu extrem, zu viel und keine Lust und Zeit

Zu viele extreme Menschen sind dort. Zu viel Agitation, Wut und Empörung gegen alles und jeden.
Zu viel Unsinn. Zu viel Überflüssiges. Twitter hat mich seit 2009 gelehrt, Ironie kaum noch zu ertragen, weil es dort für meinen Geschmack Überhand nimmt.

Aber ja: Mir fehlen auch Zeit und Lust. Das für mich Interessante von dem für mich Uninteressanten zu trennen, finde ich auf Dauer anstrengend. Ich möchte nicht ständig präsent sein oder anderen bei ihrem Präsentsein verfolgen.

Ich poste kaum noch Privates, weil ich Privates inzwischen entweder lieber für mich behalte oder auf anderen Kanälen anders mitteile.

Eine Entfremdung

Wir haben uns entfremdet, Twitter und ich. So war es mir genug – wieder einmal. Und wieder einmal kommen mir Zweifel, je näher der Tag rückt.

Warum? Die Motive ändern sich. Zuletzt fühlte ich mich endgültig davon abgestoßen, dass Elon Musk die Reichweite zahlender Kunden gegenüber nichtzahlenden erhöht – und dabei vor allem Rechte bevorzugt hat. Es war das Tröpfchen, das mein Fass zum Überlaufen brachte. Nicht in Wut oder Verzweiflung. Sondern aus Resignation und Protest. Ich wollte in diesem Umfeld nicht mehr sein.

Da bleiben aus Protest

Warum werde ich nun doch nicht gehen? Aus Protest. Nicht, weil ich glaube, ich hätte wundervolle Inhalte. Sondern weil ich mir sonst selbst sagen müsste, vor Rechten, Wahnsinnigen und Pöblern, aber auch den ganzen Dauerempörten aus allen Ecken zu kuschen. Ihnen einfach ihre Spielwiese zu überlassen, wollen sie doch nur. Endlich wären sie unter sich.

Solche Milieus freut es, wenn sie denken, gesiegt zu haben. Sie beglückwünschen und bestärken sich. Dieses Feld haben sie eingenommen, okay, welches reißen wir uns als nächstes unter den Nagel? Die anderen gehen ja einfach. Damit lässt man Brunnenvergifter weiter Brunnen vergiften.

Ich bin daher zum Schluss gekommen: Ich denke nicht daran, das Feld zu räumen. Zumal es eine Menge anderer Menschen gibt, denen ich folge und sie mir, die wie ich darüber klagen können, dass immer mehr Leute aufgeben. Denen ich gerne folge, deren Inhalte mich interessieren. Denn es gab und gibt dort Tolles!

Aufgeben ist keine Option

Aufgeben? Nein, ich denke nicht daran. Ich ziehe lieber meine Ankündigung zurück als mich vertreiben zu lassen. Mehr noch: Ich habe mir nun sogar vorgenommen, Twitter stärker zu nutzen. Meine Themen dort zu erweitern. Schon aus reinem Trotz. Aber auch, um die vergifteten Brunnen mit anderen Inhalten zu verdünnen, die nichts mit dem ganzen Unfug zu tun haben, vor dem ich fast geflohen wäre
Ich werde auch Mastodon entsprechend bespielen. Und man findet mich weiterhin bei Twitter.

Auf geht’s!

Fluch und Segen der 1000-Seiten-Bücher

Da liegt wieder einer dieser Romane, die man schon wegen ihres Umfangs als Epos bezeichnen muss: 1000 Seiten und mehr sind eine Hausnummer für sich. So begeistert ich mich ihnen auch zuwende, so abgeschreckt bin ich von ihnen. Ich kann mich auf kein einziges von ihnen freuen und freue mich dann letztlich doch über sie, wenn sie mir gefallen. Manchmal ärgern sie mich auch.

Das zeigt: Zu 1000-Seitern habe ich eine innige Hassliebe. Je nach Buch überwiegt das eine oder das andere. Diese Ambivalnz hat verschiedene Gründe.

Gerade die US-amerikanischen Autorinnen und Autoren haben vielen erzählen. Das sollte man ihnen im deutschen Literaturbetrieb oft neiden: Hierzulande ist man lieber karg unterwegs, einen Roman aus Deutschland von mehr als 400, sogar 500 Seiten bekommt man selten zu Gesicht. 

In den USA hingegen kann man offenbar kaum genug von diesen dicken Werken bekommen.

Das hat zahlreiche beeindruckende Roman hervorgebracht, was man von Deutschland nicht behaupten kann.

In den USA herrscht Freude am Erzählen

In Amerika wird gerne mit beiden Händen in den Erzähltopf gegriffen und reichlich Wort auf überlebensgroße Leinwände geschleudert. Das ist eine Freude am Erzählen, die ich in deutschsprachigen Werken vermisse, und das fast ohne Ausnahme. In Amerika scheint man gern immer noch Neues, noch Weiteres hinzufügen zu wollen. Hierzulande hingegen ist man hauptsächlich damit beschäftigt, nicht absolut zwingende Worte zu streichen, um das Ganze so knapp wie möglich zu halten. 

Nun liegt also wieder eines dieser US-amerikanischen Ungetüme auf meinem Tisch. Mehr als 1000 Seiten recht dünn bedruckte Fabulierkunst, nah am und im Leben, wundervoll, beeindruckend. Und es kommt wieder einmal, wie bei mir kommen muss:

1000 Seiten, auch die wundervollsten, haben für mich einen Haken. Sie binden mich wochenlang. Wer Bücher in sich hineinfrisst und 300 Seiten in einer Nacht und 1000 locker nach Feierabend in einer Woche inklusive Wochenende schafft, ist da mir gegenüber im Vorteil.

Ich bin für dieses Netflixen von Romanen nicht geschaffen. Dafür lese zu langsam und lege zu häufig das Buch an die Seite. 200 Seiten am Tag sind für mich zwar nichts Besonderes, aber alltäglich ist es für mich auch nicht.

Beschäftigung für Wochen

Damit wird ein derartiger Ziegelstein eines 1000-Seiten-Romans für mich eine Beschäftigung für Wochen. So gerne ich auch in diese Welten eintauche, fühle ich mich dabei jedoch zu sehr von einem Roman in Beschlag genommen. Und so sehr ich Erzählung, Geschichte und Sprache auch genießen mag, wird es mir zwischen Seite 300 und 400 für gewöhnlich zu viel. Ich mache dann eine Pause, um auch andere Dinge zu lesen: Sachbücher aus verschiedenen Themengebieten vor allem, aber manchmal mogelt sich auch ein kleiner, leichter Roman dazwischen.

Anschließend kann ich wieder entspannt und interessiert zum 1000-Seite zurückkehren und ihn mit Genuss zu Ende lesen.

Natürlich gibt es Ausreißer, sowohl zum Guten wie zum Schlechten.

Es gibt die 1000-Seiten-Schmöker, die ich nicht pausieren kann oder will. Das ist für mich jedes Mal ein Glücksfall, den ich sehr zu schätzen weiß.

Und es gibt die Monumentalbücher, bei denen ich mich schon ab Seite 100 langweile und bereits bei 50 Seiten weiß, dass wir keine Freunde werden. Das sind dann solche Bücher, in denen mir alles nur künstlich aufgeblasen scheint, um auf möglichst viel Umfang zu kommen. Sie lesen sich für mich zäh und interessieren mich schnell nicht mehr. Da fallen mir leider viele Bücher aus dem phantastischen Genre ein …

Der Distelfink von Donna Tart

Von meinem aktuellen 1000-Seiten-Wälzer kann ich das glücklicherweise nicht behaupten: „Der Distelfink“ von Donna Tart ist einfach wundervoll – obwohl ich mich erst einlesen musste. Sprachlich auf höchstem Niveau, erzählt es so literarisch wie unterhaltsam eine Geschichte, die mich begeistert und eine Story, die mich wirklich interessiert.

Die Pause zwischen Seite 300 und 400 schlug bei mir aber auch hier zu. Ich las drei Wochen mehrere Bücher über Sachthemen und eine japanische Novelle. Nun bin ich aber wieder bereit, in die Welt des Distelfinks zurückzukehren. Und wenn es läuft wie immer, lese ich es von nun an auch ohne weitere Unterbrechungen zu Ende. 

Warum ich viele Texte mit der Hand schreibe

Was aussieht wie Abfall, waren einmal Originale meiner Texte. Viele meiner Texte schreibe ich zunächst per Hand mit Füller oder Bleistift auf Papier. Erst anschließend tippe ich sie ab. Dabei übernehme ich sie meist ohne Änderungen. Das Schreiben mit der Hand ist für mich etwas Besonderes. Es ist ein langsameres Schreiben. Tempo und Verwertbarkeit spielen dabei keine Rolle. Dafür konzentriere ich mich auf die Schrift selbst. Jahrzehntelang habe ich sie immer weiter verlernt,  bis mir der Verlust aufgefallen war, den es bedeutete.  Eine eigene Handschrift nicht mehr lesen zu können, kam mir seltsam vor, schließlich kam sie doch von mir. Ich hatte das Gefühl, dass da eine Verbindung unterbrochen war.

Seit Jahren schreibe ich wieder viel mit der Hand. Einerseits ist sie lesbar geworden, andererseits sogar richtig gut – wenn ich mich besonders anstrenge.

Das ist ein nennenswerter Fortschritt, den ich nie erlangt hätte, wenn ich wie all die Jahre zuvor ausschließlich auf der Tastatur geschrieben hätte.

Schrift im Allgemeinen und Handschrift im Besonderen ist vor allem eine Kulturtechnik – in einer Welt voller Technik ist die Gewichtung auf Kultur allein schon ein Wert an sich, den ich pflegen möchte.

Aber das Schreiben per Hand hat für mich noch eine andere Dimension, die sich im geschriebenen Text selbst zeigt:

Ich schreibe anders. Beim Tippen bin ich automatisch schneller mit Gedanken; und bereits schon im nächsten, während ich den vorherigen noch tippe. 

Wenn ich mit einem Stift in der Hand über einem Blatt Papier am Schreibtisch sitze, arbeite ich insgesamt langsamer. Das ist eine gute Eigenschaft, wie ich finde. Ich gehe so weit zu sagen, dass sich meine Texte unterscheiden, wenn ich sie per Hand und auf der Tastatur geschrieben habe. 

Das Handschreiben ist ein ganz besonderer Fokus. Es gibt besondere Themen, die ich in einer besonderen Stimmung nur mit der Hand schreiben möchte. Es fühlt sich anders an, es ist anders, es kommt manchmal etwas anderes dabei heraus. Das ist gut so.

Dass ich die handgeschriebenen Originale nicht aufbewahre, tut der Sache keinen Abbruch.

Die Verbindung vom Schreiben und dem Geschriebenen bleibt erhalten. Und darauf kommt es an.

Dieses Buch ist eine Aufgabe für mich

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Dieses Buch habe ich mir nicht ausgesucht. Es wurde mir zum Begräbnis meines Vaters geschenkt. Anfangs wusste ich nicht, was ich damit tun sollte. Ein Buch des Friedhofs? Ich hielt das für seltsam, ohne mir richtig klar zu sein, warum eigentlich. Nun ist es also schon ein halbes Jahr da und wartet darauf, einen Sinn zu bekommen.
Nun habe ich ihn gefunden.

Der Tod meines Vaters hat viel in mir ausgelöst – vor allem, weil ich an seinem Bett saß, während er starb. Es war das erste Mal, dass ich einen Menschen sterben sah. Auch das hatte ich nicht gewollt, doch schließlich ist geschehen.
War es schlimm?
Tatsächlich nicht – genau das macht es so denkwürdig.

Seitdem habe ich so Einiges über den Tod im Allgemeinen und sein Sterben im Besonderen geschrieben. Einiges davon wurden Gedichte, Haiku sowie Haiku-artige Texte, die sich nicht an das Silbenschema 5-7-5 halten.

Während ich sie über die letzten Monate schrieb, ist mir dieses Buch gar nicht eingefallen, das bei mir lag und dessen Nutzen mir nicht klar war.
Wegwerfen habe ich nicht übers Herz gebracht – es hat eine Aufgabe, einen Sinn. Ein Buch über den Tod achtlos zu entsorgen, kam und kommt mir nicht richtig vor.

Dann wurde mir klar: Dieses Buch hat nur dann eine Aufgabe, wenn es zum Träger dieser Texte wird.
Also werde ich mich hinsetzen und sie handschriftlich übertragen – nicht alle auf einmal, sondern langsam eines nach dem anderen. Die Langsamkeit hat ihren Sinn in der Aufmerksamkeit, die ich dem Schreiben schenken möchte. Ich möchte nämlich so schön wie möglich schreiben.
Dafür muss ich noch ein wenig üben, denn klar ist: Was einmal darin geschrieben steht, bleibt darin. Jeder Fehler, Patzer und Aussetzer wird Teil dieses Buchs bleiben.

Ich möchte mir also alle Mühe geben.

Wissen aneignen, Neues lernen: So mache ich es

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Nein: Es gibt nie genug Wissen, das man sich aneignen kann. Die Welt ist dermaßen vielschichtig, dass sich ständige Aneignung von Wissen immer lohnt – auch und ganz besonders auch bei Themen, die nicht immer deckungsgleich zu eigenen Hobbies und Interessen sind. Den Schritt zur Seite, der Blick nach oben oder unten vervollständigt vielmehr das Verständnis von Welt und Umwelt.

Wie eignet man sich neues Wissen an? Das hat viel mit eigener Präferenz zu tun, aber auch damit, was man am besten verarbeiten kann.

Ich gebe zu: Bei mir sind und bleiben es Bücher und Zeitschriften. Nicht, weil ich so groß geworden bin (was ich bin), und auch nicht aus Liebe zu Gedrucktem (die ich habe). Sondern weil ich damit nachweislich am besten umgehen kann. Beim Lesen bin ich auf besondere Weise aufmerksam und lernfähig.

Das wird auf Dauer teuer, denn die meisten Titel kaufe ich mir selbst. Je nach Buch bevorzuge ich sogar die gedruckten Ausgaben, um mir mit Stift und Handschrift eigene Notizen zu machen. Das geht in eBooks natürlich auch. Aber für mich schrecklich unpraktisch. Doch es ist, wie es ist.
Ich bin ein Bücherfresser, und derzeit ganz besonders. Fast kann man sagen, ich atme sie ein – fast alles Sachbücher übrigens. Romane haben da zunächst Sendepause, und es wird noch eine Weile so bleiben.
Es gibt es so viel zu wissen, und ich WILL es wissen! Am Wochenende las ich ein Buch, in den Tagen davor ein anderes, nun steht das nächste auf der Agenda. Gekauft habe ich mir allein in zwei Wochen fünf Bücher – als eBook.
Man könnte sagen, ich habe ja ordentlich zu tun. Das stimmt. Und ja: Das ist gut so.

Wer schreibt, hat immer zu tun

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Wer schreibt, hat immer zu tun. Denn es gibt immer etwas zu schreiben. Das ist kein Zwang, sondern Leben. Ich weiß nicht, wie es ist, nicht zu schreiben. So wie Entrepreneure für ihr Start-up leben und Gründer für ihr Business leben, gehe ich schreibend durch mein Leben. Das macht einsam? Keineswegs. Es macht mich glücklich.

Vieles von dem, was ich schreibe, bekommt niemand zu sehen. Es kommt auf Sichtbarkeit auch gar nicht an. Es geht darum, am schreiben zu bleiben. Sich hinzusetzen und es zu tun. Nicht, weil es da ist, sondern weil es getan werden muss. 

Schreiben ist handeln, schreiben ist arbeiten. Auch für das Private, für die Schublade, für den Mülleimer. Denn am Ende steht immer etwas, was gelesen wird, das den Weg all dessen genommen hat, das niemand lesen wird. 

Also komme ich nach einem Tag voller schreiben heim und schreibe. Irgendwie, irgendwas. 
Und diesmal entstehen Texte, die bald alle kommen werden. 

Ich bin für etwas da oder: Was heißt schon Talent?

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„Ich bin für etwas da.“ Sagt man sich manchmal ganz gerne, wenn es darum geht, sich sich selbst zu vergewissern. An diesem Punkt ist diese Methode aber auch schon zu ihrer größten Entfaltung gekommen. Das ist unterm Strich eher wenig. Denn was wollen wir uns oder anderen damit sagen? Dass ich ein Talent habe? Eine Bestimmung? Gar die Pflicht, mein Talent meiner Bestimmung gemäß zur Entfaltung zu bringen?

Alter Falter, lassen wir den doch besser auf seinem Zweig sitzen und schütteln uns.

Habe ich Talent? Ja, ich denke schon. Ist es das Talent zum Schreiben? Möglich – aber kommt es darauf an? Fakt ist: Seit 20 Jahren bin im schreibenden Beruf. Seit ich elf Jahre bin, schreibe ich Geschichten und Bücher. Da darf ich eher von Erfahrung sprechen statt von Muse, Begabung oder Talent. 

Mozart hatte Talent, als er keine vier Jahre alt war. Ab dann konnt er’s, vermutlich besser als die meisten, was möglicherweise auch mit seinem Talent zu tun hatte – aber Talent wozu überhaupt? Zur Musik oder zur Mathematik, zu Methodik, Harmonielehre? Vielleicht bestand sein Talent mehr darin, aufmerksamer und lernwilliger gewesen zu sein als andere und damit schneller Fertigkeiten erlernt zu haben, die ihn schon früh über jedes Maß hinaushoben. Verbunden mit frühen Erfolgserlebnissen, die ihn dazu brachten, kontinuierlich am Ball zu bleiben, eine entsprechend frühe, permanente Erziehung durch sein musisches Umfeld und durch ständiges Üben immer besser zu werden, entwickelte sich dieser Mensch zu dem Meister, der er schließlich wurde. 

Was ich damit sagen will: Ich weiß nicht, ob es Mozarts Bestimmung war, erst Wunderkind der Musik und dann einer der größten Komponisten der Musikgeschichte zu werden. 

Die Tatsache, was er wurde, hat eben auch viel mit seinem Umfeld, mit Förderung, Übung und der Gabe zu tun, Erlerntes anzuwenden. Welche weltbewegenden Torten hätte er also kreiert und gefertigt, wenn er in einer Konditorenfamilie hineingeboren worden wäre?

Die Aussage „Ist bin für etwas da“ ist an sich leer und damit wertlos. Dass man dafür da ist, was man beruflich tut oder was einen erfüllt, ist nur so dahingesagt.

Wer weiß schon, was passiert wäre, wenn andere Verhältnisse geherrscht hätten. Wäre ich ein „begnadeter“ Mechaniker oder ein „passionierter“ Physiker geworden, wenn die Dinge anders gelaufen wären?
Habe ich also ein Talent zum Schreiben, oder ist mein Schreiben anderen Tatsachen zu verdanken, die nichts mit Talent, Gabe, Begabung zu tun haben?

Bleibt am Ende gar nichts weiter als die Kombination aus Auffassung, Prägung, Übung, Praxis und Erfahrung? 

Ich weiß es nicht. Und wenn ich ehrlich bin, ist es auch völlig nebensächlich. 

Vatertag für meinen toten Vater

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Heute ist Vatertag 2022. Hätten wir diesen Tag wie immer auch diesmal ignoriert, wenn du noch leben würdest? Nun, da du 3,5 Monate tot bist, denke ich zum ersten Mal daran, dass heute Vatertag ist. Wir haben an diesem Tag nie telefoniert. Haben uns nicht gesehen. Selbst eine Nachricht hat es nicht gegeben. Du fandest diesen Tag immer albern und ich war ganz froh darüber. Es war ein Feiertag, an dem man frei hatte und fertig. 
Als ich dich einmal aus Jux anrief und „Alles Gute zum Vatertag“ ins Telefon trällerte, hast du mich lachend gefragt, ob ich „noch alle auf der Latte“ hätte. 
Der Spaß war gut.

Abgesehen davon ist es uns vor einiger Zeit ergangen wie manchen Paaren in langjährigen Beziehungen: Wir haben uns auseinandergelebt. Das war für beide nicht schön, aber hätten wir es ändern können? In den letzten Jahren hat sich eine Leerstelle in unser beider Leben geschwiegen, die wir bewusst nicht wahrnahmen. Manchmal keimte noch das auf, was vor Jahren verloren ging, aber gleichzeitig auch die Erkenntnis, dass da ein Zug abgefahren war, warum auch immer.

Doch nun, da der Vatertag ohne Vater da ist, halte ich inne. Es fühlt sich seltsam an. 

Der Tod kam immer schneller und schließlich plötzlicher, als wir alle ahnten. Wir hatten keine Zeit mehr für klärende Gespräche. Ich saß an deinem Bett und war bei dir, als du starbst. 

Das merkwürdige Schweigen zwischen uns schweigt seitdem. Dafür tönt die Frage, wie es so weit hat kommen können. Wir haben bis zum Schluss gesprochen, doch alle Worte glühten wie ein Ereignishorizont um ein Schwarzes Loch, das nur du deuten konntest, wenn überhaupt.

Habe ich all die Fragen gestellt, die nötig gewesen wären? Hättest du all die Antworten geben wollen, auf die ich gewartet habe? Hättest du sie selbst gehabt?
Wer weiß.

Seitdem frage ich mich viele Dinge und weiß doch auch, dass es zu spät ist. 
Wieder halte ich inne. Denn diese beiden Worte dröhnen: Zu spät.

Würdest du heute noch leben und wärst nicht so krank geworden, hätten wir diesen Tag wie immer vorbeiziehen lassen. 

Würdest du heute mit deiner Krankheit noch leben: Ich hätte angerufen. Hätte sorgsam das Wort Vatertag vermieden, aber ich hätte angerufen, denn es war ja klar: Der Krebst würde dich bald umbringen. In solchen Zeiten überspringt man die Kluft, die trennt. 

Aber ich rufe dich heute nicht an. Der Krebs hat dich geholt, am Valentinstag, ausgerechnet. 

Deine Handynummer ist noch eingespeichert, und riefe ich an, träfe sie auf …

Heute ist also Vatertag 2022. Wenn du noch leben würdest, hätten wir diesen Tag nicht wie immer ignoriert. Du hättest dich gefreut über meinen Anruf. 

Für den es nun zu spät ist. So ist heute ein besonderer Vatertag. Vermutlich der erste von vielen.

Erzählung „Mach schon“ komplett im Blog lesen

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Die Welt unter ihm ist klein. Ängstlich sieht er hinab, wo sie stehen und zu ihm hinauf rufen: „Mach schon!“ 
Er will nicht, er kann nicht, aber es nicht zu tun wäre zu peinlich.
Sie blicken zu ihm hoch, dem die Kehle trocken ist und die Luft zum Atmen fehlt, der im Wind hier oben friert, und der nur eines will: umkehren.
„Nun mach schon!“ rufen sie wieder. Es ist doch nicht schwer. Sagen sie da unten. 
Für ihn aber schon. Und er schämt sich dafür.
„Los jetzt! Nun mach endlich!“ 
Warum sind sie nicht einfach still, seine Freunde, die ihm dabei zusehen, wie er ängstlich am Rand des 10-Meter-Bretts steht, wo der Wind pfeift und die Welt schrecklich überschaubar ist. Um ihnen zu beweisen, kein Feigling zu sein, ist er entschlossen den Sprungturm hinauf geklettert, um eigentlich vom 5-Meter-Bett zu springen – doch es war voll, hinter ihm hat ihn die ungeduldige Schlange weiter hinaufgedrängt, am geschlossenen 7-Meter-Brett vorbei, als ihm immer schwindelig wurde und der Beton am Fuße der nassen Stahlleiter  mit jedem Zentimeter an Härte gewann.
Nun blickt er auf das Becken herab – eine Unendlichkeit unter ihm, nichts weiter als ein kleines blaues Quadrat, um das die Massen tosen und Neugierige darauf warten, wie die Mutigen sich aus großer Höhe hinabstürzen. Augen wie Speere sind auf ihn gerichtet. Jenseits des Kreises der Neugierigen macht jeder, was er will. Da wird geplantscht und gebadet, getaucht und vom Beckenrand geplumpst, und über die Wiesen ringsum liegen sie in der Sonne, tollen, lesen, schlafen, kuscheln und knutschen.
Die Welt ist klein und unwirklich von hier oben, er kann das Dach des Supermarktes sehen, in dem sie immer einkaufen. Wie gern würde er jetzt aus dem Ford steigen, in dem ihm so oft schlecht wird und sich so schnell übergeben muss, weshalb seine Eltern immer Plastiktüten dabei haben, und sein Vater sagt „Ich versteh das nicht, du bist der einzige Junge, der Autofahren nicht verträgt“, doch jetzt würde er lieber gegen den Würgereiz kämpfen oder mit flauem Gefühl auf dem Parkplatz des Supermarktes stehen statt mit seiner Angst.
Jemand nimmt Anlauf, jagt an ihm vorbei und springt hinab, als würde ihn einen halben Meter tiefer ein großes weiches Kissen auffangen.
Staunend sieht er seinem endlosen Fallen zu und wartet Ewigkeiten auf das erlösende Klatschen des Wassers. Gischt und Jubel branden herauf.
„Jetzt mach doch endlich!“ ruft Martin. „Es ist doch nichts dabei!“
Nichts dabei wie Fußball spielen. Das kann jeder Junge, das macht jedem normalen Jungen Spaß. Den Vätern und deren Vätern hat es Spaß gemacht, sie sitzen vorm Fernseher und rufen, wie schön der Pass oder wie schlecht die Vorgabe war. „Gib ab! Gib ab!“ brüllen sie, nur er weiß nicht, an wen und warum, obwohl er es wissen soll, und hin und wieder zieht sein Vater oder ein Nachbar ihn bei einem Fußballspiel im Fernsehen aufs Sofa und sagt: „Guck doch zu, das ist ein tolles Spiel!“
Dabei wäre er lieber in seinem Zimmer oder auf einem anderen Planeten oder sonst wo.
„Du Pfeife, geh an die Seite“, ruft jemand hinter ihm, und er erschrickt. Der blonde Junge ist riesig, größer als sein Vater, und das 2 Meter breite Betonbrett erzittert unter jedem seiner donnernden Schritte. 
Im Taumel ergreift er das Geländer an der Seite, das nass und kalt ist trotz der Sonne, die Vibration der Schritte erfasst seine Hände, es ist, als sei das Geländer nur aus Draht und wird gleich nachgeben, aus dem Brett brechen und er hinterher fallen und schließlich auf den Betonplatten des Bodens aufschlagen, auf dem Spritzwasser und nasse Fußabdrücke verdampfen, das Zittern geht ihm durch Mark und Bein, dann stürzt sich der Blonde die hundert Meter tiefen zehn Meter hinunter. 
Er weicht zurück. Ganz hinten kann er die Schule sehen, deren graue Wände in der Hitze flirren, das Fenster des Chemieraums blitzt aus der Ferne. Er braucht fast eine halbe Stunde dorthin von daheim, es ist ein weiter Weg, jetzt scheint sie nur ein Steinwurf entfernt.
Ihm ist kalt, seine Haare richten sich auf, dass seine Arme und Beine aussehen wie mit Hühnerhaut bezogen. Es ist ihm egal, was die anderen sagen, er muss fort, als wäre er im Wohnzimmer bei einem Fußballspiel oder säße hinten im Auto, während seine Übelkeit hinaufgurgelt.
Sollen Martin und die anderen doch lachen und morgen in der Schule erzählen, wie feige er hier war – er würde das Gefühl, ein Idiot zu sein, hinunterschlucken, die grinsenden Gesichter ertragen und hoffen, dass in zwei Tagen niemand mehr darüber spricht.
Sie reden ohnehin genug: darüber, dass er so lange kein Fahrrad fahren konnte, sie haben dabei gestanden und gelacht, als er mit seinem Gleichgewicht rang, sein Vater „Mach schon, fahr einfach!“ rief und auch, als er letztlich doch wieder daran gescheitert war, sich auf dem Rad zu halten. Martin und Frederik standen da schon mit ihren neuen Rädern, und sein Vater schaute ihn einfach nur an. „Wovor hast du eigentlich immer Angst?“
Er wusste es nicht.
Die Radfahrübungen sind noch heute einen Lacher wert, obwohl es schon Jahre her ist – er kann also nicht anders, er muss springen, allen Mut zusammennehmen. 
Doch alles scheint zu wackeln, denn da jagt erneut jemand an ihm vorbei und stürzt ins blaue Wasserquadrat, nur er selbst kann es noch immer nicht, er ist nicht wie die Großen, die sich ohnehin wundern, warum so ein kleiner  Knirps hier oben steht, der noch weit davon entfernt ist, eine Freundin zu haben und der den Großen in der Schlange am Kiosk nur Platz und Zeit raubt.
Er geht zur Leiter – und sieht mit Schrecken viele Jungen und Männer, die nach oben wollen, die sich an dem nassen Metall festhalten und ihn zweifelnd ansehen. „Was soll das denn?“ ruft einer. „Hier geht’s nicht runter!“
„Ich muss runter“, wimmert er. „Ich muss hier runter.“
„Nein, das geht nicht! Glaubst du etwa, wir gehen jetzt alle wegen dir zurück?“
„Hast du Schiss oder was?“ höhnt ein anderer.
Er nickt nur.
„Das hättest du dir vorher überlegen sollen“, meint der andere. „Jetzt ist es zu spät. Mach, dass du runterspringst.“
Ihm steigen Tränen in die Augen. „Lasst mich runter“, die Silben brechen hervor wie aus Eis, und der Wind greift nach ihnen und trägt sie fort, ehe sie jemand richtig hört. 
Alle sehen zu ihm hinauf, klammern sich an der Stiege fest, weiter unten rumort Gerede, was denn da oben los sei, und unterhalb der Treppe stehen sie auch schon Schlange.
Niemand wird ihn gehen lassen. „Man kann sich nicht immer alles aussuchen“, das sind diese Sprüche, für die man Väter hasst, wegen denen man Vätern aus dem Weg geht, die einfach immer nur Dinge sagen, um einem ein schlechtes Gefühl zu geben. Mütter sind da anders. Die sagen „Ist schon gut“, die führen einen fort oder lassen einen gehen, aber Väter stehen immer nur da wie eine Mauer, Blick und Tonfall fordernd. „Mach schon.“ Feigling. Versager. Spring gefälligst. Jeder Tag ist ein Sprung ins kalte Wasser, man darf sich nicht so anstellen.
Heute Abend wird gegrillt, und da wird Martin verraten, dass er sich nicht getraut habe. Wieder einmal. Seine Mutter wird sagen, dass das auch vernünftig war – aber seltsam ist es schon: Oft wenn die Mütter sagen, man sei vernünftig gewesen oder „es ist schon gut“, schwingt da eine Frequenz mit, legt sich ein Schatten in die Gesichter, gibt es einen kurzen Blick zu den Vätern, wenn es heißt „Er ist halt so“.
Er muss springen. Er will den Triumph genießen, dem Blick seines Vaters standzuhalten, oder gar ein „Gut gemacht“ von ihm zu hören – mit ähnlichem Ernst, wie es Mütter sagen, man ein schönes Bild gemalt oder zu Weihnachten eine tolle Papierlaterne gebastelt.
Die Welt unter ihm ist nicht mehr klein, sie versinkt im Grau. Er dreht sich einfach um und geht an den Rand. Er sieht Martin, Frederik und die anderen, schickt ihnen allein mit dem Blick ein „Na wartet!“ nach unten, denn er wird sich trauen im Gegensatz zu ihnen, und während er das Bewusstsein genießt, besser und mutiger zu sein als sie je sein werden – denn sie hatten nicht den Mut hinaufzugehen – folgt er seinem Körper hinab, der einfach gesprungen ist. 
Die Verblüffung lässt ihn sofort in seinen Körper zurückkehren. Sein Atem wird aus seiner Brust gepresst, seine Lider flattern. Er kann nichts sehen, obwohl er die Augen geöffnet hat. Der Wind zerrt an ihm, er pfeift brennend zwischen seinen Pobacken, bringt seine Badehose zum Flattern, als wolle er sie zerreißen, die Gedanken sind abgeschaltet, zu unwirklich ist der Sturz.
Er dauert ewig. Fünfzig Meter, hundert Meter. Da ist kein Vater, kein Martin und kein Benedikt, kein Rufen und kein Schreien. Da ist nur Fallen und die Gewissheit, zu fallen. Endlos. 
Dann explodiert die Welt.
Ein Schlagen löst das Pfeifen ab, dann ein Rauschen, als bräche die Erdkruste auseinander. Rauschen und Gurgeln, überall, ohrenbetäubend.
Er wird verschlungen, taucht immer weiter, und dann, als das pfeilschnelle Sinken ein Ende hat, trudelt er in einem Kosmos von Luftblasen, die in jeden Winkel seines Körpers krabbeln, zwischen seinen Haaren ebenso kitzeln wie in seiner Hose. Es sind Millionen kleiner Tierchen, die seine Haut bevölkern, für Sekundenbruchteile Kolonien gründen und sich blitzartig wieder auflösen, um in wahllosen Gruppen oder einzeln an die Oberfläche zu trudeln und ihn mit nach oben tragen, ohne dass er etwas tun muss. 
Schließlich speit die Tiefe ihn aus und die Sonne hat ihn wieder. Das Wasser um ihn schäumt und brodelt, es drängt über den Beckenrand zu den Füßen der Neugierigen. Da hört er Jubel. Er wischt sich das Wasser aus den Augen, während der Schmerz seiner Fußsohlen in ihm hinaufklettert, und sieht alle Augen auf sich gerichtet. Auch Martin und Frederik stehen da, daneben Julia und Christine, die zum Beckenrand kommen, und er weiß, dass niemand von ihnen sich das getraut hätte, was er soeben gewagt hat. 
Er und Feigling? Er und unentschlossen? Während er zum Beckenrand schwimmt, sieht er seinen Vater vor sich, einen „Gut gemacht“-Blick, aber auch das Erstaunen, dass sein Sohn sich Erstaunliches getraut hat. Angst? Er? Vor was? Ich bin gut. Ich bin klasse! Ich bin der einzige in der Klasse, der je vom 10-Meter-Brett gesprungen ist, das machen immer nur die Großen. Und bei jeder passenden Gelegenheit kann er sagen – oder sagen lassen! – dass er es wirklich getan hat.
Ab sofort ist er nicht mehr der komische Junge, der sich in sein Zimmer zurückzieht und irgendwas Seltsames macht, sondern er ist der Junge, der sich ENTSCHLOSSEN hat, in sein Zimmer zu gehen, weil er es WILL.
Er greift nach dem Beckenrand und sieht den Sprungturm hinauf. Unglaublich, diese Höhe! Da oben hat er eben gestanden.
Beseelt steigt er aus dem Wasser, er sieht die verdutzten Blicke der Leute, die sich nicht vorstellen können, dass ein Junge mit elf Jahren von so weit oben gesprungen ist. Schließlich stehen Martin und die anderen neben ihm. Martin sieht ihn an, für eine Sekunde ist Schweigen. Zwei Sekunden, drei. Je länger das Schweigen dauert, umso größer wird der Erfolg. „Hat ja lang genug gedauert“, sagt Martin da. „Hattest du Schiss oder was?“
Er kann nicht antworten.
„Mann“, beginnt Frederik, „da raufgehen und runterspringen ist doch wirklich kein Ding. Du hast den ganzen Verkehr aufgehalten.“
Tonlos starrt er Christine an, die keine Mine verzieht. „Warst du feige, oder was?“ fragt sie.
„Das ist echt hoch“, rieselt wie Kies aus seinem Mund. „Und rutschig.“
„Die haben voll rumgemault, weil du da oben nur rumgestanden hast“, sagt Martin. „Das ist doch voll peinlich.“
„Die waren echt total sauer“, meint Christine. 
Schlagartig sieht er seinen Vater vor sich, eine Mauer der Enttäuschung, der ihn heute Abend beim Grillen fragen wird, warum er nicht an die anderen Leute gedacht hat. Dass er immer nur in der Gegend herumträumt. Und warum er überhaupt hochgeklettert sei. Er kann ihn regelrecht hören, wie er sagen wird „Hast du es so nötig, vor anderen Leuten anzugeben?“ Warum wird dir im Auto immer schlecht, warum sitzt du immer in deinem Zimmer, warum kannst du nicht so gut rechnen oder Ballwerfen wie malen, warum kletterst du da hoch und machst dich zum Affen? Wann fängst du endlich an, über dich hinauszuwachsen?
Die vier sehen ihn an, dem die Kehle trocken ist und die Luft zum Atmen fehlt, der im Wind hier unten friert, und der nur eines will: umkehren. Nach Hause, in sein Zimmer. Oder einfach auf dem Weg nach Hause mit dem Fahrrad rechts abbiegen und durch die Gegend fahren, allein. Ganz egal. 
„Wir wollen uns ein Eis holen“, sagt Martin. „Los, lasst uns gehen.“
„Aber“, meint Frederik grinsend, „mach schneller als da oben.“
Auf Eis hat er eigentlich keine Lust mehr. Aber jetzt nach Hause zu fahren wäre noch viel peinlicher als nicht von oben zu springen. So setzt er sich in Bewegung.
Und folgt.

„Der Hund“ – mysteriöse Erzählung

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Müde hebt der Hund den Kopf, sonst wäre er ihm nie aufgefallen. Er wäre einfach auf die Straße gegangen, deren eigentümlicher Geruch ihn gefangen nahm wie die fremden Laute dieser fremden Stadt. Nicht nur die Stadt ist ihm fremd, auch das Land, die Sprache, all das, was man Kultur nennt. Da ist diese Mischung aus Neugier und freudiger Erwartung, hinter jeder Straßenecke Neues zu entdecken, und der Furcht, vor dem Neuen zu erschrecken. Er fürchtet, hier viel Abstoßendes zu finden und sofort sagt er sich, so nicht denken zu dürfen. Es ist eines gebildeten Westlers nicht würdig, auf diese Gegend herabzublicken, wie auch auf all die anderen Gegenden der Erde, die sich ähnlich zeigen wie dieser lärmende, von ungewohnten Gerüchen getragene Fleck. Nichts, was er an Sprache hört, ist ihm vertraut. Dabei klingt sie harmonisch, doch kann er wissen, ob jemand über Eheprobleme redet oder über den Sex von gestern oder über die Freude auf das Kino heute Abend?

All dies rumort und wimmelt schon länger, als er selbst auf der Erde ist, und es wird, so ist zu vermuten, noch so weitergehen, wenn er nicht mehr leben wird.

Er weiß genau, was er in Restaurants bestellen möchte, um das Besondere dieses Weltteils kennenzulernen und weiß auch, auf was er lieber verzichten möchte.

Wohin er seine Augen richten soll, erschließt sich ihm nicht, da ihm jedes Staubkorn fremd ist, wäre da nicht eben dieser Hund gewesen, der den Kopf hob. So beiläufig die Bewegung ist und so viele Köpfe ausgemergelter Straßenhunde sich hier auch in die Höhe recken mögen, so bedeutsam ist diese Bewegung für ihn. Es ist, als hebe das Monster von Loch Ness eines Morgens im Frühling, an dem der Tau noch an den kühlen Gräsern zittert, mit einem Mal den Kopf aus dem Wasser, einfach, um sich umzusehen und ihn die Frage stellen zu lassen: „Warum ich? Warum passiert es ausgerechnet mir, dass es sich zeigt und das Geheimnis seiner Existenz lüftet?“

So blickt er also hinüber zu dem Hund, der dort im Staub der Straße liegt und nichts weiter tut, als seinen Kopf gehoben zu haben und ihn anzublicken. Anders als die anderen Tiere hechelt er nicht, liegt einfach in der Sonne, als sei die Hitze und das Brennen nichts, was ihn belasten könnte. Auch aus der Entfernung von gut zwanzig Metern ist ersichtlich, dass der Hund nur Augen für ihn hat. Unter normalen Umständen hätte er den Glauben gehabt, der Hund habe zufällig seinen Kopf erhoben und ihn sind Auge gefasst. Oder dass der Hund lediglich in seine Richtung blickte, ohne ihn zur Kenntnis zu nehmen – doch er ist sich der Tatsache bewusst, dass der Hund, der keine Anstalten macht, sich aus dem Staub der Straße zu erheben, ihn, genau ihn und nur ihn anblickt, und dass er wegen ihm und nur wegen ihm den Kopf gehoben hat, als habe er gespürt, dass er auf die Straße tritt und es nun an der Zeit sei, Kontakt aufzunehmen.

Der Hund interessiert ihn. Kurz bleibt er stehen, um den Verkehr an sich vorbeiziehen zu lassen, lautes Geknatter eines Motorrades, so fremd und hell und laut und dröhnend, wie sie nur in Ländern wie diesen zu klingen scheinen, als seien sie hier aus anderen Dingen gemacht oder führen mit anderen Mitteln. Er hält sich das linke Ohr zu und merkt, wie er unter dem Lärm sein Gesicht verzieht, ohne den Hund auch nur für einen Moment aus dem Blick zu nehmen.

Der Hund ist der hässlichste Hund, den er jemals gesehen hat. Doch gleichzeitig ist da etwas anderes. Die Unterernährung, die die Körper aller Hunde hier ins Erschreckende auszehrt, verleiht dem Hund dort drüben Anmut, Würde, Ebenmaß. Das Fell, so schmutzig und verschlissen wie ein alter Sattel nach einem Reiterleben voller entbehrungsreicher Schlachten, wirkt wie angepasst an die dünnen Knochen der beiden Beine, die der Hund nach vorne streckt, in Majestät der Sphinx überlegen. Was einst Farbe war, ist nun ein Hort von Schmutz und Narben, die der Hund in stoischem Stolz wie Abzeichen trägt. 

Er springt erschrocken einen Schritt zurück, als ein Fahrrad an ihm so nah vorbeischießt, dass er den Fahrtwind spürt und riecht, begleitet vom Fluchen des Fahrers, der sich nicht umdreht. So ist er froh, als er den Blick des Hundes wiederfindet, der seine Ohren nach vorn stellt wie eine Krone. Dann steht er vor ihm. Kaum, dass er zum Tier herunterblickt, geht er in die Knie. Der Blick von oben scheint ihm nicht adäquat, und so folgt der Blick des Hundes seinen Augen hinab, ohne dass der Schwanz sich regt.

Von Nahem sind die Augen ganz besonders. Ich habe auf dich gewartet, scheinen sie zu sagen, getragen von dem Wissen, dass es eines Tages so hat kommen müssen. Geduld liegt in ihnen wie in der ungefragten Frage, die sie stellen. Fast hört er eine Stimme in sich, so geschlechtslos wie deutlich, die dem Tier erwidert: Ich weiß.

Er hat nie einen Hund besessen und weiß nichts von der Ebene, die sich entfaltet zwischen Tier und Mensch, doch nun ist es ihm, als habe er diese Ebene nie verlassen und beuge sich zu einem alten Vertrauten nieder, der auf ihn gewartet hat.

Er kennt den Namen des Hundes nicht, doch das spielt keine Rolle. Der Blick in die Augen des Tiers genügt, die von außen betrachtet nichts anderes sind als die Augen eines beliebigen Hundes, dunkelbraun, fast schwarz, in ihren Spiegelungen kann er sich selbst erkennen, doch da ist mehr, und sie beide wissen es.

„Kommst du mit?“, fragt er den Hund, und der erhebt sich augenblicklich. War es der Tonfall, den der Hund verstanden hat, denn wer sollte hier seine Sprache sprechen, zudem zu einem Hund, den hier die meisten Köter nennen, weil er in ihren Augen nichts anderes tut als Essen zu stehlen, zu betteln und zu belästigen?

So steht er auf und macht sich auf den Weg mit dem Gefährten, der nicht von seiner rechten Seite weicht. Die Straßen werden schmal und eng, sobald man einmal von der Hauptstraße abbiegt, Häuser schmiegen und ducken sich, Eingänge gähnen wie müde Mythengestalten, schnell wird das Gewirr zur Stille, dass er nun hören kann, wie die Pfoten des Hundes neben ihm auf den Steinen tappen. Eigentlich hat er dem Tier etwas zu essen kaufen wollen, in einem der zahlreichen Geschäfte, die sich bunte Höhlen durch die Mauern geschlagen haben. Früchte überall, in allen Farben, es ist so überraschend, was es hier alles gibt, wo er zu Beginn seiner Reise noch darüber staunte, dass es hier so viel Gewohntes nicht zu kaufen gibt, als habe man davon noch nie gehört, was bei ihm Zuhause heimisch, üblich, nötig ist. Ein Land des Mangels, so dachte er noch, als er das Hotel verließ, wie hat es ihn nur in diesen Teil der Welt verschlagen können, doch entrollt sich immer mehr eine Welt der Überflusses und des Reichtums. Die Gerüche werden stärker, je weiter er scheinbar der Nase nach schlendert, spaziert, flaniert. Er ist nicht mehr der Businessmann, der morgen im Auftrag seiner Firma Termine in einem dieser Glashochhäuser mit ihren klimatisierten Räumen wahrnehmen muss und sich darüber ärgern wird, dass es darin zu kalt ist. Es ist immer so. Draußen will die Sonne die Welt verbrühen, seit Jahrtausenden leben diese Menschen hier schon mit dieser Hitze und all der Sonne, die unweit von Flüssen und Seen die Böden verdorrt, doch kaum haben Menschen anderer Breiten Klimaanlagen erfunden, kühlen sie ihre Räume herunter, als gälte es, Pinguine zu züchten.

Hier lebst du also, sagt er ohne Stimme dem Tier neben sich, und wie zur Antwort blickt es auf und blinzelt.

Als es still wird, bleibt er stehen. Kurz keimt Angst auf, denn wo ist er bloß und warum ist er überhaupt hierher gekommen? An diesem Ort befindet sich nichts außer ein paar lang verlassener Häuser. Ein schmaler Gang führt in eine enge Schlucht, in die, da ist er sicher, noch nie das Licht des Tages fiel. Der Boden ist seit jeher festgestampfte Erde. Kein Laut ist zu hören. Es ist, als habe sich eine Kuppel über sie gestülpt.

Hund und Mensch blicken sich an. Für den Hund ist es normal, hier zu sein. Nichts an seinem Auftreten zeugt von Wachsamkeit. Wo nur ist die ganze Stadt geblieben? Er schaut auf seine Schuhe herab, Lederschuhe, nicht gemacht für diese Gegend. Sie sind so staubig, dass er ihre Farbe nicht mehr erkennt. Staub besetzt seine Anzughose, die jede Eleganz verloren hat. „Sieh dir das an“, sagt er dem Tier, und es schaut ihn an, als wäre nichts dabei. 

Er fragt sich, wann zuletzt ein Mensch hier vorbeikam, denn auf dem Boden finden sich weder Spuren von Reifen noch von Sohlen. 

Der Hund legt sich nieder, erneut erscheint er wie eine Sphinx, den Blick in aller Ruhe auf die schmale Gasse vor ihnen gerichtet.

Er folgt dem Blick des Hundes und weiß: Keinen Fuß wird er in diese Gasse setzen. Vorstellungen beginnen zu gären, keine davon ist gut. „Ganz sicher nicht“, lässt er den Hund wissen. Es ist nicht gut, weiterzugehen, wenn sich der Weg vor einem so verengt. Außerdem macht es ihm Angst, wie dunkel dieser schnurgerade Gang ist, der irgendwo in Dunkelheit mündet.

Der Hund macht keine Anstalten, aufzustehen, und so setzt er sich im Schneidersitz zu dem Tier auf den Boden. In den Augen des Hundes funkelt Weisheit, die so alt ist wie die Menschen selbst. Das kann natürlich nicht sein, es ist ein Tier, sagt er sich. Doch er merkt, dass es die Wahrheit ist. Es ist kein Zufall, dass er den Hund traf – oder der Hund ihn, wer kann das sagen, und spielt das eine Rolle? Ab und zu huscht ein Lid über die Hundeaugen. Es ist das erste Mal, dass er das Gefühl hat, vollständig erkannt zu werden, jenseits aller Worte. Die Vertrautheit ist so absolut wie unhinterfragt. Er sitzt da im Wissen mit dem Tier im Staub, als würden sie sich seit Ewigkeiten kennen. Es ist anders als bei all den Menschen, denen er sich im Leben anvertraut hat oder sie sich ihm. Es ist kein Wollen, kein Treiben in diesem Blick. Stattdessen ruht da eine Harmonie im Blick, die nichts ausspricht und alles sagt. 

Er streckt die Hand nach dem Tier aus und berührt seinen Kopf. Das staubige Fell ist weicher als gedacht, und der Hund sieht ihn an, lässt es ohne Scheu geschehen.

Schließlich legt er seine Hand an die Wange des Tiers, das daraufhin die Augen schließt und den Kopf in die geöffnete Hand schmiegt, als habe es darauf gewartet. Tief holt er Luft und stößt sie langsam wieder aus. „Ach Hund“, sagt er gerührt, mehr von dem, was in ihm aufkommt als von dem, was gerade geschieht. „Warum kenne ich dich?“, flüstert er. „Kenne ich dich?“

Nichts daran erscheint ihm seltsam, und er nimmt es hin, dass bislang ungenutzte Seile etwas aus der Tiefe seiner Seele heben, das er selbst nie erlebt hat und doch weiß, dass es zu ihm gehört.

Er fragt sich nicht, wie kann das sein? Im Geschehen selbst weiß er, dass es so ist.

Wir kannten uns einmal sehr gut, denkt er. Und umfasst den Kopf des Hundes zärtlich mit beiden Händen.

Und dann sitzt er im Taxi. Ein frischer Anzug, saubere Schuhe, seine Tasche mit den Unterlagen neben sich, die der Klimaanlage besser trotzt als er.

Er sieht den Fahrer im Profil, sieht die Stadt an sich vorüberziehen, blickt auf seine Uhr. In einer Stunde ist sein Geschäftstermin. Durch das Treiben draußen auf den Straßen suchen Streuner etwas zu Essen, werden verjagt. Sie leben ein Leben auf der Flucht vor Schlägen und Tritten und kämpfen täglich gegen Hunger. Finden sie etwas zu fressen, verschlingen sie es, beißen sich um kleine Brocken. Und erst jetzt beginnt er, über gestern nachzudenken. 

Das Tier ist aufgestanden und ist wieder zurückgetrottet, ohne sich umzublicken, als wisse es, dass er ihm folgen wird. Es schien, als wollte ihn der Hund wieder zur Straße lotsen, auf der sie sich begegnet waren, und als die Autos und Räder zu hören und zu sehen waren, blieb der Hund stehen, blickte sich einmal kurz um, dann nahm er seinen Weg nach rechts in einen schmalen Gang und war verschwunden.

„Warte“, hat er dem Hund noch hinterhergerufen und nahm laufend einige Meter, um ihn noch einmal zu sehen – doch der Gang, in den das Tier verschwunden war, war nur ein Spalt in der Mauer, zu eng, um hindurchzupassen. Er sah nur Licht von der anderen Seite, unbestimmt und ohne Konturen. So blieb ihm nichts übrig, als auf die Straße zu treten und in sein Hotel zu gehen. 

Als der Taxifahrer etwas ausruft, blickt er gedankenverloren hoch und muss sich ordnen. Er bittet um einen Moment, in dem er die Gedanken beiseite schieben und sich auf seinen Termin konzentrieren kann. Die Uhr tickt, und so greift er schließlich seine Tasche, zahlt und tritt in die Hitze hinaus. 

Das Intermezzo war vorbei, und er konnte nicht mehr sicher sein, es überhaupt erlebt zu haben. Doch die Augen dieses Hundes: Er könnte schwören, er habe sie erkannt und sie ihn, als ginge es um ein Wiedersehen oder etwas anderes, wer weiß das schon? Doch jetzt ist nicht Zeit, darüber nachzudenken. Er konzentriert sich auf seine Aufgabe. Für alles andere hat er noch ein ganzes Leben Zeit. 

Meine SF-Story „Bleib bei mir“ komplett bei Spektrum der Wissenschaft online lesbar

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Als meine Science-Fiction-Story Bleib bei mir in der Rubrik Futur III der April-Ausgabe 2020 von Spektrum der Wissenschaft erschien, war ich natürlich sehr froh und dankbar. Es war meine erste Magazin-Veröffentlichung überhaupt. Wer die Story lesen wollte, brauchte entweder das gedruckte Heft, die digitale Ausgabe oder einen kostenpflichtigen Zugang zu Spektrum.de.

Das ist inzwischen anders, denn seit einer Weile ist die komplette Story kostenlos und ohne jeden zusätzlichen Account frei lesbar. 

Es freut mich, dass meine Story damit allen Interessenten offen steht. Da ich keine eigene, zusätzliche Veröffentlichung direkt im Blog plane, wird meine Story auch exklusiv bei Spektrum der Wissenschaft lesbar sein. 

In der Rubrik Futur III veröffentlicht Spektrum der Wissenschaft in jeder monatlichen Ausgabe eine SF-Story – dabei wechseln sich Übersetzungen und Stories deutschsprachiger Autorinnen und Autoren ab. Viele der Stories stehen inzwischen komplett und kostenlos online zur Verfügung. Wer  also SF aus Deutschland lesen möchte, wird hier fündig. Und findet auch meine SF-Story.

Science-Fiction-Story Bleib bei mir jetzt lesen. 

 

Der Wind von Irgendwo – Kapitel 15: Der Wind von Irgendwo komplett lesen

Mystery-Roman von Oliver Koch

Der Wind von Irgendwo von Anfang an lesen
Erst Kapitel 14 lesen

Die Corrin-Höhle kam immer näher. Die Gruppe der Zwölf bewegte sich auf das zu, was ihr Leben seit Generationen bestimmt hatte, und sie waren sich der Tragweite dessen bewusst, was sie taten.
Die Corrin-Höhle! Inbegriff einer Angst, die sich nie hatten erklären können, einer Angst, die nur mit der Existenz der Höhle selbst erklärt worden war.
Doch was erschafft eine Angst, die niemandem etwas antut, eine Angst vor einem nebulösen Etwas, das irgendwo in einem Teil des Gehirn pocht und nur in den Träumen auftaucht? Dieses Etwas, das über allem lag und in allem steckte und sie geißelte, das aber niemals in Erscheinung trat? Was war dieses Etwas? Und wenn es dieses Etwas gab, steckte es wirklich in der Höhle, und wenn, war es unbesiegbar? Dieses Etwas hatte sich über Generationen still verhalten, doch nun rief es zum Kampf.
Nun war die Zeit reif dafür.
Mark war entschlossen und überzeugt davon geblieben, dass Maraim sich mit dem, was in der Höhle lebte, verbündet hatte – mehr galt es nicht zu wissen. Mark würde gewappnet sein, und so empfand er als Einziger der Zwölf auch keine Furcht. 
Die anderen elf hingegen hatten Dinge vor Augen, die ihre Vorstellungskraft an die Grenze führten. Sie stellten sich etwas vor, das mal über den Boden kroch, mal an der Decken hängend auf sie lauerte. Sie stellten sich den Höhleneingang als Maul vor und den Boden als Zunge. Es war mal bösartig, mal gefräßig. Mal sahen sie ein Wesen aus der Dunkelheit auf sie zu schnellen, das viele Köpfe besaß und folglich viele kleine Münder, allesamt mit Reißzähnen. Sie stellten sich Maraim vor, der dort lachend auf sie wartete, mal empfing er sie gastfreundlich und führte sie in die Höhle, nur um sie mit dieser List in ihr Verderben zu locken. In jedem Fall würde sie, da waren sie sicher, der Berg verschlingen.
Immer wieder betrachteten sie ihre mitgeführten Waffen und überlegten, wie sie diese gegen das Böse ins Feld führten. Sie stellten ich vor, Augen auszustechen, Schädel und Knochen zu brechen, Kopf und Glieder abzuschlagen.
Das Dorf war schon längst zu solch einem kleinen Punkt geschrumpft, dass sie keine einzelnen Häuser mehr ausmachen konnten bis auf das von Tirata. Den Frauenbaum erkannten sie nicht mehr, und einzelne Menschen hatten sie schon seit Stunden nicht mehr ausmachen können. Vielen von ihnen war, als röche die Luft hier anders und als raschelte das Laub nur zuvor gesehener Bäume und Büsche in neuem Klang.
Da blieb Mark kurz stehen und sah sich zu ihnen um. Sie schauten ihn an, und die Letzten schlossen zu ihm auf. Niemand wagte, etwas zu sagen, so dass es an Mark war, das Wort an sie zu richten: »Es ist nicht mehr weit.« Noch nie hatten sie Marks Stimme so entschlossen gehört. Der Tonfall ließ keinen Zweifel daran, dass sie alle weiter gehen würden. »Ich weiß nicht, was uns in der Höhle erwartet. Aber wir müssen bereit sein und wir werden das jetzt hinter uns bringen.«
Sie nickten stumm, denn Mark duldete keinen Widerspruch. Er sah jeden Einzelnen von ihnen an, und sie schöpften ein wenig Kraft daraus, denn Mark würde kämpfen für mindestens zwei von ihnen und sie mit all seiner Kraft verteidigen.
Gegen was auch immer. 
So ging Mark erneut los und die anderen folgten ihm.
Der Wind spielte mit Jessicas Haaren, und alles Gras neigte sich mit hm.
Tirata ging voran, weiter den Berg hinauf zu dem, das Jessica die Sprache verschlagen sollte. Jeder Schritt spülte ihr Fragen in den Kopf, die sie gern gestellt hätte, doch der Berg ging so steil hinauf, dass ihr oft der Atem dazu fehlte .Außerdem hatte ihr Tirata nach den letzten Fragen nichts anderes erwidert als: »Warte ab, du wirst gleich schon sehen, und dann erzähle ich dir alles.«
Doch das war ihr nicht genug. All die Jahre, all die Generationen war niemandem in den Sinn gekommen, auch nur einen Schritt in Richtung völlige Wahrheit zu gehen und begnügte sich statt dessen mit dem Wenigen, was man wusste.
Aber nun, da sie alle mehr wussten als jemals zuvor, und Jessica der Wahrheit noch näher war als alle anderen im Dorf, konnte sie es nicht mehr abwarten und sah nicht ein, warum sie weiter warten sollte. 
Tirata, die voraus ging, sprach in den wehenden Wind hinein: »Nein, wir gehen nur bis auf die Spitze, weiter nicht.« 
»Aber was haben wir da oben?« 
»Überblick. Mehr brauchst du auch gar nicht.«
So gingen sie weiter. »Müssen die anderen aus dem Dorf wirklich fortgehen?« 
»Sie kommen doch von hier. Sie wollen nicht fort von hier. Sie wollen hier blieben.«
»Das können sie aber nicht so einfach, Kind.«
»Warum nicht?«
»Weil der Wind von Irgendwo sie woanders hin blasen wird.«
Jessica blieb stehen. »Aber warum tut er das? Warum hat er nicht woanders blasen können? Warum hat er uns alle nicht in Ruhe gelassen?«
Tirata drehte sich um und sah sie an. »Der Wind von Irgendwo lässt niemanden für alle Zeiten in Ruhe. Warum sollte er auch? Ohne ihn wären wir nicht hier, ohne ihn würden wir nicht leben. Er führte deine Eltern zusammen, er führte deine Großeltern zusammen, er ließ unsere Vorfahren das Dorf errichten. Ohne den Wind von Irgendwo wäre nichts so, wie es ist und wie es war. Ohne ihn könnte nichts und niemand existieren. Denn er ist das Leben auf der Welt, Kind, nichts anderes. Und ganz gleich, wie furchtbar er uns auch manchmal treffen mag, so ist es unumgänglich, dass er weht. Der Wind von Irgendwo ist der Schöpfer des Bestehenden, des Gewesenen und des Kommenden. Ohne ihn gäbe es kein Leben. Und diesem Leben müssen wir uns anpassen, also treibt er und manchmal fort von hier oder von dort, wo wir uns gerade befinden. Wie auch jetzt.« 
»Aber warum dann hat er uns so viele Jahre in Ruhe gelassen?«
»Warum sollte er nicht?«
»Ich verstehe das nicht.«
»Da gibt es nichts zu verstehen. Er kommt und geht. Manchmal schnell und heftig und lange, dann wieder lange Zeit überhaupt nicht. Es ist der Lauf der Dinge.«
»Ist er der Lauf der Dinge?« 
Tirata lächelte zufrieden. »Du bist den anderen um Vieles sehr voraus.«
»Aber wenn er uns vertreibt …«, und Jessicas Herz begann zu rasen und ihr Magen begann zu jucken ,»… hat er uns schon einmal vertrieben? Und wenn, dann von wo?«
Tirata drehte sich wieder um und sah zur Bergspitze hinauf. Dadurch verbarg sie ihre Tränen vor dem Kind, das nun allmählich die Dinge begriff. »Wir sind nur noch ein klein wenig entfernt von dem, was ich dir zeigen will. Es dauert nur noch ein paar Minuten, und du wirst es sehen.«
Und Jessica setzte sich in Bewegung, in begeisterter Hochstimmung, wissend, dass alles, was man immer geglaubt hatte, nun zusammenfiel und Lügen gestraft wurde.
Sie sahen die Corrin-Höhle bereits, und alles, was sie hörten, waren ihre eigenen Schritte. Niemand wagte mehr zu atmen, und auch Marks Herz begann zu rasen bei dem Anblick. Vor ihnen öffnete sich der Schlund in den Berg. Er war gewaltig: Höher als jedes Haus im Dorf, höher sogar, als hätte man zwei, drei Häuser aufeinander gestellt. So hoch wie der Frauenbaum, so hoch wie Bäume hinter Tiratas Haus und nahezu kreisrund. Umgeben von braunem Fels, verschwand das Tageslicht rasch im Dunkel. Umsäumt war der Eingang von Baum und allerlei Gestrüpp, und es war Mark, als kröche Kälte aus dem Innern des Berges. 
Gerade wollte er weiter gehen, als er hinter sich ein Geräusch hörte und sich umblickte. Karul hatte seine Ausrüstung fallen lassen, und alle Blicke fielen auf ihn. In Karuls noch jungen Augen stand die nackte Angst. »Ich kann nicht«, stieß er aus. Sein Blick klebte an der Corrin-Höhle. »Ich kann das nicht.«

Mark war der Anblick eines derart geängstigten Mannes ebenso fremd wie den anderen, und Karuls Furcht übertrug sich auf die anderen, Mark spürte das Brodeln im eigenen Magen, und er sagte schnell: »Das ist in Ordnung, Karul«, um die Aufmerksamkeit auf sich zu richten. »Dann geh zurück, aber geh sofort und halt uns nicht länger auf.«
»Ich kann doch die Leute im Dorf … – ich kann sie nicht allein lassen, ich meine, was passiert, wenn wir nicht zurückkommen.«
»Wir werden nicht sterben«, sagte Mark mehr zu den anderen als zu Karul, der von einem Bein aufs andere trat. »Wir werden ein Geheimnis lüften.« Er nahm Karuls Sense vom Boden und streckte sie von sich. »Wir nehmen aber deine Waffen.« Er sah die Männer an, deren Anführer er geworden war. »Jeder nimmt sich, was er gebrauchen kann.« Und zu Karul gewandt: »Geh jetzt. Wir können dich zwar nicht entbehren, aber ein Mann, der so viel Angst hat, nützt uns nichts.«
»Ich warte hier auf euch«, stammelte Karul. »Ich lasse euch nicht zurück, und vielleicht kann ich euch noch helfen, wenn …«
»In Ordnung, Karul. Dann warte hier. Ihr anderen: Los, wir gehen.«
Mark setzte einen Schritt aus, als ihm die Größe bewusst wurde. 
Sie wandten sich wieder um, und Mark erkannte in vielen Augen das unbändige Sehnen nach Flucht vor allem. Und so sagte er: »Wir müssen  es sehen. Einmal der Angst ins Auge geblickt, ist sie später nicht mehr schlimm.« Und er sah auf die Corrin-Höhle zu seiner Linken: ein großes, dunkles Loch gezeichnet von Schwärze. Es sah schräg aus, und der Boden ragte weiter aus dem Berg heraus als die Decke. Nach dem, was er erkennen konnte, schien es gerade in den Berg zu gehen. Sein Herz pochte wild. Welch eine Herausforderung! Er konnte Einzelheiten erkennen, so zum Beispiel den Rand des Eingangs, der etwa dreimal so hoch war wie er selbst. Er sah grauen Felsen rund um die Höhle, manchmal nackt, manchmal mit Moos, Flechten und niedrigem Gras bewachsen. Das Loch war keineswegs rund, sondern es war unförmig; daher gemahnte es nicht an ein Maul oder einen Schlund, sondern tatsächlich wie ein Loch, das nicht für Menschen bestimmt war. 
Mark schritt weiter darauf zu, und die anderem folgten ihm. In seinem Kopf spukten manchmal Bilder von Tsam, er hörte ihn lachen und sprechen, er hörte ihn hinter sich durch das Gras rennen. »Ich habe dich gleich!« rief Tsam.
»Du? Du bist lahm wie eine Schnecke!« Es war warm, und es ging kein Wind, selbst kaum, wenn man lief. 
Mark hatte Tsam in einer Scheune mit Heu beworfen, so dass er darunter begraben worden war. Und dafür rächte sich Tsam nun und lief hinter Mark her, der vor ihm durch die Wiesen davonlief.
Plötzlich spürte Mark eine Stoß, und er fiel zu Boden. Tsam fiel auf ihn mit ganzem Gewicht, und sie lagen im Gras. Tsams Gesicht strahlte, seine Augen blitzten, und er zeigte die Pracht seiner weißen Zähne. »Ich habe dich eingeholt«, sagte er triumphierend. »Und jetzt kitzel ich dich durch.«
»O nein, nicht schon wieder!«
»Das ist die gerechte Strafe. Ich kitzel dich immer zur Strafe.«
»Wenn du mich noch einmal kitzelst, kenne ich dich nicht mehr.«
»Du wirst mich schon noch kennen, selbst wenn wir sterben und uns im Himmel über den Weg laufen.«
»Kitzelst du mich dann auch?«
»Wenn du böse bist, ja.«
»Ich will im Himmel nicht böse sein. Und ich will dich auch noch kennen.«
»Im Himmel?«
»Auch im Himmel.«

Tränen sammelten sich in Marks Augen, als die Bilder verblaßten, denn er wusste nicht mehr, wie es wirklich gewesen war. Er konnte sich nicht völlig erinnern, aber so ähnlich war es gewesen. Und er hatte viel, an das er sich erinnern konnte.
Tsam. Er war gegangen, war ertrunken im Bach, in dem sie oft geschwommen waren und gespielt hatten. Als sie kleiner gewesen waren, hatten sie im Schlamm gespielt und sich damit beworfen.
Und nun lag dieser Schlamm über ihm.
Tsam.
Wenn es einen Ort gab, an dem er sich rächen konnte, dann in der Höhle. Und wenn er sich auch nicht rächen konnte, so musste hier der Ort sein, an dem man sich wieder sah. Oder nachdem dieses Etwas in der Höhle ihn getötet hatte. Alles war ihm gleich. Ob er starb oder nicht. Er wollte Tsam. Für immer und ewig. Und sollte er auch zurückkehren und Sarah lieben lernen und sie zur Frau nehmen, so würde stets ein Loch klaffen, tief, erschreckend und immerwährend.
Dieses Loch würde sich auftun in manchen Nächten und ihn einsaugen und in die Tiefe führen, um ihm dort Bilder seiner Jugend zu zeigen die er genossen und verloren hatte.
Seine Kehle schnürte sich bei jedem weiteren Schritt zusammen, und als er mit den anderen vor der Corrin-Höhle stand, weinte er leise und war darauf erpicht es niemandem zu zeigen. Sie entzündeten Fackeln  und betraten die Höhle schweigend und staunend, mit pochen den Herzen und kribbelnden Mägen. An was sie dachten, wusste Mark nicht, und es war ihm auch gleichgültig. Er selbst sah nur Tsam mit seinem strahlendem Lachen, das er nun für immer verloren hatte und nie wieder lachen konnte. Marks Gedanken flatterten nur um den besten und einzigen Freund seines Lebens, und während niemand ahnte, was auf sie zukam, war Mark der Lösung näher als alle.

In Tiratas Augen blitzte ein nie gesehenes Feuer, und Jessica erkannte nun, dass die vermeintlich alte Frau etwa zwanzig Jahre jünger war, als alle meinten. 
Mit der Zeit war Tirata immer schneller bergauf gestiegen und hatte sich nicht weiter darum gekümmert, ob Jessica hinterherkam oder nicht – und Jessica hatte sich sehr anstrengen müssen, um mit der Wahrsagerin Schritt zu halten. Dabei hatte Jessica nicht verhindern können, dass Tiratas Vorsprung immer größer wurde.
Plötzlich sah sie Tirata ganz oben stehen. Oben auf dem Gipfel. Am Ziel.
Anfangs zeigte Tirata ihr den Rücken und schaute auf etwas in der Ferne, das sie vom Berg aus sehen konnte. Aber als Tirata sich mit einer raschen Bewegung zu umsah, erkannte Jessica, dass die Wahrsagerin aufgeregt war.
Der Wind ging stark hier oben, und die wenigen Büsche neigten sich demütig seiner Gewalt. Auf dem felsigen Grund des Gipfels wuchsen keine Bäume. Jessica schien es, als wollte dieser Berg mit seiner imposanten Höhe die Kuppel aufspießen, doch zu ihrer Überraschung stellte sie fest, dass diese Kuppel, sofern sie denn eine war, viel, viel höher war, als sie bisher angenommen hatte.
»Jessica!« rief Tirata schrill und begeistert, dass Jessica glaubte, einem Mädchen hinterherzuklettern, »Komm schon, beeil dich! Du wirst endlich das sehen! Du wirst alles sehen! Komm her, komm!« Dabei winkte sie mit beiden Armen.
Jessica war bemüht, sich zu beeilen, doch ihre Arme und Beine waren nicht lang genug, und es dauerte eine Weile, bis sie nur noch Meter vor sich hatte.
Als sie endlich die Bergspitze überblickte, wollte ihr der Boden unter den Füßen fortbrechen. Was sie sah, konnte sie nicht in Worte fassen. Für das, was sie sah, gab es keine Vorstellung und keine Beschreibung.
Sie blickte den Berg hinab und sah weitere Berge ringsum, sie sah den Himmel unendlich weitergehen, sie sah Vögel, die ihres Weges flogen, und der Wind zog stärker an ihren Haaren als manch Kind beim Spielen.
Sie sah in weiter Ferne auf eine für sie unvorstellbar große Menge an alten, eingefallenen Häusern. Sie sah überwucherte Wege aus Stein, und in dem Licht der blendenden Sonne sah sie das Bild wie aus einem Traum. Mit offenem Mund starrte sie nur.
»Daher kommen wir«, sagte Tirata leise. »Vor vielen Generationen lebten wir dort, bis wir fortgingen. Bis der Wind von Irgendwo uns ins Dorf trieb.«
Jessica sah und roch und schmeckte und spürte und wusste, doch sie meinte nichts von alledem zu tun. Sie meinte zu träumen. Das dort konnte nicht wahr sein. Das dort konnte es nicht geben. Das dort gehörte nicht in die wirkliche Welt, sondern es war wie »Ein Traum«, hörte sie sich aus unendlicher Ferne sagen, und der Wind nahm diese Worte mit sich und schickte sie auf eine Reise ohne Wiederkehr in die Unendlichkeit. »Ein Traum.« Und auch diese Worte verschwanden für immer, mitgetragen vom Wind von Irgendwo.
Tirata blickte auf den Ort, der länger schon verrottete als ein Mensch aus dem Dorf denken konnte. Sie verspürte ein Hochgefühl, und sie wusste, dass ihr Auftrag ausgeführt war. All das, worauf all ihre Vorgängerinnen ihr Leben und sie nun ihr eigenes gewartet und hingearbeitet hatten, war nun in Erfüllung gegangen, und ihr Blick verschwamm bei dem Gedanken daran unter Tränen. Das erste Mal in ihrem Leben, das davon geprägt war, zu wissen, dass das Leben in und um das Dorf nichts weiter war als ein Traum, glaubte sie selbst zu träumen. Es war etwas in Erfüllung gegangen, und es war großartig. Die Vergangenheit war vorbei, die Zukunft begann.
»Nein«, meinte Tirata mit zitternder Stimme, ohne dass sie sich des Blickes entsagen konnte, »dies hier ist die einziges Wahrheit. Alles andere war Lüge.«
Jessica versuchte, Einzelheiten auszumachen. Der Ort dort unten war riesig, sie vermochte die Anzahl der Häuserruinen nicht zu zählen. Es waren mehr als Bäume um das Dorf standen. Welch Menschenmassen mochten dort einst gelebt haben! Welch eine unübersehbare Fülle an gehenden, laufenden und sitzenden Menschen, mehr als sie sich vorstellen konnte. Das alles sollte die Wahrheit sein? Es gab Wege aus purem Gestein, unendlich viele davon. Manches war in die Natur übergangen und überwachsen. Dort lebte schon Ewigkeiten kein Mensch mehr.
»Wo sind sie alle hin?«, wisperte Jessica so leise, dass Tirata ein kalter Schauer überlief, da es sich anhörte, als hätte der Wind selbst zu ihr gesprochen.
»Fort«, entlockte sie sich mit Mühe. »Sehr, sehr lange sehr, sehr weit fort.«
Jessica wandte ihren Blick nicht ab, stets darauf erpicht, mehr zu erkennen, als sie konnte – die Entfernung gestattete es ihr nicht, alles zu sehen. Zuviel Luft und Wind lagen zwischen ihr und dem, was sie zu sehen und ergründen versuchte. »Wie lange? Und wie weit fort? Und wo liegt dieses Sehrweitfort?«
Plötzlich musste Tirata schlucken, und sie vergrub ihr Gesicht in ihren Händen. Sie schluchzte und setzte sich auf den steinigen Boden. Sie versuchte einige Augenblicke, ihre Stimme wiederzufinden, und schließlich sagte sie mit starrem Blick: »Es ist alles so lange her. Ich weiß daraus nur aus Büchern. Es war eine Qual, davon zu wissen und gleichzeitig sich darüber im Klaren zu sein, dass man es den Anderen nicht mitteilen kann.«
Und so Tirata begann zu erzählen:
Davon, dass es einst mehr Menschen gegeben hatte, nicht nur hier, sondern auch anderswo. Dass es Menschen gegeben hatte in Orten, die so weit entfernt lagen, dass selbst die Vögel nie dorthin kommen konnten. Davon, dass die Menschen einst aufbrachen zu neuen Ufern, diese Welt zurückließen, weil sie zerstört war, und dass es eine Gruppe Menschen gegeben hatte, die sich dem entzogen hatten, da sie diese Welt nicht hatten verlassen wollen. Man hatte sie verspottet und Fanatiker genannt. Doch diese Gruppe hatte sich in einer Höhle zurückgezogen, so dass man sie zurückließ und ohne sie aufbrach. Und dort, in dieser Höhle, hatten sie mit Vorräten Jahre ausgeharrt. »Man wollte mit dem Vergangenen nichts mehr zu tun haben«, sprach Tirata in den Wind. »Und das war leicht, denn es gab nichts mehr, an das man sich halten konnte. Das Einzige, das es gab, waren die Versteckten und die Welt, die zu zerstört war, als dass sie den Menschen noch hätte eine Heimat sein können. Die anderen wollten zum späteren Zeitpunkt wiederkehren, wenn die Welt sich wieder erholt hatte.Nur diese Gruppe glaubte an den Fortbestand und wollte nicht fort. Nach vielen Jahren in der Höhle und kam sie heraus, sie hatten auch keinen Proviant mehr. Es waren schreckliche und harte Jahre für sie. Aber sie hatten einen Traum, und den wollten sie um jeden Preis verwirklichen: eine neue Menschheit, gewachsen vom Anbeginn an. Alle Erfindungen, die man gehabt hatte, mussten neu erfunden werden. Man wollte eine neue Schöpfung der Menschen anstreben, unter anderen moralischen und ethischen Begebenheiten. Es war ein großer Plan. Und wir sind die Kinder dieses Plans, der gescheitert schien.« Sie holte zitternd und hörbar Luft. »Bis jetzt.« Der Wind spielte mit ihren Haaren und pfiff durch die Täler in ihrem Gesicht. »Weil nun der Wind von Irgendwo kommt und uns endlich auf den rechten Weg zurückbringt. Weil er nun kommt und all die vielen, langen Jahre des Stillstands hinwegfegt und mit sich nimmt.«
Und Tirata erzählte und erzählte, während Jessica schaute und staunte. Sie erzählte von all den unausgesprochenen Geheimnissen, die die ganzen Jahre die Welt bestimmt hatten, und die nun gelüftet wurden. Da war die Corrin-Höhle, in die man einst geflohen war, und die man nun zurückkehrte. 
Was sollten die Männer dort finden?

Umgeben von Dunkelheit tappten sie immer tiefer in den Schlund hinein in den Berg. Ihre Fackeln zeigten ihnen Felswände, die sich mancherorts zu ganzen Räumen und Sälen auswölbten, und die hin und wieder dann so eng zusammen liefen, dass sie hintereinander gehen mussten. Immer mehr entpuppte sich die Corrin-Höhle als dunkles, feuchtes Labyrinth. Nicht selten leuchteten sie in Spalten hinein, die in den Felswänden klafften, oder es offenbarten sich ihnen Löcher, die sich nach wenigen Meter so verengten, dass nicht einmal ein Kind hineingepasst hätte. Im Schein ihrer Fackeln waren ihre Gesichter orange, und ihr Atem löste sich in Wolken auf. Sie fröstelten, und ihre Kleidung sog die feuchte Luft ein.  
Das Echo ihrer Schritte erstarb im Dunkeln jenseits des Fackelscheins. Mehr als nackten Fels wollte ihnen die Corrin-Höhle nicht zeigen. 
Morkus wünschte sich, Tirata nun bei sich zu haben, doch waren sie allein.
Jedes Mal, wenn sie an einer weiteren Öffnung vorbeikamen, hielten sie ängstlich ihre Fackeln in das Loch, um hineinzusehen; und jedes Mal aufs Neue umklammerten sie mit schweißnassen Händen ihre Waffen fester, bereit, einem Monster im Kampf gegenüberzutreten. Und jedes Mal aufs neue kam keines.
Und schließlich kamen sie an:
Eine Kathedrale aus Felsen und Kalk. Sie war so hoch, dass ihre Fackeln nicht bis an die Decke zu leuchten vermochten. Überwältigt standen sie da und sahen nach oben und nach allen Seiten. Tiefschwarze Schatten lagen zwischen den Felsen mit ihren Schluchten und Rissen. Ihr Atem stieg als Rauch auf und verschwand für alle Zeit in der Felsenhalle.
Sie standen da und trauten ihren Augen kaum.
»Wir sind am Ziel«, flüsterte jemand. 
Sie erschraken, als das Flüstern hundertfach echote und zischte wie von einer Schlange ausgestoßen.
»Was ist hier?«, fragte jemand leise, und in der Stimme lag ein Zittern der Furcht und der Kälte wegen.
»Ich kann nichts erkennen«, sagte ein anderer.
Da waren sie nun in der Corrin-Höhle. Da waren sie nun im Bauch der riesigen Echse des Gebirges, da waren sie nun im tiefsten aller tiefsten Schlünde und Mäuler, und sie waren umgeben von Fels und Kälte.
Plötzlich zischte jemand: »Hört ihr das?«
Augenblicklich erstarb jegliches Wispern. Sie alle hielten ihren Atem an. Es war, als existierte hier nichts. Nicht einmal ein Laut. Nicht einmal ein Atem. Eine solch durchdringende Stille hatten sie noch nie gehört. Mark spürte, wie sich seine Haare sträubten und er zu zittern begann. 
Tausend Dinge schossen ihm und seiner Gefolgschaft durch den Kopf, als sie lauschten. Was sollten sie hören? Schlurfende Schritte von dem unbekannten, grausigen Wesen, das die Kälte und die Dunkelheit dieser Höhle sein Zuhause nannte? Irgendein Atmen von etwas Fremdem? Höhnisches Gekicher?
Im Schein ihrer Fackeln huschten ihre Blicke von Schatten zu Schatten, die überall lagen, zuckten, aufflammten und wieder verschwanden, und sie taten alles, um jeden Winkel der Höhle um sich herum gleichzeitig im Blick zu haben. 
Hier also musste es sein. Was immer es auch war. Hier mochte gleich Maraim aus der Dunkelheit kommen, eine riesige Zunge, Flammen, Monster von ungeahnter Gestalt.
Mark lauschte wie alle anderen, und da kam es langsam in ihr Ohr. Sie tauschten Blicke aus, waren sich einig, dass sie alle es hörten, schlossen sich näher zusammen, und dann nickten sie, jeder für sich und die anderen. Da war etwas, ganz leise, und je länger sie so nahe beieinander standen, um so hörbarer wurde es. 

Sie hörten das Rauschen des Windes, der von dem fernen Ort her kam. Jessica zog es dorthin. »Gehen wir dorthin?«, fragte sie.
Tirata schüttelte den Kopf. »Nein. Es ist ein toter Ort. Und es wäre ein Schritt zurück. Wir gehen in die andere Richtung.«
»Warum hast du uns nichts gesagt? Warum hast du uns belogen? Und warum all die anderen Wahrsagerinnen all die anderen vor uns?«
Erneut kamen Tirata die Tränen. »Es war der Lauf der Dinge. Die neue Menschheit sollte aufwachsen mit neuen Vorstellungen von der Welt. Sie sollte mit der Natur in Einklang leben, sie sollte sich der Natur unterwerfen. Alles Wissen lag in Büchern, aber über Jahre hinweg schwand die Gabe, sie zu lesen. Aus einer Idee wurde ein Konzept und aus diesem ein Glaube. Dieser Glaube bestand aus anderen Ritualen. Die Menschen sollten vergessen, aber es gab immer jemanden, der Bescheid wusste über die Vergangenheit. Die Wissenden wurden wie Götter behandelt oder wie Wahrsagerinnen, die ihr Wissen aus dem Wind und von den Geistern bezogen.«
Jessica hörte aufmerksam zu und wusste, je mehr sie hörte, dass sie nicht alles verstand und behielt.
Aber als Tirata geendet hatte, waren ihr verschiedene Dinge bewußt geworden: In der Corrin-Höhle war …

… ein See von Wasser. Ungläubig blickten sie in ihn hinein und erkannten in de Spiegelungen auf der Wasseroberfläche sich selbst. Sie erblickten ihre Gesichter, gezeichnet von Angst, sie sahen ihre Hände, die Waffen und Fackeln hielten, und sie erkannten, als sie in ihre eigenen Augen sahen, in das Zentrum dessen, was sie fürchteten.
Mark drehte sich um und ließ seinen Blick nach oben gleiten. Wie gewaltig diese Höhle doch war. Und wie erschreckend leer sie all die Jahre über gewesen war. Hier gab es nichts. Hier gab es nur Angst. Ihre eigene.
»Was nun?«, hörte Mark jemanden fragen.
»Wir gehen wieder«, entgegnete Mark. 
»Wohin?«
»Fort von hier. Weit fort.«
»Und was haben wir zu fürchten?«
»Nichts mehr.«
Und so gingen sie, schweigend und verwundert über das, was sie gesehen hatten. Niemand sagte auf dem Rückweg ins Dorf ein Wort.
Sie alle waren der Corrin-Höhle entkommen, sie alle waren darin gewesen und hatten gesehen, was sich darin Schreckliches verbarg. Sie hatten es gesehen, aufgedeckt und ließen es dort zurück.

»Es hat ein Ende«, meinte Tirata und stand auf. 
Jessica sah zu ihr auf. »Dann haben du und die anderen Wahrsagerinnen all die Jahre nur darauf gewartet?«
Tirata nickte. »Bis zu dem Zeitpunkt, an dem die alte Ordnung wieder aufbrach und alle reif für die neue Zeit waren.
»War denn alles falsch, was wir getan haben?«
»Falsch ist nur dann etwas, wenn es nicht mit den Werten übereinstimmt. Unsere Werte waren all die Jahre auf Angst und Aberglaube aufgebaut, aber aus unserer Sicht nie falsch. Wir haben in Verblendung gelebt, die es nicht gestattete, mit den Regeln zu brechen. Wir mussten so lange warten, bis die Dinge sich von selbst widersprachen. Wir konnten nicht die Menschen mit der Wahrheit konfrontieren, solange sie nicht reif dafür waren. Solange sie es nicht begreifen konnten. Nun, die Werte sind gestürzt, das Verständnis setzt ein. Die Geburt, die Neuerschaffung einer Zivilisation braucht seine Zeit, und wir hatten sie.« Tiratas Augen glänzten. »Eine neue Zivilisation von Grund auf, die gelernt hat, die gereift ist. Es hat sich gelohnt, zu warten, denke ich.«

Sie kehrten in das Dorf zurück. Mark fröstelte, als er das Dorf wiedersah, er verfluchte es, er wollte es niemals wiedersehen. Er hatte mit allem darin abgeschlossen. Benommen wie alle anderen gesellte er sich zu den Wartenden im Dorf, die neben ihren gepackten Habseligkeiten auf sie gewartet hatten.
Lorn kam Mark entgegen und umarmte in freudig, doch Mark erwiderte die Umarmung nicht. Als Lorn ihm in die Augen sah, sah dieser einen neuen Glanz in den Augen seines Sohnes. Einen Glanz der Reife, einen Glanz der Entschlossenheit, und Lorn wurde klar, dass er ein Kind verloren und einen Erwachsenen gewonnen hatte. »Was habt ihr gesehen?«
Mark suchte nach Worten. »Die Angst.«
»Wie sah sie aus?«
Mark gedachte seines flimmernden Spiegelbildes im Wasser. Das verbitterte Gesicht eines verängstigten Kindes. »Seltsam.«
»Was ist mit Maraim?«
»Tot.«
»Habt ihr ihn umgebracht?«
Mark dachte an das Feldfrucht-Fest. »Ich denke ja. Er war nicht dort.« 
»Haben wir jetzt Frieden?«
Mark zuckte die Achseln und sah seinen Vater an. »Vorerst sicher. Aber später …«
Der Wind von Irgendwo umströmte sie alle und blies sie fort von dem Ort, an dem seit Menschengedenken das Dorf ihre Heimat gewesen war. Mark bestand darauf, das Dorf niederzubrennen, auf dass alles, für was es stand, vernichtet wurde. Niemals wieder sollte man hierher zurückkommen und erneut eine Heimat finden.
Man tat wie geheißen, und kurze Zeit später brannten sie alle lichterloh, die Häuser, die Ställe und Scheunen, die Schuppen. Schwarzer Rauch stieg von ihnen auf in den Himmel, kreiste umher, dünnte sich aus und löste sich im Himmel einfach auf.
Als sie alle das Dorf hinter sich ließen, sahen sie sich häufig um, auch Mark, der im tiefsten Innern seines Herzens Tsam brennen sah, seine eigene Kindheit und all seine Träume, die er gehabt hatte. Und wie er sich umsah, erblickte er seine Schwester Jessica gemeinsam mit Tirata, wie sie in das Haus der Wahrsagerin gingen. Dies war keine Einbildung, dies sah er wirklich.
Jessica. Seine kleine Schwester. Er würde sie bald womöglich wiedersehen, wenn sie mit Tirata ihnen folgte und das zerstörte Dorf für immer hinter sich ließ,  in dem es nun keine Menschen mehr gab wie in der alten, verrotteten Stadt jenseits der Berge. 
Tsam. Bitterkeit überkam Mark, und er musste sich zusammennehmen, nicht in Tränen auszubrechen. Sein einziger und bester Freund, der ihn bis zu seinem Tod begleiten wollte – nun, Mark hatte ihn bis zum Tode begleitet, und Tsam war Mark bis zum Tode Freund geblieben.
Es sollte noch lange dauern, bis Mark in einem aufblitzenden Lachen Sarah, in einem Satz, den sie sagen würde, in vielen Bewegungen und Gesten, die sie machen würde, Tsam wiedererkannte; und als er später sah, wie Sarah ihren von Mark gezeugten Sohn aus Spaß in der Wanne kitzelte, ging Mark nach draußen, und weinte in Andenken an Tsam, den er zurückgelassen hatte jenseits der Wälder, jenseits aller Weiden und Wiesen, irgendwo weit, weit entfernt, wo einst ein Dorf gelegen hatte, in dem lange Zeit die Früchte zu einer neuen, jungen Menschheit gereift waren, die der Wind vor Irgendwo hierhergetragen hatte und noch weiter in die Welt hinaustragen würde. Wohin, wusste nur der Wind von Irgendwo selbst.

Der Wind von Irgendwo – Kapitel 14: Der Mut der Verzweiflung komplett lesen

Mystery-Roman von Oliver Koch

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Der nasse Boden unter ihren Füßen gab schmatzende Geräusche von sich, als Jessica neben Tirata Richtung Berge ging. »Wo gehen wir denn hin?«, hatte Jessica wissen wollen, als Tirata ihr morgens eröffnet hatte, dass sie heute etwas Außergewöhnliches sehen sollte. »Was du sehen wirst wird dich klarer sehen lassen«, hatte Tirata gemeint. »Und es ist ein Geheimnis. Du wirst es sehen.«
»Wo ist denn dieses Geheimnis?«, hatte Jessica gefragt.
»Es ist ein weiter Gang, ein Gang in die Vergangenheit.«
»In die Vergangenheit? Wo liegt die?«
Tirata hatte sie lange und seltsam angesehen. »Weit fort von uns. Hinter den Bergen, da, wo wir nicht mehr hinsehen.«
»Gehen wir in die Corrin-Höhle?« Jessica wurde bei dieser Frage ganz heiß, obgleich sie ihre  Neugier, gegen die Tirata so Vieles hatte, versuchte zu verbergen. Aber das hätte sie nicht tun müssen, denn Tirata schien selbst aufgeregt. »Darüber hinaus. Weiter noch. Wir werden den ganzen Tag gehen.«
Daraufhin hatten sie sich etwas zu essen bereitet, das Tirata in einen Beutel verstaute, den sie schulterte. »Komm, Kind. Du wirst in ein paar Stunden deinen Augen nicht mehr trauen.«
So also gingen sie zu den Bergen, zu denen auch die Männer des Dorfs aufbrechen würden. Es war noch so früh am Morgen, dass noch niemand außer Tirata und Jessica zum Aufbrechen bereit war. Das Dorf war erstarrt vor Angst und Wut und Willensstärke. Sie wollten alle endlich ihrer Angst ins Auge blicken und sie vernichten, wenn sie konnten. Bald würden auch sie losziehen.
»Der Wind vor Irgendwo reißt euch mit«, hatte Tirata gestern am Feuer zu den Menschen noch gesagt, als sie, gelähmt vor Schock, in ihrem Rund gesessen hatten, die Gesichter orangefarben und flackernd. »Der Wind ist der Lauf der Dinge auf der Welt. Wenn er kommt, verändert er die Dinge. Er erneuert, er reinigt.«
»Aber«, war es leise aus dem Rund gekommen, aus einem Mund, der in dem dazugehörigen orangefarbenen Gesicht wie die Corrin-Höhle wirkte, »wohin wird er uns treiben?«
»In eine neue Richtung.«
»Und wird sie gut sein?«
»Das kommt darauf an, wie ihr eure Situation meistert.«
Tirata hatte lange mit im Rund gesessen und Worte zu Tsams Tod gesprochen. Mark hatte in Gedanken versunken dagesessen und sich vorgestellt, auf diese Levitation in der Corrin-Höhle zu treffen und sie zu töten. Ja, man würde am nächsten Morgen aufbrechen und dem Unbekannten in die Augen blicken, was oder wer immer es sei.
»Dieser Ort ist kein guter Ort mehr«, hatte Morkus gesagt, und jeder im Dorf hatte schweigend genickt. Das Feuer hatte geknackt und Funken in den Himmel geschossen, denen die nachsahen und sich wünschten, sie zu sein.
»Wir müssen fort von diesem Ort.« Jeder hatte genickt. Dieser Ort war ihnen nicht mehr wohlgesonnen. »Wenn es etwas Böses gibt, dann ist es hier. Wir versuchen es zu töten und gehen dann fort von hier.«
Alle nickten einhellig, stumm und so langsam, als wären ihre Köpfe riesige Steine, die auf einer Klippe stehen und, vom Wind in Schwingung versetzt, einen Berg hinunterzurollen drohten.
Tirata hatte Triumph verspürt und sich in ihr Haus zurückgezogen.
Nun schritt sie neben Jessica, die es kaum erwarten konnte, das Unbekannte, das Andere zu sehen, das ihren Horizont erweitern sollte. Sie konnte es kaum erwarten, in die Vergangenheit zu gehen.
Der Morgen war wundervoll. Der Himmel wurde immer strahlender, und es würde ein heißer Tag werden. Dieser Sonnenaufgang hatte etwas ganz Besonderes. Jessica hatte die Welt noch nie so früh in diesem Licht gesehen. Ein Sonnenaufgang wie dieser war ein Ereignis, das sie noch nie bemerkt hatte. In diesem Licht nun schien ihr die Welt wie ungeboren. 
Etwas regte sich in ihr, das sie zum Nachdenken brachte: so lange sie zurückdenken konnte, war es immer so gewesen, dass morgens der Tag und abends die Nacht kam. Dunkelheit folgte Helligkeit, Helligkeit folgte Dunkelheit. Kälte folgte Hitze, Hitze folgte Kälte, Trockenheit folgte Nässe und Nässe folgte Trockenheit – ein einziger riesiger ewiger Zyklus. Was kam, das kam, und was ging, das ging, ganz so, als sei alles diesen Dingen selbst überlassen, und als sei der Mensch dem unterworfen, was ihn umgab. 
Nun jedoch kam Jessica der Einfall, dass all diese Annahmen falsch sein konnten. Wenn das ging, was ging, weil etwas anderes kam, dann musste dies aufgrund der Regelmäßigkeit, mit der dies geschah, einen Grund haben. Und so fragte sie Tirata danach, während sie weitergingen, immer weiter auf die Berge zu, immer weiter in Richtung dessen, woher alles gekommen war, wo alles begonnen hatte.
Als Lorn in Marks Zimmer trat, war dieser schon wach. Mit offenen Augen starrte er an die im frühen Tageslicht noch düstere Decke über ihm, die ihm den Blick auf die Sterne verwehrte. Die ganze Nacht über hatte er seine Gedanken kreisen lassen, und er hatte sich in die  Corrin-Höhle geträumt. Wenn man von der Corrin-Höhle träumte, dann waren dies schreckliche Alpträume. Dann erwachte man schweißgebadet aus dem Schlaf, weil man gefangen gewesen war in einer sinistren Grotte mit fürchterlichen Kreaturen jenseits aller Begriffe. Man wurde von ihnen zerhackt, gefoltert auf eine Weise, die sich der Phantasie entzog. Man wurde von ihnen nicht einfach gefressen, wie dies Tiere mit anderen Tieren taten, sondern man wurde ausgesogen, entleert, einer Sache beraubt, die den Menschen des Dorfs sehr wichtig war; gleichwohl sie sie nicht in Worte fassen konnten.
Ausgesogen …
… auf dass man zurückblieb wie eine alte, abgestreifte Haut einer gewachsenen Schlange.
Aber in dieser Nacht hatte Mark sich im Traum in der von allen in allen Zeiten so gefürchteten Corrin-Höhle befunden und war mit Entschlossenheit, mit Stolz und mit Rache hineingegangen, um Rechenschaft von denen zu verlangen, die Tsam auf dem Gewissen hatten. Um Rechenschaft dafür zu verlangen, warum man wollte, dass die Menschen das Dorf verließen.
Wem oder was sie gegenübertreten sollten, wusste er nicht, denn er hatte in seinem Traum mit offenen Augen nichts sehen können. Aber er hatte keine Todesangst gehabt, die ihn davon abgehalten hatte, in die Höhle zu steigen. 
Lorns Stimme kam gedämpft leise  zu ihm herüber, als hätte Mark die Worte mehr gedacht als gehört: »Mark, wach auf. Wir brechen gleich auf.« Er klang wie das Rauschen des Windes um Tiratas Haus, nicht so entschlossen wie von einem Mann, der sich voller Überzeugung aufmacht. »Hast du deine Sachen auf den Wagen geladen?«
»Ja«, erwiderte Mark mit auf die Decke gerichtetem Blick, und im diffusen Licht des jungen Morgens sah Lorn Marks Augen von Tränen aufblitzen. »Unser Leben ist zu kurz, viel zu kurz. Und wie haben es es in gewisser Hinsicht vergeudet.« 
Mark war der selben Meinung. Er wusste, dass dies die letzte Nacht in diesem Haus gewesen war. Wenn sie aus der Höhle zurückkehren sollten, dann wurden sie von den Zurückgebliebenen des Dorfes erwartet, auf dass sie sich aufmachen konnten, um dem Dorf mit allen Tieren und Geräten den Rücken zu kehren.
Mark hatte sich noch nie so leer und ausgesogen gefühlt. Sein Freund war tot, das Dorf  wurde verlassen. Und gleichzeitig machten sie sich auf, dem Unbekannten zu begegnen. Wenn sie dem Großen Schrecklichen persönlich begegnen sollten, so waren die bereit, ihm gegenüberzutreten. Mark fragte mit einer Stimme sanft wie rauschender Wind: »Tun wir es nur deshalb, weil wir hier nichts mehr haben?«
Wäre es heller gewesen und hätte Mark von seinem Vater mehr gesehen als nur einen dunklen Schatten in der Türöffnung, hätte er ihn nicken sehen können. »Es ist alles so endgültig. Wir neigen uns jetzt vor dem Wind von Irgendwo. In gewisser Weise sind wir tot. Wir haben unseren Frieden verloren, unser Dorf, und du deine Schwester und deinen Freund. Ich habe eine Tochter verloren. Der Wind von Irgendwo hat uns, jedem von uns, ein Loch in unser Leben geblasen. Und nun müssen wir versuchen, dorthin zu gehen, wo der Wind von Irgendwo das, was er uns aus dem Leben geblasen hat, fallengelassen hat.«
»Auf der Suche nach einem neuen Frieden?«
»Und auf der Suche nach einem neuen Leben.«
Viele Fragen stellten sich Jessica, und das Merkwürdigste an allem war, warum niemand schon vorher diese Fragen gestellt hatte. War sie denn neben Tirata die erste im Dorf, der diese Fragen kamen? Aber sie erinnerte sich an die Worte Tiratas, als sie ihr erklärt hatte, dass dies nicht so sein konnte. Jeder Mensch im Dorf hatte sich hin und wieder eine oder mehrere dieser Fragen gestellt, aber woher sollte man die Antwort nehmen? »Alles, was man nicht wusste, schrieb man mir zu, dass ich es wusste«, hatte Tirata ihr zur Antwort gegeben, als es dunkel geworden war und Jessica gebannt den Worten gelauscht hatte. »Und alles, was ich wusste und die anderen nicht, war für sie wie etwas Verbotenes. Man sagte einfach, dass es mit der Corrin-Höhle zu tun hätte und meinte, nur ich könnte darüber Bescheid wissen, weil die Geister in der Höhle nur mir all die Geheimnisse gesagt hätten.«
Jessica hatte nicht verstanden und gefragt: »Sind denn all diese Sachen und Fragen verboten? Sind denn Geister in der Corrin-Höhle? Und sprechen sie zu dir?«
»Diese Geheimnisse sind so selbstverständlich wie das Fragen nach dem Wohlbefinden. Nein, diese Fragen sind weder verboten noch sind die Geheimnisse.«
»Aber warum wird dann gesagt, dass sie es wären? Und warum sagst du es immer?«
»Ich sage es nicht. Ich habe es nie gesagt. Aber wie kann ich erklären, was die Menschen nicht begreifen können?«»Warum können sie nicht begreifen?«
»Weil sie den Mut und das Wissen vergessen haben, um begreifen zu können. Weil sie alles verdrängt haben.«
»Was haben sie verdrängt?«
»Du wirst es sehen.«
Auf dem Weg zu dem, was sie sehen sollte, waren sie nun.
Sie gingen schweigend nebeneinander her, von der weiten Landschaft umgeben, durch die der Wind strich. Jessica war ganz versunken in Fragen über Fragen. Tirata hatte so viel getan, was sie nicht hatte deuten können. Tirata hatte über so viele Dinge gesprochen, die Jessica nicht verstanden hatte. Wie oft hatte Tirata schon von den »anderen« gesprochen, von den »Augen«. Wie oft schon hatte Tirata Jessica das Fürchten gelehrt auf eine Weise, die keine echte Panik hatte gedeihen lassen, sondern Zweifel an den Dingen, von denen man der Überzeugung war, sie tun zu müssen?
So konnte Jessica ein gewisses Entsetzen nicht verleugnen, als Tirata sich eines nachts aufgemacht hatte, um einige Tiere auf den Weiden zu töten. Sie hatte Jessica davon berichtet und war gegangen, als sie schlief. Es war eine Sünde, ein Verbrechen an dem Dorf und an dem gesamten Leben, Tiere mutwillig zu töten, ohne sie zu essen oder ihre Felle benutzen zu müssen. Jessica hatte den Sinn nicht verstanden, den Tirata hinter der aus ihrer Sicht bösen Absicht gesehen hatte. Jessica hatte es nicht verstehen können, als Tirata gesagt hatte, es ginge darum, die allseits bestehende Angst im Dorf dahingehend zu schüren, dass Hass entstand, der der Neugierde diente. Jessica hatte es nicht verstanden, dass diese Tat dazu beitragen sollte, dass die Menschen gezwungen werden sollten, dem Unheimlichen in der Corrin-Höhle in die Augen blicken zu wollen. »Es wird mir keine Freude machen, die Tiere zu töten. Aber die Angst wird sie plagen, und sie werden sie überwinden wollen.« Hier hatten Jessica erstmals Zweifel geplagt, ob es richtig war, sich auf Tirata einzulassen. Wenn Tirata auch einen Sinn verfolgen mochte, so konnte Jessica ihn nicht verstehen »Du wirst es eines Tages begreifen«; hatte Tirata ihr gesagt. »Keine Sorge, du wirst es verstehen. Was ich nun tun muss, ist wichtig. Der Zeitpunkt ist gekommen.« 
Das überzeugte Jessica zunächst. Doch als dann die Tiere tatsächlich am nächsten Morgen abgeschlachtet auf den Weiden gelegen hatten, hatte Tirata draußen gesessen und in den Wind hineingesagt: »Der Wind von Irgendwo ist da. Und er reißt sie mit. Niemand kann ihn jetzt noch aufhalten.« Und Jessica hatte sich gefürchtet. 
Im Dorf war es still, denn sie standen schweigend vor ihren Häusern, die sie nun für immer verlassen würden, und warteten auf den Aufbruch. 
Die Schatten warfen sich wie Sklaven zu Boden und verrenkten sich bis zur Unkenntlichkeit, alle Wagen und Fuhrwerke standen mit allen Habseligkeiten bepackt in einer langen Reihe. Kisten und Stoffrollen lagen darauf, mit Seilen und Tierdärmen zusammengehalten. In den Häusern gab es nichts mehr, was sie hier noch hielt, kein Ding, kein Traum, keine Vorstellung. Tirata hatte ihnen geraten, sich dem Wind von Irgendwo zu beugen, und genau das würden sie nun tun. Diese Endgültigkeit ängstigte nicht wenige – nicht jeder wollte in den Horizont blicken oder sich vorstellen, dass dort hinten etwas Neues auf sie warten mochte. Dass sie gehen würden, weit über die Grenze ihrer Felder und den alles umschließenden Wiesen und Weiden hinaus. 
Auch wenn sie keine Vorstellung davon hatten, was kommen würde, so konnte es nicht mehr schlimmer kommen als das, was sie im Dorf erwarten würde, wenn sie blieben. Immerhin blieb ihnen nun die Hoffnung, dass Maraim oder das, was statt seiner bösartig darauf wartete, zuzuschlagen, besiegt werden könnte.
Es waren zwölf Männer, die zuvor in die Corrin-Höhle ziehen wollten, um sich dem Schrecken zu stellen. Sollten sie sterben, dann war dies der Preis, den zu zahlen sie bereit waren. Kämen sie nicht zurück, so würde man ohne sie weiter ziehen, hoffend, dass das Böse ihnen nicht folgen würde.
Diesen zwölf waren jetzt schon ewiges Andenken sicher – immerhin. Niemand würde ihre Namen vergessen und das, was sie zu tun bereit gewesen waren. Unter ihnen war auch Mark, in dessen Gesicht sich Entschlossenheit und Leere spiegelte. Er wollte es sich nicht nehmen lassen, mitzugehen und notfalls sein Leben zu lassen. Er wollte allem ins Gesicht sehen, was immer sich ihm auch in den Weg stellen wollte, und niemand hasste das Dorf und die Weiden und die Bäume und die Berge so sehr wie er. Er wäre auch allein aufgebrochen, um alles hinter sich zu lassen. So war der Einzige gewesen, der sich freiwillig gemeldet hatte. Seitdem sahen ihn alle mit anderen Augen an. Sie näherten sich ihm anders, die Kinder blickten schweigend zu ihm auf, und als Morkus ihm entgegenkam, wollte der seine Hand auf Marks Schulter legen, doch hielt er inne und zog seine Hand wieder zurück. 
Sein Vater Lorn wollte nicht, dass er ging, hatte schließlich sich selbst angeboten, mitzugehen, doch Marks Entschluss stand fest. »Lass mich. Du kannst mitgehen, aber du kannst mich nicht abhalten.«
»Ich kann doch deine Mutter nicht allein lassen. Sie hat doch sonst niemanden mehr.«
»Dann bleib bei ihr.«
»Und wenn du nicht zurückkehrst?«
»Dann geht ohne mich.«
»Wie sollen wir dich einfach zurücklassen?«
»Und wie soll ich einfach weiter machen, als wäre nichts gewesen? Ich muss und ich werde gehen, Pepe.«
Stumm hatten sie sich angeblickt, und selbst seine Mutter konnte nicht mehr tun als sagen: »Du musst zurückkommen. Und dann mit uns weiter ziehen. Töte, was du töten musst oder bring mit, was du mitbringen musst. Aber komm zu uns zurück. Sonst haben wir beide Kinder verloren.«
Mark erwiderte nicht mehr als ein stummes Nicken.
Die zwölf sammelten sich wie auf einen unsichtbaren Wink hin und bildeten eine Traube entschlossener Männer, von denen einzig Mark keine Furcht verspürte. Er hatte eine Mistgabel und eine starke Holzlatte bei sich, an seinem Gürtel hingen zwei Messer, und über seine linke Schulter trug er einen Beutel mit faustgroßen Steinen, den er schwingen konnte, wenn es nötig war. 
Die zwölf sahen sich an, nickten einander zu. Die Zeit war nun gekommen, aufzubrechen, und so zogen die zwölf los und ließen die anderen hinter sich, die ihnen schweigend hinterher blickten und nicht wussten, ob sie sie jemals wiedersehen würden.
Marks Augen fielen sofort auf die Corrin-Höhle dort hinten, diesem Loch in den Bergen. Er musste sich nicht vornehmen, sich nicht zu seinen Eltern umzublicken – er hatte nur noch Augen für die Höhle. Maraim spukte vor seinem inneren Auge, alle möglichen Geister ohne besondere Form spukten da, er stellte sich Maraims Stimme ebenso vor wie Tiratas Lachen und ein Brüllen, das wer bislang noch nicht gehört hatte. Ihm war all dies egal, ihm war das Dorf egal. Er hatte seine Waffen und seinen Mut und seine Wut. Mehr wollte er nicht und mehr gab es für ihn nicht mehr.
Nicht lange, und er führte die zwölf an, wurde immer schneller, dass die anderen kaum Möglichkeit hatten, mit ihm Schritt zu halten. Schon keuchten die ersten und murrten die anderen, die Waffen seien zu schwer für die Geschwindigkeit, und dass sie es nicht durchhalten würden bis zur Höhle. Als jemand seinen Namen aussprach, hörte er es nicht. Als jemand seinen Namen rief, um ihn zum Innehalten zu bewegen, hörte er es nicht. Als jemand zu laufen begann, um zu ihm aufzuschließen und ihm atemlos sagte »Mark! Mach langsam, wir kommen nicht alle hinterher, so wie du gehst«, reagierte er nicht. Auch die Hand, die ihm auf die Schulter gelegt wurde, schüttelte er sie einfach ab, ohne seinen Blick zu wenden oder etwas zu erwidern. 

Derweil stieg die Sonne immer höher, und langsam wurde das Dorf hinter ihm kleiner. Die anderen elf kamen überein, dass es keinen Sinn machte, ihn aufzuhalten oder ihn zu einer langsameren Gangart zu bewegen. Stattdessen griffen sie ihre Sensen, Mistgabeln und sonstige Waffen fester und bemühten sich, nicht allzu weit zurückzufallen und das Tempo zu halten. Sie lamentierten leise untereinander, dass sie zu erschöpft sein würden, wenn sie endlich zur Höhle kamen, machten sich Mut, indem sie meinten, je früher sie dem Unbekannten ins Gesicht blickten, umso besser wäre es, flüsterten, dass sie doch lieber umkehren würden und schwiegen schließlich, während der Wind um sie herum in Wellen durch die Wiesen und Weiden blies.
Bald schon hatten sie den Punkt erreicht, den noch niemand von ihnen erreicht hatte. Die Welt sah fremd aus von hier. Sie warfen verstohlene Blicke über ihre Schultern und erschraken, als sie sahen, wie weit sie sich inzwischen vom Dorf entfernt hatten. Irgendwo hinten beugten sich die Bäume um Tiratas Haus, eine Ewigkeit entfernt, der Frauenbaum zeigte als Finger zum blauen Himmel. Ferne Punkte wuchsen zu wilden Hecken und Gruppen von Büschen. Sie entdeckten einen kleinen Tümpel, von Schilf umrahmt, unentdeckt bis zu diesem Moment, und sie staunten und fürchteten sich, während die aufsteigende Hitze des Tages ihnen den Schweiß auf die Stirnen und in die Kleidung trieb.
Sie durchquerten eine Senke, die sie noch nie gesehen hatten, sie gingen an einer Furche entlang, in die sich niedriges Gebüsch duckte. Irgendwo auf ihrem Weg lagen große Steine beisammen. Sie tranken beim Gehen aus ihren Schläuchen.
Mark schritt ihnen voran, ohne die Hitze zu spüren, ohne Durst zu bekommen, ohne den Dingen, an denen sie vorbei kamen, Bedeutung beizumessen. Weit hinter ihnen, im inzwischen klein gewordenen Dorf, standen sie, bereit, sofort loszuziehen und schwiegen und schauten ihnen noch immer hinterher.
Mark sah sich zu ihnen nicht ein einziges Mal um.

Der Tag reifte heran. Die Farben der Dinge wurden voller, die Linien klarer.
Jessica war neugierig auf das, was sie sehen sollte und befürchtete insgeheim, dass es nicht so aufregend ausfallen könnte wie sie es erwartete, obgleich sie nicht im Geringsten wusste, was sie erwartete. Sie wusste lediglich, dass Tirata ihr etwas anderes zeigen wollte die Corrin-Höhle, zu der die zwölf unterwegs waren.
»Was darin ist, ist nur für die anderen von Belang«, hatte Tirata gemeint, und Jessica hatte gebeten, dennoch hineingehen zu können, und Tirata hatte daraufhin verständnisvoll genickt und gesagt: »Du würdest enttäuscht sein.« Was Jessica nicht hatte begreifen können. Warum, war es für die anderen so wichtig, wenn sie davon enttäuscht sein sollte, und auch Tirata es offenkundig für unwichtig hielt? Warum sollte das, was darin lag, das Leben der anderen verändern, nicht aber das ihre? 
Ihr kam der Verdacht, dass Tirata ihr möglicherweise etwas vorenthalten wollte. Oder war etwa das, was Jessica sehen sollte, nicht für die anderen bestimmt? »Der Wind von Irgendwo wird sie in die andere Richtung treiben, fort von den Bergen«, hatte Tirata gemeint, was immer das zu bedeuten hatte.
Während sie gingen, stellte Jessica fest, dass der Wind durch die Büsche und Bäume strich und Geschichten erzählte, die sie nicht verstand. Hier waren sie mittlerweile so weit vom Dorf entfernt, wie sich sonst niemand vorher in Richtung Berge gewagt hatte, mit Ausnahme Tiratas. 
Hier sprach der Wind eine andere Sprache, hier wollte es Jessica scheinen, als wüchse hier etwas anderes als in der unmittelbaren Nähe den Dorfs. Sie gingen die Berge hinauf, und anfänglich machte es keine Schwierigkeiten, die Steigung zu überwinden, aber je weiter sie gingen, um so steiler wurde es an einigen Stellen. Jessica keuchte und unterdrückte sich jegliches Jammern, auch wenn ihre Beine manchmal nicht mehr wollten. Sie wollte Tirata um keinen Preis verärgern, dafür war ihr das, was sich anbahnte, viel zu wichtig. 
Und je länger sie sich in der Ferne aufhielt, ja sogar immer weiter in dieser fortbewegte, erschienen ihr die Ferne und Fremde immer weniger fremd. Aber dass hier ein Land war, das hinter den Barrieren für derer im Dorf lag, das wusste sie; und das machte alles so spannend für sie.
Irgendwo links von ihnen lag die Corrin-Höhle, und jedes Mal, wenn Jessica in die Richtung spähte und versuchte, zu erraten, wo genau sie lag, klopfte ihr Herz stärker. 
Sie war sehr dankbar, wenn der Weg abflachte und normales Gehen möglich war. Sie gingen an Baumreihen entlang, die sie nur aus weiter Ferne gesehen hatte, an Wiesen vorbei, auf denen sich die Insekten wie überall tummelten; und der Wind wehte ihr Summen zu ihr, wie auch das Rascheln von Laub und Geäst.
Plötzlich hielt Tirata unter einer Baumgruppe an. Jessica kannte solche Bäume, sie wuchsen auch unweit vom Dorf.
»Es ist nicht mehr so weit«, meinte Tirata, als sie sich ins Gras setzte. »Aber machen wir eine kleine Pause, du musst ziemlich erschöpft sein.«
Jessica nickte dankbar und setzte sich ebenfalls, breitete ihre Beine aus und sah in den blauen Himmel. Sie sah Vögel daran vorbeiziehen, und sie blickte ihnen nach – wohin mochten sie fliegen? Was sollten sie sehen, wenn sie weiter dorthin flogen, wo noch kein Mensch gewesen war? Die Vögel überlegten sich nicht, warum sie so weit fort flogen, sie flogen einfach weit, weit über die Grenzen hinaus, die sich den Menschen stellten. Die Vögel konnten ihren Blick über die Berge hinaus richten, so als wäre das, was sich auch dahinter immer verbergen mochte, ihnen vertraut. Sie konnten auch über die Wälder blicken, den Fluß entlang, und nichts hielt sie auf, sie ließen sich vom Wind einfach treiben oder stemmten sich ihm spielend entgegen.
»Warum ist noch nie jemand so weit gegangen wie die Vögel fliegen?«, fragte Jessica schließlich. »Hat es uns jemand verboten?« Dabei sah sie weiter in den Himmel.
»Nein, verboten hat es ihnen niemand«, hörte sie Tirata links neben sich sagen. »Aber sie gingen trotzdem nicht.«
»Das verstehe ich nicht. Warum tun es die Vögel und nicht wir?«
»Weil die Menschen keine Vögel sind.«
»Das weiß ich. Aber warum tun sie das, was wir nicht tun? Ist es für uns gefährlich? Werden wir gefressen? Und wenn, warum dann nicht die Vögel?«
»Das einzige, das uns fressen kann, sind wir selbst. Wir gingen nicht, weil wir uns selbst fraßen. Die Vögel fliegen, weil sie es tun müssen. Weil sie nicht überlegen. Wir aber zweifeln, fürchten und zögern, und daher gingen wir nicht.«
»Was haben wir uns denn gedacht, dass wir nicht gingen?«
»Dass alles um uns gefährlich ist.«
»Ist es das denn?«
Tirata holte Luft. »Es kommt darauf an, wie du Gefährlichkeit siehst. Es gibt verschiedene Arten von Gefährlichkeiten. Wenn ein Tier aus Instinkt heraus nicht auf einen Baum klettert, dann unterlässt es das deswegen, weil es weiß, dass es hinunterfallen und sterben kann. Sein Leben ist gefährdet, also ist der Baum für das Tier in dieser Beziehung eine Gefahr für sein Leben. Wenn wir uns nicht trauen, irgendwo hinzugehen und etwas zu ergründen, dann deshalb, weil wir schlechte Erfahrungen gemacht haben, wie Tiere auch. Sie lernen, etwas nicht noch einmal zu versuchen, wenn es schlecht oder gefährlich für sie ist. Auch die Menschen lernen, dass wir Dinge tun sollten und andere nicht. Aber vieles von dem, was wir nicht mehr tun, gefährdet aber längst nicht unser Leben.  Wir lassen es aus Bequemlichkeit, aus Furcht vor Schmerz oder Anstrengung. Wir lassen es, obwohl unser Leben nicht gefährdet ist. Die einzige Gefährdung liegt in einem Schaden, den wir nicht erleiden wollen.«
»Was hat das alles mit uns zu tun?«
»Wenn wir da bleiben, wo wir wohnen und uns nicht wagen, uns davon zu entfernen, muss etwas geschehen sein, das uns davon abhält, es zu tun, nicht wahr?«
Jessica versuchte zu folgen, überlegte eine Weile und nickte schließlich.
Tirata fuhr fort: »Das, was uns davon abhält, fortzugehen, kommt von mir und meinen Vorgängerinnen.«
Jessica sah überrascht auf. »Was habt ihr damit zu tun?«
Tirata seufzte. »Die Menschen haben Angst vor der Erkenntnis. Und manchmal ist es besser, sie in dieser Angst zu belassen und dafür auch etwas zu … – lügen. Dann nämlich, wenn man weiß, dass sich die Leute so an ihre Angst gewöhnt haben, dass sie mit der Wahrheit nicht umgehen können. Für die Wahrheit muss erst die Zeit reif sein.«
Wind strich über sie rauschend hinweg. »Und jetzt ist sie endlich gekommen. Jetzt hat alles Lügen endlich ein Ende.«

Der Wind von Irgendwo – Kapitel 13: Der Frauenbaum komplett lesen

Mystery-Roman von Oliver Koch

Der Wind von Irgendwo von Anfang an lesen
Erst Kapitel 12 lesen

Als Mark erwachte, war es bereits früher Tag, und blinzelnd öffnete er die Augen. Die Sonne verbarg sich hinter einer hellgrauen Wolkendecke. Er bemerkte, dass Tsam nicht mehr im Bett lag und wunderte sich, weswegen sein Freund ihn hatte schlafen lassen.
Was war es für eine Nacht gewesen! Es war ihm schwergefallen, einzuschlafen, aber nach einiger Zeit hatte ihn das Rauschen des Windes und das Klatschen des Regens so müde gemacht, dass er sich nicht mehr hatte halten können.
Draußen hörte er das Schreien und Quieken der Kinder und das Platschen von Wasser. Ihn wunderte diese Ausgelassenheit, mit der die Kinder draußen spielten. Er konnte sich noch gut daran erinnern, dass er und Tsam durch teilweise riesige Pfützen gesprungen waren. Tsam war einmal in eine Pfütze gesprungen, die so tief gewesen war, dass sie ihm über das Knie reichte, und der Schlamm am Boden hatte ihn einsacken lassen. Er hatte wie erstarrt dagestanden und zugelassen, wie der Boden unter seinen Füßen immer weiter nachgegeben und ihn tiefer hatte einsacken lassen. Erst viel später hatte er versucht, sich zu befreien, was zu spät gewesen war. Tsam war so tief im Schlamm eingesunken, dass er sich nicht mehr hatte rühren können und zu Schreien angefangen hatte. Acht oder neun Jahre alt mochten sie damals gewesen sein und beide hatten geglaubt, dass die Erde Tsam hatte verschlucken wollen. Und beim Himmel, was hatte er geschrien! So laut und so markdurchdringend, dass das halbe Dorf herbeigeeilt war und ihn herausgezogen hatte. Als er aus der Pfütze befreit war und noch immer weinte, war seine Mutter gekommen, hatte ihm zwei Ohrfeigen gegeben und ihm gesagt, dass es unglaublich dumm gewesen war, das zu tun, was er getan hatte. Tsam hatte einfach nur dagestanden und geheult und geheult, um nach einigen Minuten wieder durch die Pfützen zu toben, sich hineinzuwerfen und andere hineinzuzerren. Am gleichen Tag hatte er auch Jessica, die noch ein Kleinkind gewesen war, genommen und in Richtung Pfütze gezerrt. Sie hatte gebrüllt, geschlagen, getreten und gekratzt, und daraufhin hatte er sie einfach in hohem Bogen in eine Pfütze geworfen. Jessica hatte einen Krach geschlagen wie niemals zuvor und niemals danach. Als ihr Vater Lorn gekommen war, um Tsam einige Schläge ins Gesicht zu verpassen, hatte sie in der Pfütze gesessen und, nass und schmutzig wie sie war, vor Vergnügen auf das Wasser um sich geschlagen und einen Spaß gehabt, dass Tsam erst recht noch einmal zu weinen begonnen hatte.
Ach ja, die Pfützen. Mark hörte das Spritzen von Wasser, und er vermutete, dass sich die Kleinen durch das Wasser jagten und sich gegenseitig hineinwarfen, wenn sie jemanden fingen, so wie das immer geschah.
Er stand auf und sah hinaus, und sein Atem stockte ihm. Das Dorf hatte sich in eine Schlamm- und Wasserwüste verwandelt. Was nicht von Wasser bedeckt war, war so wässrig, dass jeder bis zu den Knien eingesackt wäre, und er sah zahlreiche Fußspuren darin. An den Häusern entlang sah er Bretter, auf denen man gehen konnte, um nicht im Schlamm zu versinken. Nach wie vor waren die Häuser verbarrikadiert, und es war ein ungewohnter und unangenehmer Anblick. Mark hatte niemals in seinem Leben dergleichen gesehen, denn wann hatte es schon einmal einen Grund dafür gegeben? Hier im Dorf, wo es nichts gegeben hatte außer den Menschen, den Tieren und der Stille, der Einsamkeit und der Abgeschiedenheit? Mark wurde wieder schwermütiger. Es gab da keine Erzählung, die ihn auf diese Szenen vorbereitet hatte, und innerlich sträubte sich etwas dagegen. Diese Barrikaden, die das Außen abgrenzten und aussperrten: welche Gefahr sollte dort draußen bloß sein? Von welcher Gefahr meinten sie alle, dass sie draußen irgendwo ihr Unwesen trieb?
Mark sah sich die Häuser unter dem schmutzigen Himmel an, der bald schon wieder Regen bringen würde. Sie waren dunkel, durchtränkt von Nässe und schwer wie alte Steine. Das Grün der Wiesen und Weiden war dunkel und nass, und so dankbar sie auch sein mochten über den Guss, der auf sie herabgestürzt war, so sehr hatte der Regen sie niedergedrückt, dass es Tage dauern würde, bis sie sich wieder aufrichteten.
Wo Tsam sich nur herumtreiben mochte? War er unten in der Küche und saß am Tisch wie ein Bruder, den Mark nie gehabt hatte? 
Mochte Tsam dasitzen und die Lücke ausfüllen, die Jessica hinterlassen hatte? Jessica, eine Hexe, eine Andersartigkeit aus ihren eigenen Reihen – und Tsam, der diese Lücke gebührend ausfüllte, ja!
Er ging aus dem Zimmer. Wie er Treppe hinunter schritt, kam sich verlassen vor. Tsam hatte nicht im Bett neben ihm gelegen, und es war schon so unerträglich lange her, dass er aufgewacht war, ohne jemanden im Nebenbett liegen zu sehen. Das Haus kam ihm leer vor.
In der Wohnküche war niemand. Draußen spielten noch immer die Kinder. Konnte es sein, dass Tsam mitspielte? 
Mark stellte sich Tsam von all den Kindern umringt durch die Pfützen tobend vor, wie er auf alle aufpasste.
Ihm wurde schwer ums Herz. Bis vor einigen Tagen noch wäre es keine Schwierigkeit gewesen, ihn darauf anzusprechen, und man hatte darüber gesprochen. Aber nun war eine Barriere zwischen ihnen, eine, die zwar nicht ihre Freundschaft zerstörte, aber eine, die sie eigenständiger werden ließ. Plötzlich kam das Gefühl der Peinlichkeit, dem anderen etwas Bestimmtes zu erzählen. Das Gefühl, sich der Lächerlichkeit preiszugeben.
Und so spielte Tsam wahrscheinlich draußen mit den Kindern und hatte ihn vergessen.
Nun, wenn schon niemand da war, so entschied sich Mark dennoch, zu frühstücken, und er wusch sich zuerst mit bereitgestelltem Wasser, um sich, nachdem er sich angezogen hatte, daran zu machen, sein Frühstück zuzubereiten.
Dann hörte er von draußen her wildes Geraune von Erwachsenen, aufgeregt und teilweise schrill, viele riefen durcheinander.
Mit einem Zug leerte er seinen Becher Milch und schritt mit polternden Schritten zur Tür. Draußen roch es nach nasser Erde. Aber da war noch etwas anderes in der Luft, geruchlos, mehr eine Vibration.
Die Kinder waren verstummt und hatten sich in einer Traube zusammengefunden, die ein paar Häuser links von ihm stand, wo einige Männer und Frauen zusammenstanden und gestikulierend miteinander sprachen. Immer mehr liefen über die feuchtdunklen Bretter am Boden, und bei jedem Schritt schmatzte das Wasser der Pfützen unter ihnen.
Sein Magen zog sich zusammen. Er machte sich auf den Weg, und obwohl er aufpassen musste, vom glitschigen Holz unter sich nicht abzurutschen, ließ er die ganze Zeit die Menge nicht aus den Augen. Je näher er kam, um so deutlicher sah er die entsetzten Gesichter, um so mehr Tränen sah er über mehr Gesichter rollen. Er sah, dass viele ihren Blick zu Boden gesenkt hatten. Er sah, dass viele die Hände vor das Gesicht schlugen und dort behielten, er sah die Kinder, die eben noch ausgelassen gewesen waren, weinten.
Mark lief immer schneller, und die Bretter beschrieben zu der Gruppe einen Umweg, er musste an ihr vorbei, an einigen Häusern entlang, bis er endlich zu der Gruppe stieß. 
Graue Gesichter empfingen ihn, so grau wie der Himmel. Man schluckte, als man ihn kommen sah. Viele sahen ihn an und nahmen sofort den Blick wieder von ihm. Sein Vater kam ihm entgegen. Und als Lorn ihm berichtete, was geschehen war, spürte Mark, wie ihm sein Herz aus der Brust gerissen wurde.
Atemlose Stille wie nach dem Ende der Welt. Stille, die davon zeugte, dass nichts mehr lebte, nichts mehr war. Stille, die jenseits aller Zeiten das Ende aller Zeiten markierte. Mark stand am Wasser des zu einem Fluß angeschwollenen Bachs und sah dabei zu, wie Harban, der auf seine fünf Pferde stolz war, in das Wasser watete und bis zur Brust darin verschwand. Er zog an etwas, das sich in dichtem Buschwerk am Rand verfangen hatte, das sonst drei Meter vom Wasser entfernt den Bach säumte.
Ein Körper hing darin, und jeder von ihnen wusste, wer da aus dem Wasser gezogen wurde. Tsams Eltern schüttelten, die Mutter lag in den Armen eines Nachbarn, der sie tröstete, weil ihr Mann nicht dazu in der Lage war. Er stand betäubt da und konnte nur reglos zuschauen. Immer wieder tauchte Tsams Gesicht aus dem Wasser auf, während Harban versucht war, den Körper so sorgsam wie möglich aus dem Geäst zu befreien. Bei vielen der Umstehenden erschien Maramis Schatten kurz inter einem Baum, neben einem Strauch, einem Haus.
Nicht wenige schlossen ihre Augen.
Harban rief Verstärkung. Der Körper ließ sich nicht ohne Weiteres aus dem Geäst befreien, und sofort stürmten einige Männer zur Hilfe, auch Lorn gehörte dazu und war einer der Ersten neben Harban. Tsams Körper war eiskalt und die Haut von leicht gräulicher Farbe.
Im Wind standen alle wie Dolmen in der Landschaft und sahen dabei zu, wie sich unter knackendem Geäst Tsams Körper aus dem Gestrüpp löste und aus dem Wasser gezogen wurde, tot für alle Zeiten.
Nach einer Weile, an deren Länge sich Mark nie würde erinnern können, lag Tsam schließlich am Ufer und das Wasser rann an ihm herab. Seine Augen blickten ins Irgendwo, ohne jeden Ausdruck in die unendliche Ferne. So sehr Mark es sich wünschte, so sehr blieb sein Blick von Tsam unerwidert. Tsams Kleidung klebte ihm am Köper und hatte das Geäst nicht unbeschadet überstanden. Die Haare lagen nass am Schädel. Der Wind glitt über ihn hinweg, ohne etwas zu bewegen, einzig die Wimpern tanzten im Luftzug. 
Sie alle traten näher heran, und auch Marks Beine trugen ihn näher an Tsam heran, um den die Männer im Schlamm knieten. Er sah Tirata erscheinen, man machte ihr Platz, und sie beugte sich zu Tsam herab, berührte seine Stirn, berührte seinen Hals, fuhr ihm durchs nasse Haar. Neben ihr stand Jessica, stumm und bleich.
Für Mark gab es keine Welt mehr. Im Fokus all dessen, was er sah, lag Tsam. Da gab es keine anderen, da gab es kein Dorf. Es gab kein Bach und kein Gras und keinen Schlamm und keinen Himmel. Da lag nur Tsam. Windböen rauschten in Marks Ohr, er spürte den Wind in seinen Haaren und sein Hemd aufblähen. 
Mehr geschah nicht, scheinbar für Ewigkeiten. Mark blickte in die Augen von Tsam und fragte sich, was er wohl als Letztes gesehen haben mochte. Etwas war es gewesen, so oder so. Unscharfe Wasserwirbel vielleicht oder der Himmel, der Boden, Gras? Maraim etwa, der ihn ins Wasser gestoßen hatte? Was zeigten diese Augen? Furcht vielleicht oder Erlösung möglicherweise, Erstaunen? Tsams Augen verwehrten Mark die Antwort.
Vielleicht waren die Geister der Corrin-Höhle für all dies verantwortlich, der Mann vor der Höhle in Morkus‘ Buch: welchen Eindruck mochte er wohl auf Tsam in den letzten Sekunden gemacht haben? Hatte dieser Mann ihn hereingeworfen? Oder war es doch Maraim, wie alle befürchteten? Und wenn er Maraim gewesen war, war Maraim nun etwa der Mann vor der Höhle in Morkus‘ Buch? Dann war dieser Mann böse.
Nie gespürte Wut stieg in Mark empor und mischte sich in seine Trauer. Es war, als begänne sein Körper zu brennen – und dieses Feuer war es, das ihn dazu brachte, sich aus der Erstarrung zu lösen. Tränen stiegen in seine Augen, und er konnte nicht anders, als sie fließen zu lassen. Er sah all die Gesichter um sich herum. All diese Menschen hätten Vieles gegeben, um Tsam wieder zum Leben zu erwecken, und Mark hätte seine Beine geopfert.
In die Stille fraß sich etwas Neues in Trauer und Schmerz. Es war Hass. Hass gegen den, der das zu verantworten hatte. Oder gegen ein Etwas, und wenn es nur ein Stein war, der sich in Tsams Weg gelegt und sein Schicksal besiegelt haben mochte. Hass gegen den Mörder, der sich als Untoter an seinem eigenen Bruder gerächt hatte. 
Mark wusste nicht mehr weiter. Er sah dabei zu, wie Harban Tsam aufhob und auf seinen beiden Armen trug, sah, wie Tsams Arme und Beine schlaff herunterhingen wie nasses Gras, wie Tsams Kopf mit seinen geöffneten Augen nach unten kippte. Sah, wie Tropfen von  Tsams Leib zu Boden fielen. Sah, wie Harban, umringt und gefolgt von den anderen, Tsam in Richtung Dorf trug. 
Mark konnte ihnen nicht folgen. Stattdessen wandte er sich ab und ging in die weiten Felder, in denen er mit Tsam so viel Zeit verbracht hatte. Er wandte sich zum Frauenbaum, der da einsam inmitten von im Wind wehendem Grün stand, und obgleich er nicht die Stimmen der Leute im Kopf hörte, die die vielen Geschichten über den Baum erzählten, so verband er mit diesem Baum doch etwas nie Gespürtes. Er und Tsam waren die einzigen Kinder gewesen, die ihn erklommen hatten, sogar einigen Male. Und jedes Mal war ein heiliges Kribbeln in ihnen aufgestiegen, ein Gefühl, als stießen sie zum Kern aller Schöpfung vor.
Sie hatten gemeint, damit Herrscher über das Schicksal zu werden. Dieser Nervenkitzel, die eigenen Finger in Rinde zu drücken, die nach den Geschichten älter war als jede Zeit, dieses Gefühl, auf Äste zu steigen, von denen man sich erzählte, dass dort mächtige Geister saßen, um von der Ferne das Dorf zu beobachten: all dies hatte Mark und Tsam zu Beherrschern des Unabwendbaren gemacht. Sie hatten ihren Mut zusammengenommen und hatten dem Ewigen und Wahren ins Auge geblickt und hatten sich darüber triumphiert, dass sich nie jemanden nahe genug an den Frauenbaum heran gewagt hätte, um sie zu verjagen. 
Immer, wenn sie in dem Baum gesessen hatten, waren sie sich großartig vorgekommen, hatten sich mächtig gefühlt, weil sie etwas gewagt hatten, das niemand außer ihnen gewagt hätte. Und weil sie niemandem im Dorf darüber berichten konnten, da sie bestraft oder schlimmstenfalls gar gemieden worden wären. So hatten die beiden einträchtig mit dem Allgegenwärtigen ein Bündnis geschlossen: sie lebten mit ihm, und es ließ sie in Ruhe.
Bis jetzt.
Der Wind um Mark schien Geräusche Tsams mit sich zu tragen. Mark hörte seine Schritte hinter sich, hörte das Gras rascheln, als liefe Tsam hindurch, hörte Zweige brechen, so als träte Tsam auf sie. Mark verlor sich in diese Vorstellungen, während er weiter ging, doch immer wenn er sich umblickte und meinte, Tsam ganz selbstverständlich hinter sich zu sehen, wie er ihm gut gelaunt folgte, musste er erkennen, dass Tsam nicht hinter ihm war, ihm nicht folgte, nicht mehr bei ihm war.
Er kam dem Frauenbaum näher und sah an ihm hoch. Der Wind keuchte durch die Äste. Mark spürte den Wind in seinen tränennassen Augen. War ihm der Baum bislang stets wie ein Freund vorgekommen, so schien dieser Freund dieses mal seine Gestalt verändert zu haben. »Ich habe auf dich gewartet«, sagte der Baum zu Mark.. »Ich dulde niemanden neben mir. Ich dulde niemanden.«
Mark holte tief Luft, und es kostete ihn Kraft, sich davon zu überzeugen, dass diese Worte nur eingebildet gewesen waren. Der Frauenbaum war mächtig und böse, wie er den Wind als Stimme benutzte. Warum war Mark nur nie aufgefallen, dass dieser Baum tatsächlich furchterregend aussah?
Scharfe Windböen schleuderten durch Marks Haare, und das Laub des Frauenbaums zischte.
Mit all seiner Wut trat Mark den Stamm des Baumes, er knickte Äste ab. An die dicken hängte er sich oder kletterte auf sie, um auf ihnen herumzuspringen, bis sie abbrachen. In seiner blinden Wut wollte er den Baum zerstören, wie dieser auch sein Leben zerstört hatte. Was gab es für Mark nun noch im Dorf? Plötzlich spürte er, wie klein und erbärmlich das sonst heimatliche Dorf doch war. Was gab es hier schon? Tsam war tot. Sein Freund war fort, und es gab nichts mehr, was ihn noch hier hielt. Warum nicht fortgehen? Warum nicht dort hingehen, wo  Tsam vielleicht nun leben mochte, weit entfernt, wo die Sonne jeden Morgen aufstieg oder unterging?
Was hielt ihn nun noch im Dorf? Alle dort fürchteten sich vor Geistern, fürchteten die Rache von Maraim, den sie selbst vertrieben hatten. Alles schien sich nun für all die Trägheit rächen zu wollen, in der das Dorf seit Menschengedenken lag. 
Alles wollt der Wind von Irgendwo ändern, indem er über das Land brauste und alle mit sich riss, einen Loch in ihr Leben blies, sie aushöhlte und alle Wünsche, Träume und Sehnsüchte mit sich riss, wenn sie nicht willens waren, ihm zu folgen, dorthin, wo er alles, was er ihnen genommen hatte, ablud. Das Dorf war und blieb ein Ort des Vergessens. Und Mark wollte fort von hier. Aber vorher wollte er all die Geheimnisse lüften, die über allem lagen. Er wollte in die Corrin-Höhle gehen. Er wollte sehen, was sich dort Fremdes verbarg, und ob gemeinsam mit anderen oder allein – er wollte wissen!
Als er diesen Entschluss gefasst hatte, bemerkte er, dass er in seiner Wut den Baum zerstört hatte. Seine Äste lagen auf dem Boden, zerbrochen und zertreten. Er betrachtete sein Werk und fand, dass es gut war, und lief zum Dorf zurück, um den anderen von seinem Vorhaben zu berichten.

Der Wind von Irgendwo – Kapitel 12: Gewitternacht komplett lesen

Mystery-Roman von Oliver Koch

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Es war, als wollte die Nacht die letzte werden, die sie alle erlebten, so stark war das Unwetter mit Blitz und Donner. Es war, als wollte der Wind von Irgendwo die Welt aus den Angeln heben und sie ins Unbekannte schleudern. Starker Regen fiel fast waagerecht zu Boden, getrieben von starkem Wind. Die Gräser gingen zu ihrem Schutze in die Knie, Büsche machten sich flach, Bäumen stemmten sich der Gewalt entgegen. Der trockene Boden sog zunächst auf, was er erhielt, doch bald schon wuchsen Pfützen zu kleinen Seen.
Vom vor Nässe dunkel werdenden Holz der Häuser strömte das Wasser in Rinnsalen zu Boden, als seien die Wände selbst fließend, und zwischen den Häusern begannen Bäche zu gurgeln. Blitze zuckten wie Sprünge in einer Glaskuppel, und Donnerschläge brachten die Wände zum Zittern. 
Tsam lag im Bett und starrte an die Decke, unter der sich die Geister tummelten, die seinen Schlaf gefangen hielten. Er sah sich nach rechts um und sah dort einen tief schlafenden Mark, und ab und zu glaubte er Marks gleichmäßiges Atmen hören zu können, aber da war er sich nicht sicher. Bei jedem Blitz zuckten Gespenster der Dinge auf, die im Raum waren. Sie zeigten sich kurz, um ihn zu ängstigen und verschwanden danach wieder im furchterregenden Schleier der Dunkelheit.
Ein mächtiger Donner rumpelte über das Land, und gleich darauf wurde es in dem Zimmer für eine ganz kurze Zeit wieder gleißend hell.
Tsams Herz schlug aufgeregt. Als kleines Kind hatte er stets Furcht vor Gewittern gehabt, und Maraim hatte ihm dazu stets böse Dinge gesagt: »Da kommt ein Drache, und der ist böse. Böse, weil du Pepe nicht geholfen hast. Jetzt kommt der Drache und holt dich.« Langer Zeit hatte es bedurft, bis Tsam derlei Schrecknisse überwunden  hatte. »Da ist kein Drache«, hatte seine Mutter einst gesagt. »Maraim wollte dir nur Angst machen. Du bist ein ganz lieber Junge.« Doch heute Nacht glaube er fest an den Drachen.
Tsam stellte sich vor, wie die ferne Bergkette zum Leben erwachte und sich als der Drache zu erkennen gab, der Jahre geschlafen hatte, und der sein Maul nun aufriss: Die Corrin-Höhle, die wuchs und wuchs. Sie war dunkler als die Nacht, und der Drache schob sich mit Blitz und Donner vorwärts, immer weiter auf das Dorf zu.
Die Wände seines Zimmer bewegten sich. Zunächst vibrierten sie nur ein wenig, schoben sich dann aber mit jedem Blitz, der das Zimmer erleuchtete, weiter zusammen. Schließlich umschlang ihn seine Decke, dass er seine Arme nicht mehr bewegen konnte, so sehr er es auch versuchte. Fast ohnmächtig vor Angst wagte er nicht, zu schreien, bis ihm der Atem dazu fehlte. 
Er schloss die Augen und versuchte, sich zu beruhigen und sich bewusst zu werden, dass Decken nicht lebendig wurden und sich um Körper wickelten, und Wände auch nicht näher kamen. Es gelang, auch wenn Donner auf Donner folgte. Als er endlich wieder die Augen öffnete, fiel sein Blick auf die Zimmerdecke über ihm. Draußen tobten Regen und Blitz. Der Wind von Irgendwo, hieß es, brachte alle auf andere Wege. Nichts sollte danach mehr so sein wie früher. Der Wind von Irgendwo war gut. Man sollte sich ihm beugen, man sollte wie das Gras sein. Man sollte ihm nicht die Stirn bieten, und man sollte ihm entgegengehen, denn er käme auf jeden Fall.
Man hatte aufbrechen wollen in eine bessere Zukunft, man hatte die Dinge ändern wollen! Doch nun stellte sich die Frage: Waren sie reif dafür? Waren sie in der Lage, dem Neuen zu widerstehen oder mit ihm glücklich zu werden? Hatten sie nicht noch irgendwo tief in sich eine unüberwindbare Furcht, die sie daran hinderte, eine neue Zukunft wirklich befreit zu begehen?
Heute Nacht  saßen sie in ihren Häusern und kauerten vor Angst, plötzlich wollte niemand von ihnen mehr so mutig sein, aufzubrechen, da war sich Tsam sicher. Der Wind von Irgendwo: nun war er böse, durchtrieben und unglaublich mächtig.
Tsam zitterte bei dem Gedanken, dass dieser Wind es war, der um die Häuser strich, dass dieser Wind es war, der Tod und Verderben brachte! Dass dieser Wind die Angst brachte.
Und Maraim! 
Tsam sah ihn, auf das Dorf zukommen, vom Regen und Wind umtost, wie ein Fels, der heran gerollt kam. Nichts konnte ihm etwas anhaben. Sein fetter Leib war vom Regen durchtränkt, seine Augen waren groß und aufgequollen, überall hüpften Frösche um ihn herum. Maraim kam auf das Dorf zu, und nichts konnte ihn aufhalten, denn er kam mit dem Wind, und der Wind war sein Verbündeter! Der Wind von Irgendwo hatte Maraim geschickt.
Seit dem Feuer, an dem Morkus das Buch herausgekramt und das farbige Bild darin gezeigt hatte, seit Tirata gekommen war und ihnen gesagt hatte, dass die Zeit zur Erkundung der Höhle gekommen war, war alles anders. An dem Abend war der Funke aufgeflammt, nachzusehen. Was hatte dieser Funke letztlich gebracht? Angst und Zweifel hatte er gebracht. In den luftigen Höhen des allmählichen Hinterfragens hatte er in ihnen einen Brand der Furcht und des Entsetzens ausgelöst, und nun waren sie nicht in die Höhle gegangen, sondern hatten sich in die dunklen, verborgenen Tiefen ihrer verbarrikadierten Häuser und ihrer Seelen geflüchtet und fanden dort nur Zweifel und Grauen.
Der Wind von Irgendwo wütete draußen schon. Ers war nicht so, dass er einfach nur langsam auf sie zukam: er war bereits da, er hatte das Dorf schon längst erreicht und wütete darin.
Tsam blickte nach rechts und sah Mark dort fest schlafend, ihm den Rücken zugewandt.
Wie dumm Tsam sich verhalten hatte! Er war fortgelaufen und hatte Mark stehenlassen – oder hatte er sich dumm verhalten, als er Mark mit seiner Trauer belästigt hatte? Oder hatte er sich gar nicht dumm verhalten?
Er wusste nicht mehr, was er denken sollte. Mark hatte ihn in den Arm genommen, und er schämte sich dafür. Mark interessierte sich für Sarah, er selbst war bei dem Anblick Alkas in Verzückung geraten.Zwar hatte er Alka heute nicht gesehen, aber nur weil er niemanden hatte sehen wollen. Alka hatte er nicht niedergeschmettert in die Augen sehen und ihr sagen wollen, wie schlecht er sich fühlte. Und dann war Mark gekommen, fast ebenso zerrissen wie er, zeitweise genauso außer sich wie er, und er hatte Mark all seine Schwäche gezeigt … – warum bloß? Er schloss für einige Augenblicke die Augen und schüttelte sich vor Scham. Mark war sein Freund, aber mehr war er nicht. Wie hatte er sich nur ihm gegenüber zu solch einer Schwäche hinreißen lassen können?
Tsam hörte den Regen peitschen und den Wind keuchen, während Drache sich weiter näherte. Um das Dorf in Schutt und Asche und legen! Tsam stellte sich vor, wie die Blitze statt aus Wolken aus dem Maul des Drachen kamen. Die Donnerhalle waren die kraftvollen Tritte dieses mächtigen Wesens der Rache. Tsam sah hinter der Echse einen großen, öligen Ozean, der durch die Berge bislang verdeckt gewesen war. Wären die Menschen des Dorfes nur einmal dort heraufgeklettert, hätten sie ihn sehen können! Dieser Ozean brodelte und brandete mit Wucht an die Berge, und mit jeder Welle spülte er grüne, zischende Schlangen ans Ufer. 
Da hielt es Tsam nicht länger im Bett, und er sprang mit rasendem Herzschlag zum Fenster. Dort unten stand sie. Stand im Regen, ungerührt. Stand etwa zwei Häuserspannen entfernt. Trug beulenartige Auswüchse und Deformationen an allen Seiten zur Schau, zwischen denen das Regenwasser hinab perlte. Tsam war klar, wer dort unten stand, ohne sich zu regen. Diese Gestalt stand einfach da und blickte ihn an. So sehr Regen und Wind auf den Körper schlugen, sie rührte sich nicht. 
Tsam wurde schwindelig vor Angst und vermochte nichts weiter zu tun als reglos auf die Gestalt zu starren und zu hoffen, dass er lediglich einer Einbildung erlag. 
Da hörte Tsam die Frösche quaken. Sein Herz setzte aus. Da wieder. Und er meinte, dass vielerlei Kleines um diese Gestalt hüpfte. Tsam sah das Wasser auseinander speien, wenn diese kleinen Körper im Wasser hüpften. 
Tsam war klar, dass dort draußen niemand war, dass dort draußen keine Gestalt Regen und Sturm trotze. Und dennoch sah Tsam sie, wie sie dastand und zu ihm aufblickte.
Da zerriss ein Blitz der Dunkelheit, und Tsam erkannte die dreckverschmierten, nassen Züge seines Bruders, dessen Mörder Tsam zu sein glaubte, und Maraim stand da und schien zu lachen, und bei jedem Blitz konnte Tsam Maraims höhnisches Lachen sehen. 
Tsam drehte sich zu dem schlafendem Mark um, wollte ihn wecken, ließ es dann aber, denn diese Gestalt dort draußen ob eingebildet oder nicht war nur seinetwegen gekommen, und Mark hatte damit nichts zu tun. Tsam war der Bruder des Phantoms, nicht Mark. 
Es galt, etwas zu unternehmen, vielleicht Maraim um Gnade anzuflehen. Doch wie sollte man etwas gegenübertreten, was aus dem Unbekannten kam? Ob Maraim geradewegs aus der Corrin-Höhle gekommen war, vom Drachen ausgespuckt, um Rache zu nehmen?
Ich gehe hinaus, dachte sich Tsam. Ich gehe hinaus und gebe mich ihm hin.
So ging er tatsächlich los. Wäre Mark wach gewesen, hätte er einen aufgebrachten, aber schlafwandelnden Tsam gesehen, der, schwer keuchend, aus dem Zimmer herausging, ohne zu wissen, was er tat. Und Mark hätte ihn wohl wecken können, wenn er ihn nur kräftig genug geschüttelt hätte.
Tsam ging die Treppe hinunter in die dunkle, dumpfe Küche. Er öffnete die Tür, Frische peitschte in die Küche, und Tsam ging mit nackten Füßen in die Nacht hinaus. Er trat schlurfend durch das Wasser, das mehr als knöchelhoch stand, und Haare und Kleidung waren nach Sekunden schon triefnass. Tsam ging auf etwas zu, was nicht existierte, doch für ihn war es vollkommen real. Er sah Maraim ein paar Meter entfernt stehen, und Frösche hüpften an diesem herab und fielen platschend ins Wasser zu seinen Füßen. Tsam sah Maraim in ein eigentümlich graues Gesicht, angesichts der Verwesung verzerrt, und er blickt in Maraims Augen voller Bösartigkeit. Tsam blieb stehen und sah ihn an. Er wollte wissen, was er zu tun hatte. Ein heftiger Windstoß riss ihn fast zu Boden, und als ein Blitz aufkam, erkannte Tsam Maden in seines Bruders Gesicht. Maraim sagte nichts, starrte ihn nur an aus toten, bösen Augen, umtobt von Gewitter und Kälte, und schließlich hob Maraim den rechten Arm und zeigte auf den Bach in der Ferne. Tsam nickte und ging, von Maraim gefolgt, dorthin, und als er dort war, drehte er sich zu Maraim um und sah ihn nicht mehr. Und schlagartig wurde ihm klar, dass es Maraim nicht mehr gab. Maraim war tot und existierte nur noch in seinem Kopf. Er wurde verrückt durch dieses Phantom, das das Dorf bedrohte. Und wenn diese Bedrohung nur in seinem Kopf existierte, war er, Tsam, die Bedrohung. Er sah zu dem Bach, der durch die starken Regengüsse zu einem Flus voller Gischt angeschwollen war. Tsam nickte und schluckte. Ja, Maraim war tot. Und er selbst war verrückt. Er sah zur schlafenden Echse herauf und erkannte nur Berge. Er bildete sich ein, in das klaffende Maul der Hölle zu sehen und sah nur eine Höhle. Er wurde sich bewusst, dass es keine Phantome gab außer in seinem Kopf. Sollten diese Phantome durch ihn leben, so würden sie mit ihm sterben. Und geistesverloren ließ er sich, gefolgt von Blitz und Donner, in das Wasser fallen. Und der Wind fegte die Kreise, die er auf dem Wasser hinterlassen hatte, fort.
Wind und Regen tobten um Morkus‘ Haus, und seine Frau lag in tiefem Schlaf. Er saß in der großen Wohnküche. Das Innere des Hauses lag in holzigem Geruch, und das Feuer, räucherte diesen Geruch. 
Morkus war müde, doch er konnte nicht schlafen, zu laut tobte es draußen. So saß er in der Wohnküche und beschäftigte sich mit allerlei Bildern, die das Feuer an die Wände malte. Es erschuf fremdartige Dinge aus dem Stuhl, aus den Stühlen, aus den Töpfen, die an einem Balken hingen, aus dem Balken selbst. Es ließ sie tanzen und flackern, lies sie verschmelzen und auseinander driften. Betäubt durch die Wärme und  das Flackern des Feuers und eingelullt in Müdigkeit, erkannte er Gestalten in den Schatten dort an den Wänden. 
So meinte er, Tirata zu erkennen, die mit all ihren Vorgängerinnen tanzte. Er sah Dinge, die so merkwürdig waren, dass er sie sich lediglich hinter den Bergen vorstellen konnte, wo nie zuvor ein Mensch gewesen war. Er sah große Vögel, die weit oben am Himmel flogen, so hoch, dass das Dorf nur ein kleiner Fleck war. 
Er dachte an das Bild, das den Mann zeigte: er fand, dass nichts Angsteinflößendes an ihm war, und er sah die Notwendigkeit, das Unglaubliche zu wagen. In die Tiefen hinabzusteigen, in die Tiefen des Berges, in die Tiefen ihrer Angst: hinein in die Höhle ! Wenn etwas Gutes darin war, dann wäre es gut, es zu entdecken, denn Gutes tat nichts Böses. Dann sollte sich offenbaren, dass all die Angst, die das Dorf beherrschte, unbegründet war.
Und sollte doch etwas Böses darin sein, das alles bedrohte, so war es den Versuch wert, dieses Böse zu finden und mit vereinten Kräften auszuschalten. So oder so: die Notwendigkeit bestand. Wenn das Böse darin herrschte und sich letztlich als unbesiegbar herausstellen sollte, dann konnte man noch immer fortgehen.
Eine innere Stimme fragte in ihm flüsternd: »Wohin?« Und im Halbschlaf, antwortete er im Geist: »Der Wind von Irgendwo wird uns schon treiben.« Morgen würde er mit den Leuten beraten, und Tirata würde ihm zustimmen. Niemand würde sich der Wahrheit, die in seinen Gedanken steckte, entziehen können. Es mussten nicht alle mitgehen auf die Entdeckungsreise! Aber er würde mitgehen!
Blitze zuckten, und fast augenblicklich darauf krachte ohrenbetäubender Donner, und Morkus fuhr hoch. Er hatte nicht geschlafen, vielleicht ein wenig gedöst, aber das nicht lange, das wusste er. Er hatte nicht einmal die Augen geschlossen.
Erneut betrachtete er die Schatten und meinte, den Mann aus der Höhle zu sehen, wie er in dem Buch gezeichnet war. Wer er wohl war? Und wer ihn wohl gezeichnet hatte?! Wer, wenn niemand aus dem Dorf? Wo war denn dieses Irgendwo, dieses Anderswo, wo der Mann lebte oder einst gelebt hatte? Warum war niemand darauf gekommen?
Und dann sah er Maraim.
Drohend, dick und furchteinflößend war er zu sehen als Schatten an der Wand, und Morkus erstarrte, und es blitzte und donnerte einige Male. Er saß auf dem Stuhl und sah Maraim in dessen schattenhaftes Antlitz an der Wand. 
Morkus umfasste seine Mistforke fester. Er konnte nicht verleugnen, dass sich sein Magen zusammenkrampfte und ihm der Schweiß ausbrach. Doch trotz allem konnte diese Schattengestalt nichts weiter sein als ein Schatten, ein Nichts! So stand Morkus trotz aller Angst auf, die Holzbeine des Stuhls schabten seufzend über den Holzboden. Es blitzte, alles wurde schlagartig blendend weiß und sofort darauf wieder feuerrot. Der Donner krachte. Morkus schritt auf den Schatten zu, der nach wie vor Maraim zeigte. All die anderen Dinge, die er aus dem Schatten erkannt hatte, waren längst wieder verschwunden. Tirata beim Tanz mit ihren Vorgängerinnen hatte er, nachdem er sie erkannt hatte, gleich wieder aus den Augen verloren, ebenso wie die Vögel und die anderen Dinge: Bären, Bäume, Häuser, Freunde, und auch den Mann aus der Höhle.
Doch Maraim war immer noch da.
Er stand nun zwei Meter von dem flackernden Maraimschatten entfernt und sah ihm ins Antlitz. Das Feuer brachte Maraims Augenhöhlen zum Brodeln, und Morkus war kurz davor, einen Schritt zurückzutun, doch dann entschied er sich anders. Er nahm seine Mistforke und stach auf den Schatten von Maraim ein, immer und immer wieder, und die Wand bekam Löcher über Löcher, und das Einfahren der Gabel ins Holz machte dumpfe Geräusche. Es blitzte, es gab einen gewaltigen Donner, und Morkus erblickte Maraim nicht mehr. Der Schatten war verschwunden.
Alles war verschwunden, und Morkus sah das erste Mal in seinem Leben klar.

Der Wind von Irgendwo – Kapitel 11: Die Geißel der Angst komplett lesen

Mystery-Roman von Oliver Koch

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Erst Kapitel 10 lesen

Der nächste Morgen begann mit ungewohnter Nervosität.
Männer und Frauen strichen wie abgefallene Blätter durch das Dorf und änderten immerzu ihre Richtung. Mark spürte, dass etwas vorgefallen sein musste – und das allein schon war etwas Bedeutsames, denn in diesem Dorf geschah nie etwas.
Er war durch Stimmen von draußen geweckt worden; ein höchst seltsamer Umstand. Er bemerkte, dass draußen ein starker Wind ging, der um das Haus pfiff. 
Mark sah zu Jessicas leerem Bett hinüber und ließ seinen Blick eine Zeitlang dort haften. Erstmals wusste er, dass Jessica die ganze Nacht über nicht in ihrem Bett gelegen hatte. 
Stattdessen hatte sie die Nacht in diesem Haus der Wahrsagerin verbracht. Instinktiv fragte er sich, was Jessica dort wohl vorfand. Das Haus war so brüchig, dass seine Zeit wohl bald kommen musste. Und was tat Jessica dann? Ins Dorf würde sie nicht mehr zurück kommen können als eine von ihnen, schließlich war sie nun eine Geheimnisvolle geworden, und Mark konnte diesen Gedanken kaum klar fassen.
Er stand auf und blickte aus dem Fenster nach draußen. Dort unten sprachen einige Leute aus dem Dorf wild miteinander, auch sein Vater war unter ihnen. Mark sah trotz der Entfernung aus ihren Zügen Entsetzen, und sein Magen begann vor Aufregung zu jucken.Mit Grauen dachte er daran, dass man Maraims Leiche gefunden haben mochte, weit ab in einem Feld. In gewisser Weise hatten sie alle gemordet und einen Menschen auf dem Gewissen, das wusste jeder. Die Vorstellung von Maraims Rückkehr als lebender Toter, der an Ihnen Rache nahm, nistete sich in seinem Kopf ein und wich nicht mehr.
Gleichzeitig kam ihm ein weiterer Gedanke: Dass man nämlich damit begonnen hatte, Jessica zu töten, denn sie wandten sich von ihr ab wie von Maraim. Wer nicht dazu gehörte, wurde verjagt oder gemieden!
Ekel kam in ihm auf, doch seine Neugier war stärker. Er wollte erfahren, was geschehen war. So lief er hinaus, nur mit einer kurzen Hose bekleidet, die er zum Schlafen getragen hatte und gesellte sich zu der Gruppe.
Der Wind war heftig, und es war dermaßen kühler geworden, dass Mark sogar ein wenig fror. »Was ist denn los?«, fragte er und sah in die Runde. Aus dem hektischen Durcheinanderreden bekam er Wortfetzen mit wie: »Jetzt holen sie uns.«
»Sie werden keine Gnade mehr kennen.«
»Erst die Tiere, dann wir.«
»Was tragen wir doch alle für eine Schuld in uns.«
Mark erhob die Stimme. »Aber was ist denn los? Was, um alles in der Welt, ist passiert?«
Mark traute seinen Augen nicht. So etwas hatte er noch nie gesehen. Da er sich Derartiges auch nie hatte vorstellen können, fehlten ihm jegliche Worte. Keine Frage, hier war tatsächlich etwas vorgefallen, und wer oder was dies hier angerichtet hatte, für das hatte niemand im Dorf einen Namen. Im Dorf kannte man Wahnsinn lediglich aus Erzählungen, die so furchterregend waren, dass viele Kinder sich vom abendlichen Feuer lösten und nichts mehr hören wollten, und auch den Erwachsenen trieb es den Angstschweiß auf die Stirn.
Er stand mit über der Hälfte des Dorfes auf einer Weide in einiger Entfernung des Dorfes, auf der Kühe gestanden hatten – nun lagen sie auf dem Boden, dahin geschlachtet mit Rissen in ihren Körpern. Aus einigen hingen die Gedärme heraus wie ein Haufen rosiger Würmer. Einigen fehlte der Kopf, und rund um die etwa zehn Kadaver war die Wiese von riesigen Blutseen getränkt. Die übrig gebliebenen Kühe standen wie verloren abseits der Gruppe aus dem Dorf, die fassungslos dastand.
Einige Frauen weinten, denn hier lagen mehr als nur zehn Kühe auf der Weide – hier lagen auch kostbare Vorräte, und wer konnte so grausam sein, dem Dorf einen solchen Schaden zuzufügen? Die Kühe waren regelrecht zerstückelt, andere zur Hälfte ausgenommen … und auch jeder aus dem Dorf schon einmal beim Ausnehmen eines Tieres zugesehen oder mitgemacht hatte, so unterschied es sich erheblich von dem, was sie hier sahen.
Schweigend machte Mark sich auf den Rückweg, neben ihm schritt Jalia, eine Frau fortgeschrittenen Alters, und sie weinte leise in den Wind hinein. Neben ihr ging ihr Mann Mika mit starrem Blick.
Mark wollte ein Wort sagen, wollte zu ihnen sprechen, doch ihm fehlten die Worte. Auch er hatte Angst, eine Angst, die noch nie so ergreifbar wie nun. Der Himmel wurde zu einer brüchige Glocke, da das, was außerhalb ihrer war, immer heftiger gegen sie stieß.
Jessica, was weißt du nur, dachte er sich, und er wusste nicht, was er von allem halten sollte. Nur wusste ihm endgültig klar; dass nichts mehr so wie früher war. Was ihm nicht klar war, war die Frage: Warum?
Der Tag begann und verlief schweigend. Mit dem Leben der Kühe hatte man den Dorfbewohnern auch die Stimme geraubt, und so blieb es bis in die Nacht, vor der sich alle fürchteten. Schließlich war auch das, was die Kühe getötet hatte, in der Nacht gekommen. Nun fürchteten sie auch den neugierigen Blick der Augen des Himmels, die auf sie herabblickten. Man aß schweigend, begegnete sich schweigend, und mit den verstreichenden Stunden wurde für alle klar, dass man sich an ihnen rächte. Mark ging mit schnellen Schritten und klopfendem Herzen zu Tsam. Er klopfte an die Tür des Hauses, trat ein und fand es leer vor. Wind huschte hinein und wirbelte Staub auf, und als Mark die Tür schloss, wurde es totenstill.
Mark sah sich um und rief Tsam, kurz und leise, als galt es, einen schlafenden Riesen der Rache nicht zu wecken und auf das Haus aufmerksam zu machen,
Wie oft war Mark schon in diesem Haus gewesen, und wie oft hatte er es leer vorgefunden. Wie oft war er durch die Räume gegangen, da er gedacht hatte, Tsam auf seinem Bett schlafend vorzufinden. Einmal hatte er Tsam dabei beim Onanieren überrascht, und Tsam hatte zwei ganze Tage nicht mit ihm gesprochen, so dass er sich nun wenigstens anmeldete, wenn er das Haus betrat.
»Tsam?«
Niemals  war das Haus so verlassen, so leer erschienen, so still und staubig. Dies war das Haus, das alle Schuld trug, Hier war das Zentrum der Schuld des Dorfes. Hier klaffte ein Loch, das in die tiefsten Abgründe der Hölle zeigte.
Da hörte er leise, schlurfende Schritte, die anmuteten wie die eines Verletzten, und Tsam erschien wie ein Geist.
Mark erschrak, als er seinen Freund sah. Um sie herum regierte neben der Stille das Heulen des Windes und sonst Schweigen.
Mark trat einen Schritt vor.
In Tsam Augen standen Tränen.. »Weißt du, was das Dorf glaubt?«, fragte Tsam, und seine Worte schienen aus dem Jenseits zu kommen. »Sie glauben, dass jemand zurückkehrt.« Tränen rannen ihm über die Wangen. »Dass …« Er schluchzte ein paar Mal. »… dass Maraim zurückkommt!« Keuchend holte er Luft und stieß einen erstickten Laut aus. »Dass er sich an uns rächt! Dafür, dass wir ihn vertrieben haben!«
Beide warfen sich weinend in die Arme des anderen »Was haben wir getan?« fragte Mark zitternd. »Was haben wir nur getan? Wir haben das Dorf ins Unglück gestürzt! Wir haben alles zerstört!«
So standen sie da und hielten sich fest. 
»Was sollen wir tun?«, wollte Tsam nach einigen Minuten wissen, und langsam trennten sie sich voneinander. 
»Jedenfalls nichts überstürzen«, entgegnete Mark, und er erläuterte, dass nicht nur sie beide die Schuld treffen konnte. Es war das Dorf, denn wenn nicht alle gelacht hätten, wäre der Streich geahndet worden. Aber so hatten die Kinder, allen voran Mark und Tsam, den stillen Willen des ganzen Dorfes in die Tat umgesetzt, ohne sich etwas dabei gedacht zu haben. »Wir haben ihm nur seine Fiesheiten heimzahlen wollen. Wir wollten ihn nicht vertreiben.«
»Wir haben es aber getan!«
»Aber nicht allein! Alle haben gelacht! Alle haben ihn ausgelacht, alle haben es ihm gegönnt!«
»Aber er war mein Bruder! Er war aber mein Bruder! Mein Bruder!« Er klammerte sich erneut an Mark, in dem nun ein Gedanke keimte: Jessica zu helfen!
Als Tsam sich von ihm löste, sagte er: »Wenn doch wieder letztes Jahr wäre.«
Das Haus war und blieb still, alle waren auf der Weide und schafften die Kadaver fort. Es galt, sie zu verbrennen, um sie aus dem Blickfeld zu schaffen und das Böse gleich mit zu verbrennen.
»Das Haus wird heute vernagelt«, schluchzte Tsam. »Wenn Maraim kommen sollte, hat man Angst vor ihm, und er soll nicht hereinkommen.« 
»Und das wegen eines Spaßes. Du kannst heute Nacht bei mir schla-  …« Er schluckte. »Jessicas Bett ist frei.« Er setzte sich und sah zu Boden. »Dann sind wir beiden heute Nacht nicht allein.«
Tsam nickte stumm und dankbar.

Als es Abend wurde, flammte erneut ein Feuer auf. Diesmal jedoch versammelte man sich in der großen Scheune, wo man bei Regen das allabendliche Rund abhielt. Von der sonst vorherrschenden ausgelassenen Stimmung war nichts zu spüren. Stattdessen drängten sich alle zusammen und schlossen den Kreis eng um das Feuer herum, das geisterhafte Gesichter beschien. Es war, als seien die Toten auferstanden, um sich zu betrauern. Sie alle sahen eine dunkle, furchterregende Gestalt umherlaufen, wie sie von den Bergen oder aus dem Wald oder aus der Höhle zum Dorf kam mit schlurfenden Schritten, triefnass, glibberig vom Matsch und begleitet von einer Armee von Tausenden Kröten. Sie alle hatten aus Furcht davor ihre Fenster vernagelt oder schwere Möbel oder Wagen davor gestellt. Sie alle würden kaum schlafen in dieser Nacht, und in fast jedem Haus sollte es eine Wache geben, die Alarm schlug, wenn Maraim rächend zurückkehren sollte. Man hatte Ziegen, Schafe und Gänse in die Häuser geholt und sich Forken und Hacken neben die Betten gestellt.
Wind heulte um die Scheune, und alle sie schweigend da. 
»Der Mann aus dem Buch«, begann Morkus schließlich nach Weile doch, »war wohl doch nicht der gute Geist, den ich herbeisehnte. Er ist wohl ein Monster.«
»Er ist ein wandelnder Toter«, sagte ein anderer, und sofort rückte man näher zusammen. Maraim zog draußen seine Bahn um das Dorf, da waren sie sicher.
»Wir brauchen Tirata. Sie wird uns sagen, was zu tun ist.«
Zehn Mann zogen aus, um sie zu holen. Sie waren bewaffnet, mit Fackeln bestückt, obgleich es noch hell genug war, um die Umgebung zu erkennen. Das Haus Tiratas stand da, umgeben von den Bäumen, die sich in den Himmel reckten. Die Männer folgten dem Pfad und blickten andächtig nach vorn, und das Haus, war für sie mittlerweile eine Art Zuflucht. Etwas Heiliges ging von dem Haus aus, und sie gedachten einer Tradition, die vor sehr langer Zeit in großen Häusern gepflegt worden war, in einem Steinquader Relikte heiliger Männer aufzubewahren. Man hatte diese angefleht, dass sie einem helfen mochten in der Not. Und Tirata war in diesem Quader aus Stein vor ihnen und sollte ihre Bitten erhören.
»Wir haben große Angst«, sagten sie ihr, als einer bei ihr angeklopft und Jessica ihnen geöffnet hatte. »Wir brauchen deinen Rat, dringender als je zuvor.«
Und Tirata hatte Jessica zu sich gewinkt und hatte die Männer in ihrem Beisein zur Scheune begleitet.
Die Männer, Frauen und Kinder ließen erschrocken ihre Köpfe auffahren, als die Scheunentür sich öffnete. Tirata kam herein, Jessica neben sich und sah in die Runde. »Angst habt ihr. Angst vor der Rache der Toten. Warum? Habt ihr ein schlechtes Gewissen?«
Mark sah wie alle anderen beschämt zu Boden, und Tsam konnte kaum noch atmen. »Ich habe von den Kühen gehört. Ihr habt sie verbrannt. Ihr habt eure Häuser verbarrikadiert. Und ihr stellt Wachen auf. Wegen der Rache der Toten.«
Das Feuer zuckte wild hin und her, und der Wind pfiff durch die Ritzen. 
»Seht nach vorn«, riet Tirata lautstark. »Beugt euch dem Wind, denn er wird auf euch zukommen.«
»Aber er wird uns töten!«
»Er wird uns ein Loch in unser Leben blasen!«
Tirata schien jeden einzelnen von ihnen betrachten zu wollen, während das Feuer knisterte. »Der Wind ist mehr als nur eine Legende. Spürt ihr nicht schon seine Kraft? Wie seine Vorboten euch an den Haaren ziehen? Ihr könnt euch ihm nicht entziehen, weder mit Barrikaden noch mit Wagen, weder mit Möbeln vor den Türen, noch mit Feuer noch mit Hacken. Er wird kommen. Vielleicht schon heute Nacht. Er wird sich euch bald zeigen. Geht in die Höhle und seht dem Schrecken in die Augen. Die Macht, die um euch ist, ist zu stark und zu groß für euch. Fügt euch dieser Macht und tut, was sie sagt, dann wird euch nichts Schlimmes geschehen. Fügt euch schnell, werft euch auf den Boden und lasst den Wind von Irgendwo über euch hinwegfegen, umso schneller ist er fort. Und nehmt an, was er euch hinterlässt. Es wäre nur einfacher für euch. Und Lorn.«
Lorn sah erschrocken auf, und sein Blut war wie Eiswasser.
»Deine Tochter ist ein gutes Kind. Und sie ist noch ein Kind und auch noch deine Tochter, ob du willst oder nicht. Du aber bist ein Barbar und schlechter Vater. Und du bist nicht besser, Weib. Euch soll der Wind von Irgendwo Steine in eure Gesichter schlagen, auf dass ihr entstellt und hässlich euch im Haus einschließt, um niemandem mit eurem widerlichem Anblick einen Schreck einzujagen. Ihr seid Abschaum, und ihr seid mehr Kind als Jessica. Ihr alle seid mehr Kind als Jessica.« Nach diesen Worten drehte sie sich um, und Jessica warf einen traurigen Blick auf ihre Eltern, die mit Tränen in den Augen ihr nachsahen.
So gern Jessica auch wissen wollte, was die Welt im Innersten zusammenhielt und bei Tirata war, so sehr sehnte sie sich danach, in ihrem eigenen Bett schlafen zu können, das in ihrem Elternhaus stand.
Doch der Wind blies sie davon fort.

Der Wind von Irgendwo – Kapitel 10: Beginn einer Odyssee komplett lesen

Mystery-Roman von Oliver Koch

Der Wind von Irgendwo von Anfang an lesen
Erst Kapitel 9 lesen

Wind strich über die Landschaft und brachte ersehnte Abkühlung. Er strich über die Landschaft wie schon seit Jahrtausenden zuvor, als die Berge noch schroffer gewesen waren. Der Wind formte die Landschaft, und er war wie ein schwer arbeitender Mann, der die Berge zu Hügeln abtrug, der Sand mit sich trug und so manche Skulptur schuf. Der Wind strich und strich und machte aus der Landschaft in Jahren, die kein Mensch zu überblicken vermochte, eine neue, eine sanftere; Höhlen und Gänge wurden gefräst, Steine geschliffen und ausgehöhlt, und in einer enormen Zeitspanne dann gingen die Steine in Wind über. Nichts trotzte ihm, nichts konnte sich ihm entziehen, wenn er, die Welt verändernd, über sie hinwegstrich und schliff und feilte, als wäre er mit der Welt nicht zufrieden. Der Wind war ein Künstler, der Jahrmilliarden lang schuf und schliff, und der, niemals mit dem zufrieden, was er schuf, stets damit beschäftigt war, seine Schöpfung perfekter werden zu lassen. So wie er schroffe Bergspitzen abtrug, so erschuf er auch so manche spitze Felsenkante, die dünner und dünner wurde und immer mehr anmutete wie eine schäumende Welle in brandender See.
Der Wind sollte erst dann zufrieden sein, wenn das Ende aller Tage gekommen war und nichts mehr da sein sollte, das es zu schleifen galt – wenn die Skulptur im Feuer der Zerstörung und Neuschöpfung geschmolzen und als Festes verlorengegangen war; erst dann sollte es keinen Wind mehr geben, der über die Lande strich und schuf und schliff und feilte und höhlte. Mit dem Vergehen der Skulptur verging auch der Künstler und würde dennoch nie versiegen, wenn ein anderer Teil von ihm ferne und unbekannte Skulpturen schliff über Milliarden von Jahren. Der Wind war unermüdlich und unsterblich, er, der Künstler von Skulpturen, deren Gesicht sich stets veränderte mit Epochen und Neuerungen. 
Auch nun kam er wohlig und unbekannt über die Welt und blähte das schlaff gewordene Segel des Schiffes des Lebens, mit dem sie auf eine Sandbank gelaufen waren.
Grüne Wellen brandeten um das Schiff und drückten es unermüdlich in eine bestimmte Richtung, und die Fische des Ozeans sprangen und hüpften aus der grünen und blütenbunten Gischt heraus, und etwas kam in Bewegung.
Mark stand mit Tsam nackten Fußes im Wasser des Bachs nahe dem Dorf und ließ seine Blicke über eine Landschaft wandern, die er erst nun mit all ihren Einzelheiten erkannte, die er erst nun mit all ihren Einzelheiten aufzusaugen begann und war verblüfft über die vielen Kleinigkeiten, die ihm nun auffielen.
Plötzlich war er in der Lage, eine Distanz zwischen dem Dorf und dem Frauenbaum zu sehen –  etwa so groß wie zweimal das Dorf hintereinander. 
Die Bergkette lag, sah man vom Dorf zu Tiratas Haus, zur Linken des Dorfes, und sie war noch sehr viel weiter entfernt; vielleicht zehnmal das Dorf hintereinander und dann noch drei Male zehnmal das Dorf. Die Bäume, die die Berge bewuchsen, bildeten einen Wald entlang der Berge, die immer wieder von einigen Strecken von fünfmal das Dorf unterbrochen wurde, und bewachsen mit Wildwuchs aus Wiese, Blumen und Büschen.
Die Felder und Koppeln reichten nur zweimal das Dorf weit zur Bergkette hin, dafür aber sehr viel weiter in alle anderen Richtungen. Der Bach, in dem sie standen, war nur einmal das Dorf vom Dorf entfernt, ebenso wie Tiratas Haus – und so stellte Mark fest, dass Tirata gar nicht so weit vom Dorf entfernt lebte, wie er immer angenommen hatte, wenn er darüber nachdachte, dass die Bergkette mit dem schrecklichen Schlund der Corrin-Höhle so viel weiter entfernt war.
Und diese Höhle: sie lag so weit oben wie drei Male zehnmal die Höhe der Bäume um Tiratas Haus.
Hinter diesem schwang sich Landschaft mit Waldstücken und Koppeln, sie sich dazwischen schmiegten, und wilde Wiesen. Es gab überall zahlreiche Baumgruppen, Büsche, Sträucher und Wiesen, die sich ohne jegliche Ordnung ideal ergänzten.
Hinter dem Dorf, also in entgegengesetzter Richtung, sah er einen großen, dichten Wald in einer Entfernung von etwa zehnmal das Dorf. Es war der große Wald, in den niemand einen Fuß hineinsetzte, weil dort Dinge und Wesen lauerten, denen niemand gewachsen war.
»Tsam«, sagte Mark plötzlich und ließ seine Gedanken fliegen, »diese Wiesen sind so groß, größer als die Felder, ist dir das schon mal aufgefallen?«
Tsam schüttelte den Kopf. Er interessierte sich auch nicht dafür, wenngleich er seinen Blick über die Landschaft gleiten ließ. Für ihn sah die Welt so aus wie immer. Alles um ihn war nichts anderes als das, was das Dorf umgab, ohne es näher bestimmen zu können.
Mark tat einen Schritt im Wasser und sagte kein Wort. Und wie sie so gingen, huschten neue Gedanken durch Marks Kopf, und sie kreisten um so Vieles. Die Böen trugen das Gezwitscher der Vögel zu ihnen herüber, wie auch das Rausches des Windes in den Bäumen und Büschen. Das Wasser plätscherte, und es war so erfrischend kühl, dass Mark meinte, selten etwas derart Angenehmes erlebt zu haben. Die Hitze der letzten Tage war furchtbar gewesen. Sie gingen mit nackten Füßen über Steine und Sand unterhalb des Wassers, und sie entfernten sich mit der Strömung vom Dorf.
Mark dachte an Sarah und den weinenden Himmel. Er hatte mit Tsam darüber gesprochen, der gemeint hatte, dass der Himmel kaum darüber geweint hätte, da »der Himmel bestimmt Besseres zu tun hat, als nur darüber zu heulen, was du machst«, und es war Mark einleuchtend vorgekommen. Schließlich kam er zu dem Schluss, dass gleichzeitig im Dorf etwas geschehen war, dass dem Himmel mehr Grund zum Weinen gegeben hätte, und Schuld und Unbehagen waren von ihm abgefallen. Zudem hatte Tsam ihm auch gesagt, dass es »nicht falsch war, was du getan hast. Was sollte daran falsch gewesen sein? Dann müsste der Himmel dauernd weinen, wenn es einer tut.«
Und Mark fühlte sich nicht mehr bedrückt, im Gegenteil, er fühlte sich bestätigt. Zugleich hatte er aber auch entdeckt, dass er Tsam nun nicht mehr so blind vertraute wie früher und Sarah öfter vor Augen hatte als andere. Künftig sollte es Dinge geben, die nur Mark wissen sollte, da er fand, dass Tsam fortan nicht in alles eingeweiht werden musste.
Tsam spürte dies wohl, nahm es aber nicht übel, zumal es ihm in ähnlicher Weise mit dem Mädchen Alka erging.
Der Bach schlängelte sich weiter, in unbekannte Fernen, und sie waren schweigend dabei, ihnen entgegenzugehen. Fliegen und Bienen umsurrten sie, und hin und wieder scheuchten sie sie mit einer lapidaren Handbewegung fort.
»Was ist eigentlich mit deiner Schwester?«, brach Tsam das Schweigen, blickte aber auf das in der Sonne glitzernde Wasser des sanft fließenden Baches.
Mark zuckte mit den Achseln. »Sie spricht mit Tirata wie mit Ihresgleichen. Wir haben wohl eine spätere Wahrsagerin im Haus.« Ihm schauderte bei dem Gedanken, wenngleich er einräumen musste, dadurch dem Geheimnisvollen einen Schritt näherzukommen. Jessica war so jung und kindisch im Gegensatz zu ihm, und wie sehr hatte er sich immer darauf berufen können, sie mit Blicken, Worten und Gesten jederzeit zur Räson bringen zu können. Nun war es seine jüngere Schwester, die schon von allem mehr wusste als alle anderen im Dorf zusammen. Er kam sich wie ein Tölpel vor, der sich Zeit seines Lebens nicht der Tatsache bewusst gewesen war, überhaupt gelebt zu haben. Er verglich sich mit einem Träumer, der alle Zeit im Dämmerschlaf gelegen hatte, der nach Trunkenheit die Menschen überfiel. Er hatte die Konturen der Dinge nicht gesehen, er hatte die Dinge selbst nicht erkannt, und erst nun öffnete sich langsam das Auge des Wachen in ihm, das begann, die Dinge so zu sehen, wie sie waren. So sah er den Bach vor sich, wie er sich durch das Land schlängelte, immer weiter dorthin, wo er niemals gewesen war, wo er vermutete, dass der Bach in ein finsteres Loch stürzte und tobte, wo alle Zeit endeten und alle Gedanken und alles Leben nichtig werden würde.
»Was wohl aus Maraim geworden ist«, fragte Mark in geistesabwesendem Ton in den Wind. »Vielleicht findet man ihn in der Corrin- Höhle.«
Tsam schluckte schwer. »Man wird ihn nie finden.«
»Glaubst du, dass er tot ist?«
»Ich weiß es nicht.« Eiskalte Wellen jagten ihm über den Rücken und Angst erfasste ihn. »Bewahre mich das Leben davor, dass man ihn findet, wie er tot daliegt.« Er stellte sich furchtbare Bilder vor, wie Maraims fetter Leib im Gras lag, umwölkt von Fliegen mit grünen Körpern und von Ameisen, die ihn langsam abtrugen. Er sah Maraim mit offenen und erstarrten Augen daliegen. Der Mund war offen wie die Corrin-Höhle, und Insekten fraßen seine Därme. Er sah Maraims Kleider im Wind flattern, er sah Verwestes, er sah an dem Kopf blanken Schädelknochen, auf dem grüne Fliegen saßen, und Tsam begann zu weinen. Angst übermannte ihn, Schuld lastete auf ihm, Ekel spülte in ihm hoch und so stand er da im Wasser des Baches und weinte plötzlich. Der Wind wirbelte seine Haare durcheinander, das Wasser umspülte seine Füße und Unterschenkel. Tsam sah in die Ferne, in die der Bach floss, und am Ende aller Wege sah er Maraims halbverweste Leiche, wie sie auf ihn wartete, um ihm mit knochiger Hand die Därme zu zerfetzen, während Tsam vor Schmerz und Panik schrie und schrie.
Sein Weinen war leise und Mark wurde bei dem Anblick schwer ums Herz. Aus Schmerz hatte er Tsam schon oft weinen sehen, wenn er sich an Dornen die Haut aufgerissen hatte oder auf einen Stein oder von einem Baum gefallen war. Aber wann hatte er ihn so weinen sehen wie nun? Mark wusste es nicht, und so stand er gelähmt da und sah Tsam an, seinen Freund, mit dem er die Kindheit verbracht hatte und das Erwachsenwerden erleben würde, bis der Tod kommen würde – und er sah ihn weinen, und Mark wusste nicht, was zu tun war. War bis vor ein paar Tagen eine Umarmung noch etwas Selbstverständliches gewesen oder etwas, das ihnen Spaß gemacht hatte, so wagte es Mark nun nicht mehr, Tsam nahezukommen, ihn zu berühren oder tröstend zu umarmen.
Der Wind umspielte sie beide und zog an ihren Haaren, und Mark stand mit trockener Kehle in zwei Metern Entfernung von seinem Freund, den er wie einen Freund liebte, den zu berühren es sich aber nicht mehr schickte.
Mark hob einmal kurz die Arme, gewillt, näher zu treten, doch er blieb stehen und schaffte es nach langer Zeit, ein kaum vernehmbares »Komm schon« hervorzupressen, das der Wind hätte sagen können, so leise und tonlos, war es. Doch Tsam hörte es nicht, und war sich im Klaren darüber ob er sich Mark um den Hals werfen sollte, oder ob es besser war, fortzurennen, da er sich schämte.
»Es ist nicht deine Schuld«, sagte Mark leise. »Ich war es, der den Vorschlag gemacht hat. Hasse mich dafür und sieh mich nie wieder an, aber fühl dich nicht schuldig.« Ein Kloß wuchs  in seiner Kehle. »Es tut mir leid, was ich getan habe«, gab er leise zu. »Ich hatte doch nicht wissen können, dass …«
Tsam wollte Worte sagen, für die er weder Kraft noch Luft besaß. Denn obwohl es Marks Idee gewesen war, hätte er nicht mitmachen müssen, er hätte allen den Streich ausreden können. So drehte er sich um und lief davon. Er schämte sich seiner Schwäche, vor Mark die Fassung verloren und geweint zu haben. Der Wind kam näher und näher, und er trieb alles davon wie Blätter eines Baumes im Herbst. Tsam drehte sich nicht zu Mark um, der noch immer im Wasser stand und ihm schweren Herzens nachsah und nun selbst Tränen vergoss. Und irgendwann einmal sollte oder konnte der Tag kommen, an dem Gewalt alles zerstörte –  und wurden mit der Zeit wieder zu dem, was sie waren und standen zu ihren Gefühlen.
Als Mark Tsam fortlaufen sah, stürzte für ihn der Himmel ein, denn es war ihm nicht möglich, ihm zu folgen.
Und während Tsam ins Irgendwo lief, um dort von der Weite und Stille beschützt zu weinen, ging Mark in die andere Richtung des Irgendwo, das unendlich und überall um das Dorf war. Er ging den Bach weiter, darauf wartend, den großen Schlund zu sehen, in den der Bach stürzte und wo alle Zeit, alles Leben und alle Gedanken endeten.

Tiratas Haus war und blieb mysteriös. Abgeschirmt von der Sonne stand es nahe an den Bäumen, die nur Unverständliches von sich gaben, das nur von dem, der sie verstand, gehört wurde.
Jessica war abermals bei Tirata und sah sich die vielen Dinge an, die Tirata darin aufbewahrte. 
»Je mehr du weißt, umso mehr tritt das Augenmerk für das wirklich Wesentliche in den Vordergrund. Wissen tötet Neugierde und weckt Interesse.«
Jessica wusste, was bevorstand. Sie wusste, dass man morgen aufbrechen wollte, um das Irgendwo zu ergründen. 
Tirata war hinter einem Regal verschwunden, in dem sich viele Bücher stapelten. Obgleich Jessica wie jeder andere im Dorf wusste, was Bücher waren, so war niemand außer der Wahrsagerin befähigt, zu lesen und somit zu ergründen, was sich Geheimnisvolles zwischen den Einbänden verbarg. Tirata holte nun eines dieser Bücher hervor, und Jessica sah darauf, als die Frau damit auf sie zukam. Das Buch war so groß, dass es Jessica von den Fingerspitzen bis zur Armbeuge gereicht hätte. Da das Sonnenlicht keinen direkten Weg ins Haus hatte, war es zwielichtig im Raum, als Tirata sich zu ihr setzte und das Buch vor sich auf den Tisch legte. »Früher einmal gehörten Bücher zum normalen Leben«, begann Tirata, »und jeder konnte sie lesen. Nun, und das tat man auch.«
Jessica sah auf das Buch, das ihr nichts bot. »Und was stand darin?«
»Das kam auf das Buch an. Tatsachen, Ratgeber, aber auch Geschichten, und die haarsträubendsten dazu. Früher einmal zog man Wissen und Freude aus den Büchern.«
»Und warum jetzt nicht mehr?«
Tirata sah Jessica an und sagte lange Zeit nichts. »Nun, die Zeit können wir nicht aufhalten. Wenn es Zeit wird zu schlafen, gehen wir schlafen. Ist es Zeit, die Felder zu bestellen, bestellen wie die Felder. Und ist es Zeit zu sterben, dann sterben wir. Die Zeit bestimmt unser Leben, und wir, die wir nicht Herrscher der Zeit sind, sind ihre Sklaven. Wir fügen uns. Es muss so kommen, und es kam so. Die Zeit hat es bestimmt.«
Jessica verstand nicht viel von dem, was Tirata ihr sagte. »Aber warum sagen wir nicht einfach, dass wir uns nicht von der Zeit bestimmen lassen wollen?«
Über das faltige Gesicht Tirata huschte der Anflug eines Lächelns. »Wenn ich der Zeit sagen könnte, dass sie stillstehen solle, würde ich nicht älter. Und ohne Älterwerden kein Sterben – und das widerspricht der Natur. Alles vergeht einmal. Irgendwann werden Bäume schwach und morsch. Irgendwann begräbt ein Erdrutsch eine Wiese. Irgendwann versiegt ein Fluss. Und das ginge nicht ohne die Zeit. Was, wenn wir nicht stürben? Dann wären wir lebendig auf alle Zeit, und wir könnten denen, die nach uns kommen, sagen, was zu tun wäre und was sie lieber lassen sollten.«
»Das wäre doch gut, oder?«
»Der Mensch ist nicht zum Perfektsein geboren. Erst das, was nach ihm kommt, wird es sein.«
»Und was wird das sein?«
»Unsere Nachkommen in weiter, weiter Zukunft. Aber dann sind sie keine Menschen mehr – dann sind sie Götter.«
Wieder verstand Jessica nicht viel, doch sie vermied es, nachzufragen. Sie wollte ein kluges Kind sein, das mehr und mehr erfuhr, solange es nur so tat, das zu verstehen, was man ihm sagte.
Tirata wusste, wovon sie sprach. »Wenn morgen ein paar Männer aufbrechen, dann wird dies ein Schritt dahin sein. Aber was suchen sie, was meinst du?!«
Jessica überlegte. »Sie gehen in den Wald.«
»Und was sollten sie dort finden?«
»Böse Geister?«
»Vielleicht. Was noch?«
»Böse Schatten?«
»Möglich. Was noch?«
»Wölfe?«
Tirata winkte ab. »Was, wenn sie nichts anderes finden würden als einen Wald, der so aussieht wie ein Gruppe von Bäumen, wie sie überall stehen und wachsen, und zwischen denen Gras auf dem Boden wächst oder Pilze, oder zwischen denen einfach nur Laub liegt? Was, wenn in diesen Bäumen nichts anderes haust als die Vögel, die wir alle schon kennen?«
Jessica schürzte die Lippen. Für sie sah der Wald anders aus, und es überstieg ihre Vorstellungskraft, glauben zu können, dass nichts Böses darin war. Schließlich hatte es immer so geheißen, dass dort Böses hauste. 
»Was ist Wahrheit, Jessica? Das, was alle erzählen, oder das, was wirklich wahr ist?«
Jessica sah Tirata an und verstand die Frage nicht.
»Stell dir vor«, fuhr Tirata fort, »jemand sagt, dein Pepe wäre kein Mann, sondern eine Amsel.«
Jessica kicherte und fand die Vorstellung daran lustig. »Ich aus einem Ei, und Mama als Glucke darauf …«
»Bleib ernst, Jessica«, ermahnte Tirata, und Jessica fuhr zusammen. Tirata sagte weiter: »Jemand sagt, dein Pepe Lorn wäre eine Amsel. Was würdest du ihm darauf sagen?«
»Dass mein Pepe mein Pepe ist. Und keine Amsel.«
»Warum kann er keine Amsel sein?«
»Weil ich weiß, dass er keine ist.«
»Nein, nicht nur das, Jessica. Weil du ein Mensch bist, und dein Vater auch. Und eine Amsel ist kein Mensch, sondern ein Vogel, eine Amsel. Also hat der, der das gesagt hat, doch gelogen, oder?«
Jessica nickte.
»Siehst du. Wenn jemand sagt, du seist Mark, dann sagst du doch, dass du Jessica bist. Weil du ein Mädchen bist und Mark ein Junge, kannst du nicht Mark sein. Auch der, der sagt, dass du Mark bist, hat gelogen – oder er weiß es einfach nicht anders. Verstehst du den Unterschied zwischen der Wahrheit und dem, was man sagen kann?«
Jessica verstand und nickte. 
»Verstehst du jetzt auch, warum der Wald nicht böse sein muss, nur weil alle sagen, er wäre es?«
Wieder nickte Jessica.
Tirata klatschte befriedigt in die Hände. »Sehr gut. Jetzt nehme ich dich mit auf die Odyssee.« »Was ist eine Odisee?«
»Odyssee. Eine Reise. Ein Abenteuerspaziergang. Morgen, wenn die Neugierigen aufbrechen, brechen auch wir auf. Und jetzt geh zu deiner Familie nach Hause. Wir sehen uns morgen.«

Im Sonnenuntergang herrschte Stille in Lorns Haus. Weder Mark noch Jessica waren bisher gekommen, und obwohl sich Lorn und seine Frau nie um ihre Kinder gesorgt hatten, so war diesmal alles anders. 
Die Kinder spielten nicht draußen, und es war so seltsam still, dass Lorn meinte, er sei allein im Dorf.  Seine Frau war bei Nachbarn und sponn dort Fäden.
Auch er sollte morgen dabei sein, wenn man aufbrach, um ein wenig von dem Irgendwo zu sehen, das überall um sie herum war, Und wie üblich, konnte Lorn, verstrickt in die Ereignisse wie alle anderen, die Gründe für Aufbruch und Veränderung nicht recht nachvollziehen. Im Dorf, in dem alles seinen gewohnten Gang gegangen war, war eine Veränderung über Jahre hinweg schon schnell, so dass die Veränderungen der letzten Tage ein wahre Flut an neuen Eindrücken heraufbeschworen hatte, die niemand mehr verstand. Die Ereignisse waren ihnen allen aus den Fingern geglitten, und sie konnten nichts anderes tun, als auf den Wind von Irgendwo zu warten.
Die Tür öffnete sich und er drehte sich um. Im durch die Türöffnung fallenden Sonnenschein sah er eine kleine Silhouette Jessicas, um deren Konturen die Strahlen der Sonne leuchteten wie um eine Erscheinung aus einer anderen Welt.
Lorn saß mit verdrehtem Hals auf dem Stuhl und fühlte seine Kehle trocken werden. 
»Hallo, Pepe«, sagte die Gestalt, und als sie  aus dem Licht heraus- und in das Haus hineintrat, sagte Lorn nichts. Er sah sie nur befremdet an.
»Gehst du morgen auch mit den anderen?«, fragte Jessica unbekümmert und setzte sich zu ihm an den Holztisch.
Lorn saß da und starrte sie an. Er konnte das, was er empfand, nicht in Gedanken, geschweige denn in Worte fassen.
Jessica saß am anderen Ende des schützenden Holztisches und blickte ihn fragend an. Sie sah genauso aus wie früher zu Zeiten, da sie noch seine Tochter gewesen war. Aber nun suchte er Beweise in ihrem Gesicht, die darauf hindeuteten, dass sie verwandelt worden war.
»Pepe. Ist dir nicht gut?«
Es war so gespenstisch still im Haus, dass Lorn das Herz bis zum Hals schlug.
»Wo ist Mama?«
»Weg«, antwortete er geistesabwesend.
»Und Mark?«
»Weiß nicht.«
»Was ist mit dir?«
Wenn er es gewusst hätte, wäre er in der Lage gewesen, es zu überwinden, aber dieses Wesen da am anderen Ende des Tisches … – es sah aus wie Jessica, sie sprach wie Jessica. Aber da sie freiwillig zu Tirata gegangen war, war sie nun eine andere. Nicht mehr seine Tochter. In ihren Augen lag nun etwas Anderes, Neues. Er konnte daran erkennen, dass sie nun von Dingen wusste, die Tirata wusste und sonst niemand. Dingen, die sie verändert hatten. Er sah, wie Jessica ihn anblickte. Das Unschuldige, Kindliche war aus ihrem Blick verschwunden. Er hörte es in ihrer Stimme: Da schwang etwas mit, das er nie in Jessicas Stimme gehört hatte. Bislang hatte ihre Stimme stets nach kindlicher Neugier, kindlicher Unsicherheit, manchmal auch kindlichem Trotz geklungen, wie es sich für eine Kinderstimme gehört hatte.
Doch nun klang ihre Stimme anders. Wie sie ihn schon mit »Hallo, Pepe« begrüßt hatte. Wie eine Erwachsene hatte das geklungen, als sei Tirata in sie eingefahren und hätte aus ihr gesprochen. Wie reibend ihre Frage geklungen hatte, ob auch er morgen mit den anderen aufbräche. Und diese Mischung aus Fürsorge und Zweifel, ob etwas mit ihm sei.
Was Tirata auch immer seiner Jessica angetan hatte, es hatte sie ihm genommen, sie ersetzt gegen etwas anderes.
Er hörte sein Blut in den Ohren pochen. Es gab Geschichten von diesen ausgetauschten Menschen, die die Vorgängerinnen von Tirata immer wieder ins Dorf zurückgeschickt hatte. Diesen Ausgetauschten, die so verändert waren, dass man ihr Wesen nicht mehr wiedererkannte.  Dass solch ein Wesen eines Tages in seiner Hütte stehen könnte, hatte Lorn nie für möglich gehalten.
»Wie war’s bei der Hexe?«, fragte Lorn nun mit erstickter Stimme wissen.
»Sie ist keine Hexe. Sie ist eine ganz normale Frau, die mehr weiß als wir. Mehr nicht.«
»Und was weißt du, was wir nicht wissen?«
»Sie hat mir viel erzählt.«
Lorn schauderte es. Er sah sich nachts in seinem Bett in schrecklichen, unwirklichen Träumen wälzen, in denen er von Dämonen auf Knochenpferden gejagt wurde, denen roter Dampf aus den Nüstern stob. Die Kreaturen auf den Pferden schwangen Sensen, an denen Blut klebte, und er sah sie mordend durch das Land ziehen, sah seine Nachbarn, Freunde und seine Familie mit Ausnahme Jessicas vor Angst schreiend durch das Dorf rennen, gehetzt von reitendem Tod und Moder, der die Menschen im Laufen zerfetzte, die Arme, Beine und Köpfe abschlug, seinem Sohn eine Axt in den Schädel rammte, dass Blut und Hirn eben ihm ins Gesicht spritzte, der daraufhin schrie und schrie, bevor er von einer Kreatur fortgetragen wurde, fortgetragen aus dem Dorf der Zerstörung, in dem zerfetzte Leichen zwischen brennenden Häusern auf dem Boden lagen, hingetragen zu Tiratas Haus, wo Jessica lachend saß und anordnete, dass man ihm das Herz aus dem Leibe reiße. 
»Warum bist du nicht dort geblieben bei der Hexe?«, wollte er leise wissen, nicht wissend, wie sehr er damit seiner Tochter das Herz zerriss.
Jessica schluckte. »Weil es spät ist und ich nach Hause kommen wollte.«
»Ist dein Zuhause denn noch hier? Was willst du hier? Deine Sprüche aufsagen und uns verzaubern?«
»Tirata kann doch gar nicht zaubern«, verteidigte sich Jessica und spürte Tränen aufsteigen.
»Geh zu deiner Hexe. Geh zu ihr, wo jetzt dein Zuhause ist. Hier ist es nicht mehr. Und du bist nicht meine Tochter. Du bist jetzt ihre Tochter.«
»Aber Pepe …«
»Raus hier!« schrie er, so laut er konnte. Dabei schossen ihm Tränen in die Augen. Der Gedanke, nun ein Wesen zu sehen, das sich als seine Tochter Jessica ausgab, aussah wie sie, ohne sie wirklich zu sein, war für ihn reinste Folter. 
Jessica zitterte weinend. »Pepe. Pepe!«
Lorn war außer sich. »Raus hier! Raus hier! Ich will dich nicht sehen! Verschwinde!« Und er weinte wie seine Tochter, die er nicht mehr als solche betrachtete.
Jessica lief aus dem Haus und sah nur die Möglichkeit, ihre Mutter zu suchen, die sich in irgendeinem Haus aufhielt, und so lief sie zu dem Nachbarhaus. Die Bewohner, die sich gut kannte und die sie gut kannten, sahen sich erschrocken um, und der Schrecken wollte auch nicht aus ihren Zügen weichen, als sie wussten, wer hereingestürmt war. Als Jessica mit heller, erstickter Stimme nach ihrer Mutter fragte, sagten sie ihr: »Tirata ist in ihrem Haus. Verschwinde.«
So erging es ihr in allen Häusern. Sie konnte nicht ahnen, dass sich ihre Mutter versteckt hielt, als sie sah, wer angelaufen kam. Sie weinte in ihrem Versteck, denn sie hatte keine Tochter mehr.
Und Jessica erfuhr den Preis, den man hier für das Wissen bezahlen musste.

EPISODE:
HERRIN DER ZEITEN

Längst Vergangenes dämmerte herüber, längst Verlorenes. Jessica war eingeweiht worden, indem Tirata ihr Stund um Stund berichtet hatte, was sie waren und woher sie kamen. Und all dies war so unfassbar gewesen, dass all das, was sie gehört hatte, zu ihr in den Schlaf kam und sie sanft weckte. Es rief ihren Namen, leise, flüsternd. »Jessica. Jessica. Wach auf.«
Sie wachte auf und lauschte der Zeit, die sie geweckt hatte.
»Komm, Kind«, sagte die Zeit, und sie war freundlich. »Ich nehme dich mit auf eine Reise.«
Wohin sie denn ginge, wollte Jessica wissen.
»Ins Irgendwo«, sagte die Zeit und streckt ihre Hand aus. Und für Jessica begann eine Reise durch die ewige, allgegenwärtige, stets verstreichende Zeit.
Die Reise ging weit, weit zurück, weiter, als man es sich vorstellen konnte.
Sie sah Glut, Feuer und gnadenlose Hitze. Heftige Stürme jagten über das junge Land, und viele Tiere rasten über den Planeten. In einer Sekunde wurden sie erschaffen und lebten und bevölkerten, in der nächsten starben sie aus und waren auf ewig verschwunden.
Dann erkannte sie ihr ähnliche Wesen, und die Zeit sagte ihr, dass dies Menschen wie sie seien, nur dass diese sehr viel früher gelebt hatten.
Diese Wesen, die ihr so ähnlich waren, machten sich die Welt untertan, sie lebten mit ihr, von ihr, aus ihr.
Sie sah wilde Formen und Menschenmassen, sie sah Dinge, die sie noch niemals zuvor gesehen hatte und war verwundert darüber, dass all dies schon einmal da gewesen war.
Die Menschen waren im Himmel, über der Welt und bald gar über den Himmel hinaus. Und das, was die Menschen dahin trieb, machte aus ihnen selbst etwas anderes. Ihr Denken stockte zum einen und verselbständigte sich zum anderen, und immer wirrer und schlimmer wurde das, was kam. Die Zeit, die raste, war mit den Menschen, wie es schien, denn diese wurden immer großartiger und besser, aber zugleich war die Zeit auch zu langsam. Es war, als hätte eine göttliche Intrige, die von solch hoher Stelle eingefädelt worden war, dass niemand sie verstand, die Menschen in eine Sackgasse getrieben, denn ihr Wissen wuchs schneller heran als ihre Fähigkeit, mit all den Auswirkungen des Wissens umzugehen.
Es waren diese Auswirkungen, die die Menschen, zerrüttet und von verschiedenen Glauben getrennt, zum Aufbruch trieben in ein anderes Zeitalter. Nach einigen Generationen hatte man die Herkunft vergessen, und nur einige wussten noch von ihr. Sie hatten sich dereinst in einer Höhle versteckt vor all denen, die sie niederstrecken oder mitnehmen wollten, und erst nach langer Zeit wagten sich die Menschen wieder hinaus.
»Siehst du«, sagte die Zeit, als der farbige Strudel der unglaublichen Veränderungen langsam im Hier und Jetzt zum Stehen kam, »so ist es gekommen, wie Tirata gesagt hat. Und es wird noch anders kommen. Der Wind von Irgendwo kennt keine Grenzen, und er wirbelt hin und her. Mal kommt er, mal geht er, mal verschwindet er, mal kehrt er zurück.«
Und Jessica fiel wieder in ihren tiefen Schlaf.

Ende des 10. Kapitels – Der Wind von Irgendwo geht weiter mit Kapitel 11: Die Geißel der Angst

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