Der Wind von Irgendwo von Oliver Koch Kapitel 1 - www.oliverkoch.net

Mystery-Roman von Oliver Koch

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Der Tag erblühte mit jeder Minute und gelangte zur Reife. Die Sonne stieg weiter auf, es wurde heller, und die Natur wiegte sich in Sonne und Wind. Im Dorf wurde eifrig gearbeitet. Man ging in Keller oder Scheunen, um alte Girlanden aus Truhen zu kramen, man machte sich daran, die Feuerstelle inmitten des Dorfes zurechtzumachen und mit Holz zu versorgen.
Mark beschäftigte sich noch immer mit Holzhacken, und aufgrund der Hitze hatte er seinen Oberkörper freigemacht. Somit wurde er zu einem Blickpunkt für so manches Mädchen, das an ihm vorbeikam. So kam Sarah in seine Nähe und blieb unverblümt stehen, um den Jungen zu betrachten. Er war ein stattlicher Anblick, denn die Arbeit, die er oftmals erledigte, hatte an seinem Oberkörper sichtbare Spuren hinterlassen. 
Sarah betrachtete gern das Muskelspiel des Jungen, der der Schwarm aller Mädchen im Dorf war.
Mark, ganz beschäftigt, bemerkte den Blick nicht. Er keuchte und schwitzte unter Hitze und Arbeit, und hörte nur selten auf, um den an seiner Stirn herabrinnenden Schweiß am Einlaufen in die Augen zu hindern.
»Hallo, Mark«, hörte er eine Mädchenstimme hinter sich sagen, und er drehte sich um. Blinzelnd erkannte er Sarah, die beschlossen hatte, auf sich aufmerksam zu machen. Sie lächelte, versucht, distanziert und freundlich zu wirken.
»Hallo«, antwortete er. »Hast du viel zu tun?«
Sie nickte verschämt und nutzte das Blinzeln Marks kalt aus, um ihn unverblümt zu betrachten und sich an seinem Anblick zu ergötzen.
»Aber sicher nicht sowas wie ich, oder?«, fragte er.
»Nein, natürlich nicht. Ich habe eben mit meiner Mutter ein paar Hühner gerupft.«
»Ich muss auch gleich mithelfen, Hasen zu schlachten.«
»Das ist mir zu blutig.«
»Nun ja, was soll ich sagen. Um so besser schmecken sie mir heute Abend.«
Sarah legte den Kopf schief und scharrte mit dem linken Fuß im Boden. »Ich hoffe, du kannst tanzen, Mark.«
»Tanzen? Ich? Nun, wenn ich betrunken genug bin, sicher.«
»Nein, ernst, Mark. Kannst du tanzen?«
»Ich habe es noch nie ausprobiert außer dem Gehopse auf den Festen. Aber ob das Tanzen ist, weiß ich nicht.«
»Heute Abend werde ich das erste Mal an unserem Tanz teilnehmen, und dazu braucht man immer zwei.«
Mark wusste Bescheid. »Diese Formationstänze sind doch gähnend langweilig, Sarah. Sie sind viel zu langsam und öde.«
»Es kommt immer darauf an, mit wem man sie tanzt.«
»Das finde ich nicht. Das ist doch kein Tanzen, das ist – … keine Ahnung, was das ist. Es macht jedenfalls keinen Spaß.«
Sarah sah zu Boden.
»Aber das soll ja nicht heißen, dass ich nicht mit dir tanzen würde, wenn ich betrunken genug bin.«
»O, danke, Mark.«
»Nein, nein, so war das nicht gemeint. Ich wollte sagen, dass ich vielleicht tanze, mal sehen, wie ich gelaunt bin.«
»Na, vielleicht wirst du in der Stimmung sein.«
»Kann ich jetzt noch nicht sagen.«
»Verstehe.«
»Bist du beleidigt?«
»Nein, wieso? Ich blitze gerne ab.«
»Wieso abblitzen? Habe ich gesagt, ich würde nicht mit dir tanzen wollen? Nein, das habe ich nicht gesagt. Aber ich will nur auch vorbeugen, dass du allzu enttäuscht bist, wenn ich es dir versprochen habe und mein Versprechen breche. Das mache ich öfter.«
»Ja,ja, schon gut.«
Der Wind spielte um sie herum, und Mark spürte einen angenehmen Luftzug. Er versuchte immerzu, Sarah so zu betrachten, wie er es eigentlich gewollt hatte, doch sie hatte sich die ganze Zeit nicht von der Stelle bewegt und stand im Licht der Sonne, so als wäre sie eine Geburt von ihr.
In einem solch kleinen Dorf kam es oft vor, dass ein Mann, Junge, Mädchen, eine Frau sich in einen anderen versah und vergötterte, zumindest eine Zeitlang. Da gab es Phasen, da sich diese Menschen in die Träume der anderen vorwagten, so ganz von allein, um dann einige Zeit später ebenso von allein wieder daraus zu verschwinden.
Auch Sarah war Mark so manches Mal in die Träume gefolgt, doch hatte sie sich schnell wieder verflüchtigt. Mark kannte diese Gefühle nicht und wusste sie nicht zu deuten. 
Er wusste nicht, mit Liebe, Zuneigung oder Ähnlichem umzugehen. Und so stand er Sarah nun gegenüber und wusste nicht mehr ganz genau, was er denken sollte.
»Du bist jetzt beleidigt«, sagte er. »Gib zu, dass du beleidigt bist.«
»Ich bin nicht beleidigt. Nur enttäuscht. Habe mir was anderes versprochen.«
»Das weiß ich.«
Sie errötete und sagte nichts.
»Ist dir das unangenehm?«
Noch immer sagte sie nichts und sah zu Boden.
Er suchte nach Worten, nach Gesten, nach Phrasen, doch ihm blieb nichts als die verzweifelte Tatenlosigkeit, die ihn zum Dastehen und Stillschweigen verdammte. 
»Wir sehen uns heute Abend, Mark«, presste sich Sarah heraus und war verschwunden. Mark wusste nicht, ob er ihr nachrufen oder sie ziehen lassen sollte. Er wusste nichts. Und so ging sie.

Mit der Zeit wuchs der Haufen des Holzes neben ihm, und er betrachtete beiläufig die Veränderungen, die sich im Dorf vollzogen.Alles wurde langsam aber sich immer festlicher, alles wurde bunter.
»Du kannst gleich aufhören«, sagte ihm sein Vater. »Pet hilft mir gleich beim Schlachten, das brauchst du also nicht zu machen. Hör auf und ruh` dich aus.« Und so war Lorn wieder verschwunden, und Mark ließ die Axt fallen. 

Seine Arme waren ihm schwer, seine Schultern schmerzten ein wenig. Es war gut zu wissen, dass nun Schluss mit dem Holzhacken war. Es hatte ihn schon die ganze Zeit in die Ruhe gezogen, in das, was das Dorf umgab. Die weiten Wiesen und Weiden, die sanften Hügel, die Baumgruppen und die Felder waren und blieben immer ein großer Reiz für Kinder. Dort war ihr Abenteuerspielplatz. Was sollten sie auch anderes tun, als sich in der Umgebung zu vergnügen, auf verstaubten Dachböden oder in alten Scheunen? Wo nichts anderes existierte als der Frieden oder Unfrieden der normalen Dinge, da war die Phantasie der Zeitvertreib. Wer in der Lage dazu war, sie zu benutzen (und das waren nahezu alle im Dorf), der entdeckte so Manches, was dem Unerfahrenen auf alle Zeiten verborgen blieb.
Die Geschichten, die man sich erzählte und die eingingen in die Köpfe der Menschen – ob nun wahr oder nicht – waren die Dreh- und Angelpunkte des Lebens im Dorf.
Und Mark empfand wie alle seiner Mitmenschen: die großartige Umgebung war das Faszinierendste, das sie kannten. Er ließ seinen Blick über die Umgebung schweifen und beinahe gedankenverloren sein Hemd, um es sich lediglich lose über die Schultern zu werfen. Um ihn herum liefen die Leute, schmückten die Wagen, trugen Holz und Bänke und rollten Fässer. Man tat, was man tun musste, tat es gründlich, schnell, aber nicht übereilt, immer bereit, zu verschnaufen, wenn es denn nötig war, ein paar Worte mit anderen zu wechseln, die einem entgegenkamen, und allgemein die Gesellschaft zu pflegen.
Mark schätzte das wie jeder andere auch. Doch nun war er etwas erschöpft und wollte seine Ruhe haben. Die Kinder rannten und tollten um ihn herum, Vierjährige liefen sich hinterher, und oftmals zupfte eines der Kinder an seinen Kleidern und rief »Mark, Mark«, doch er wollte nicht reagieren. Er ging einfach weiter zum Rand des kleinen Dorfes, zum Strand am Ozean der grünen Wiesen, aus dessen Fluten sich fernab die Berge erhoben, und die der grünen Flut, die an ihnen hochklimmen wollte, mit felsener Starrheit stolz trotzen. 
Mark war alles andere als ein Einzelgänger und ein melancholischer Junge, doch hatte er von Zeit zu Zeit das Bedürfnis nach Einsamkeit.
Im Dorf erzählte man sich, dass hin und wieder, äußerst selten, Wolfsrudel daherkamen, aus dem Wald in der Nähe, und das Dorf bedrohten. Jeder wusste, dass mit den Wölfen nicht zu spaßen war, und so verschanzte man sich so lange, bis sie wieder fortgegangen waren. Diese Belagerung, die hin und wieder, aber ganz selten auftrat, wurde ertragen und dauerte nie so lange, dass man zu hungern und dursten anfing. 
Zugegeben, man hatte Angst vor den Wölfen, man hatte Angst vor dem Schmerz, den ihre Bisse verursachten, aber niemand hatte Angst vor dem Tod. Und wo die Angst um das Leben, die Sorge um ein Fortbestehen verlorengegangen ist, hat auch die Panik ihren Nährboden verloren. Zurück bleibt nur noch ein Teil dessen, nämlich die Angst vor so Manchem und so Vielem, aber nicht vor etwas Bestimmten. Man fürchtete Tirata, ohne zu wissen, weshalb, man fürchtete die Corrin-Höhle, ohne zu wissen, was in ihr lag, man fürchtete den Frauenbaum, weil es hieß, er hätte irgendwelche dämonischen Kräfte inne, von denen man nicht wusste, welche es waren und wie sie wirkten. Aber dieser rudimentäre Teil der Angst war lebensbestimmend für die Menschen, denn sie hatten Angst, große Angst sogar. Sie hatten in latenter Weise Angst deshalb, weil sie nicht wussten, wovor sie sich eigentlich fürchteten. Das war im Grunde genommen schrecklich, denn dass etwas zum Fürchten vorhanden war, das wussten sie alle, und sie ängstigten sich wohl auch zu recht, aber sie fürchteten sich vor Dingen, von denen sie nichts verstanden. Es war wohl so, dass sie sich vor der Natur selbst fürchteten, weil sie sie so vergötterten. Man fürchtete und liebte einen Gott stets gleichermaßen. Aber der Umstand, sich nie sonderlich in Gefahr um das Leben zu sehen, machte die Menschen zu Ruheliebenden, die sich gern allein in eine Wiese legten und gedankenverloren in den Himmel über sich starrten. 
Mark ging auf das Haus von Tsams Eltern zu, ein Holzhaus wie alle. Es war solide und ohne eine Ordnung einzuhalten in das Dorf gebaut, wie alle Häuser. Da standen Häuser, Hütten und Scheunen umgeben von Wiesen, ohne erkennbare Ordnung. Hier galten keine geometrischen Regeln; hier standen die Gebäude wie zusammengewürfelt. Sie standen alle mit einigem Abstand auseinander, so weit, dass jedes Haus von einer freien Fläche und Wiese umrahmt wurde. Aber auch nicht so weit, dass man nicht mehr von einer Dorfgemeinschaft sprechen konnte. Tsams Haus lag irgendwo inmitten dieses Dorfes, und wenn man genauer diese Häuser betrachtete, erkannte man: keines glich dem anderen. Sie unterschieden sich in An- und Aufbauten, an den Gärten, an den Anordnungen der Fenster – nur das Material war Holz und so bei allen gleich, sonst nichts.
Mark stieg die kleine Treppe hinauf und klopfte laut gegen die Tür, bevor er eintrat und das gewohnte Bild in Tsams Haus sah: die Wohnküche, die den unteren Teil des Hauses beherrschte, war hell erleuchtet. Man legte Wert auf viele große Fenster in Tsams Elternhaus. Hier brannten keine Feuer, und Maraim, der Bruder Tsams, sah ihn und winkte ihn zu sich. »Hallo, Mark. Suchst du Tsam?«
»Ja«, antwortete Mark und setzte sich dem drei Jahre älteren Maraim schräg gegenüber an den Tisch. Einige Krüge hochprozentigen Tropfens standen auf dem Tisch. Maraim bemerkte Marks Interesse daran und grinste. »Er ist nicht hier. Was stierst du denn so auf die Krüge, hä? Juckt dir die Kehle nach was Hartem, hä?«
Mark zuckte die Achseln. »Klar.«
»Dann fass mir mal zwischen die Beine, Kleiner, hahaha!«
»Du bist ein altes Schwein. Wo ist er?«
»Wer. Mein Hartes?«
»Tsam natürlich.«
»Er ist mit den Kindern draußen.«
»Was, zum Teufel, macht er mit den kleinen Kindern?«
»Nicht, was ich mit ihnen machen würde, wenn sie’s nur nicht weitererzählen würden, hahahaha!«
»Hör auf mit deinen Sauereien.«
Maraim lachte laut und krächzend. Jeder Junge oder Mann fand früher oder später ein passendes Mädchen, aber bei ihm war es sicher, dass er niemals eines bekommen würde. 
Was Maraim so abstoßend machte war nicht nur ein Streich der Natur, ihn mit Unansehnlichkeit zu schlagen; es waren seine Anlagen innerer Widerlichkeit, die er stets voll zur Geltung brachte. Er betrank sich bei jeder Gelegenheit maßlos, er war zu laut und zu ordinär; man nahm ihn als notwendiges Übel im Dorf hin. Er trug nur schmutzige Sachen und hielt nichts von Sauberkeit.
Man sah ihm gehörige Schmierigkeit an, und so vermied es jeder, allzu sehr in seiner Nähe zu sein.
»Er betreut sie.«
»Er tut was?«
»Ja, du hast richtig gehört. Tsam spielt mit den kleinen Kindern, um sie uns allen vom Leib zu halten.«
»Das wird ihm nicht gefallen.«
»Es stinkt ihm wie die Scheiße eines Gauls. Willst du ’nen Schluck von dem Kram hier?« Er deutete auf die Krüge.
Mark schüttelte den Kopf. »Ich will mich erst heute Abend betrinken.«
»Zum Besaufen ist es nie zu früh. Hier, trink.« Und ehe Mark sich versah, hatte er einen Becher mit dem Schnaps vor sich und spürte die Versuchung.
»Komm schon, Gottkind, sauf den Kack.«
»Wenn es Kack ist, warum soll ich es dann trinken?«
»Weil du dich besaufen willst, du Neunmalklug! Und jetzt runter damit, oder bist du heute Feigling?«
Das reichte, um in Mark Stolz auszulösen. Er nahm den Becher und leerte ihn mit einem Zug. Das Brennen in Mund und Kehle riss ihn fast vom Stuhl. Seine Augen weiteten sich und er hustete heftig. Maraim grölte. »Na, Süßer, noch auf den Beinen?«
Röchelnd erwiderte Mark: »Es geht gerade noch. Scheiße, was ist das nur für ein Zeug?«
»Pure Kacke, habe ich doch schon gesagt. Pure Kacke. Kuhscheiße, frisch aus dem Arsch. Haut rein, was?«
»Du bist und bleibst ein Dreckschwein, Maraim. Ich suche jetzt Tsam. Und du jetzt lass’ mich in Ruhe, du Widerling!«
Er stand auf und ging hinaus, noch immer mit Schwindel und Brennen überall.
Maraim lachte hinter ihm. »Gut gesagt, Kleiner. Werd` s mal versuchen, vielleicht kommt was dabei raus!«
Und Mark schlug einfach die Tür zu.

Am Ufer des Baches sah Mark schon von weiter Ferne eine Schar Kinder verschiedenen Alters, die zwischen den Bäumen und Büschen entlang der Wasserlinie und im Wasser selbst entlang huschten. Sie gaben ihrer Vergnügung offenkundigen Ausdruck. 
Der sanfte Wind trug ihr Geschrei und Gequieke weit über das Land, und es schien, als wären alle Kinder hier versammelt. Sie spielten Fangen und Verstecken, sie ließen flache Steine über das Wasser hüpfen, sie schwammen, sie platschten, sie warfen sich gegenseitig ins Wasser, und besonders die Mädchen mussten es hilflos über sich ergehen lassen, wie sie von den Jungen lange Zeit unter Wasser gedrückt wurden. Wenn sie hochkamen, holten sie tief Luft, japsend und keuchend, ohne die Gelegenheit zu bekommen, außer Keuchen und Strampeln darauf aufmerksam zu machen, dass ihnen diese Behandlung missfiel, denn stets wurden sie sofort wieder unter Wasser gedrückt. Nun, ertrunken war noch niemand, doch hätte Tsam seine Aufgabe ernster genommen, dann hätte er dies wohl gesehen und verhindert. 
Doch nichts interessierte ihn sonderlich. Er lag unter einem Baum und ließ die Götter gute Menschen sein. Mark steuerte auf ihn
zu, ohne von ihm gesehen zu werden. Mark benutzte diesen Vorteil, um sich von hinten anzuschleichen, in beiden Hände Berge von Erde, um sie Tsam von hinten überraschend auf Bauch und ins Gesicht zu werfen.
Tsam schrak mit einem lauten »Iiih« auf und stand sofort. In seinem von der Sonne gebräunten Gesicht, das von schwarzen Haaren umrahmt wurde, spiegelte sich Wut wider, weil er an einen Spaß der ihn nervenden Kinder gedacht hatte. Als in seinem Hirn der Impuls über die Sichtung Marks angekommen war, entspannte er sich ein wenig. »Du warst das?
»Sicher, warum nicht. Ich habe mich an dir für seinen Bruder gerächt.«
»Wieso, was hat er getan?«
»Er hat wieder den üblichen Mist erzählt. Er ist wirklich widerlich. Manchmal wünschte ich, Tirata würde ihm die Beulen an die Eier zaubern.«
Tsam setzte sich wieder unter seinen Baum in den Schatten. 
»Was wolltest du bei uns?«, fragte er.
»Ich habe dich gesucht«, meinte Mark und setze sich dazu. Beiläufig sah er den herumtollenden Kindern zu. »Ich habe nämlich jetzt nichts mehr zu tun, und da dachte ich, du könntest Gesellschaft gebrauchen, wenn du nicht gerade arbeitest.«
»Gut Idee«, sagte Tsam und schloss die Augen.
»Solltest du nicht auf die Kinder aufpassen?«
»Eigentlich schon.«
»Sie ertränken sich gegenseitig.«
»Na hoffentlich. Sie gehen mir auf die Nerven. Ich hätte lieber Holz gehackt.«
»Wieso, du hast es doch hier ganz gut.«
»Klar, weil ich alles vernachlässige. Das ist der Trick an der ganzen Sache. Ich mache mich doch nicht fertig, wenn ich mir für den Abend ein großes Betrinken vorgenommen habe.«
Mark dämpfte seine Stimme. »Tja, das ist so eine Sache. Ich habe mich wirklich darauf gefreut, aber Pepe hat mir für heute verboten, zu trinken. Er hat schlechte Laune wegen der vielen Arbeit und meinte, mich damit ärgern zu müssen.«
Tsams Augen waren mittlerweile geweitet und auf Mark gerichtet. »Was willst du damit sagen?!«
»Dass ich heute Abend nicht mittrinke, Tsam.«
»Was? Nicht mittrinken? Mit wem soll ich denn dann trinken?«
Mark hob kurz die Achseln und entgegnete resigniert: »Es gibt andere als mich. Pepe wird sich bestimmt betrinken. Du kannst es ja mit ihm machen. Oder mit den anderen.«
»He! Die sind doch alle entweder alle zu alt oder zu jung! Du bist der einzige im Dorf in meinem Alter! Ich will mich mit dir betrinken, und mit sonst keinem! Was soll das?«
»Ich habe keine Ahnung.« Mark sah zu Boden. »Frag Pepe. Er ist heute schlechter Laune.«
»Das ist mir doch egal! Was mache ich jetzt? Heute ist das erste Feldfrucht-Fest, an dem ich mich betrinken darf, und ich freue mich schon den ganzen Winter darauf, und ein paar Stunden vorher kommt so was! Das ist nicht gerecht!« Tsam sprang auf. »Wo ist dein Pepe? Ich werde ihm sagen, dass er mir alles versaut, wenn er dich nicht mittrinken lässt!«
Er sah zum Bach herüber, wo ein Junge ein Mädchen pausenlos unter Wasser drückte und sie nur kurz Luft holen ließ.  »He!« brüllte Tsam mit voller Stimmkraft. »Lass sie los, oder ich binde dich unter Wasser an einen Stein! Loslassen, sofort, sage ich!« Er war außer sich, und Mark grinste in den Schatten und sah Tsam von hinten an. Wie erbost Tsam war! Wie aufgeregt! Mark stand auf und ging zu ihm. Kinder rannten um sie herum und zupften an ihnen. »Spielt ihr mit uns Pferd und Reiter? Spielt ihr mit uns Pferd und Reiter? Och bitte, spielt mit uns doch Pferd und Reiter!«
Mark beachtete sie kaum, doch Tsam stieß sie wutentbrannt und grob zur Seite. »Zieht Leine, kleines Kreppzeug!«
Verdutzt über Tsams Wutausbruch wichen die Kleinen zurück und wagten es erst in einigen Metern Entfernung, zaghaft wieder mit ihrer Tollerei zu beginnen.
Mark grinste, legte seinen linken Arm um Tsam, drückte ihn ein wenig an sich und sagte, aufs Wasser blickend: »Weißt du, man sollte nicht alles glauben, was einem der beste Freund aus Spaß erzählt.«
Tsam sagte nichts.
»Es war ein Witz«, gab Mark Nachdruck.
Tsam sah ihn an. »Hast du gerade Witz gesagt?«
Mark sah ihn grinsend an und nickte. »Mmhmm.«
»Du hast mich also angelogen?«
»Mmhmm.«
»Du Drecksack«, rief Tsam und warf Mark zu Boden, setzte sich auf ihn und kitzelte ihn durch, dass Mark japste. »Du mir Lügen erzählen? Na warte, na warte!«
»Hör auf«, versuchte Mark ins Lachen zu sagen, doch er schaffte es mehr schlecht als recht. Tsam hörte nicht auf. 
»Ich will, dass später gesagt wird, dass Tsam seinen besten Freund Mark zu Todes gekitzelt hat, weil er ihm Lügen vor dem Feldfrucht-Fest erzählt hat. Er hat ihm weismachen wollen, dass er nicht mit ihm mittrinken durfte, obwohl sich beide das ganze Jahr auf nichts anderes gefreut hatten wie auf das.«
»Nein! Nein! Hör auf!«
»Nein, ich höre nicht auf. Du kriegst deine Strafe. He, Kinder, kommt her! Wir kitzeln Mark durch! Macht alle mit!«
Mit frenetischen Jubel zogen sich die Kinder zu einer Traube zusammen und fielen über Mark her wie eine brüllende Horde Welpen über die Zitzen ihrer Mutter. Sie alle gaben nach Kräften ihr Bestes, was Mark nicht zugute kam. Er schrie und brüllte unsichtbar unter einer bunten Schar von Kindern und Tsam, der auf ihm saß, und konnte sich nicht wehren, und erst nach einiger Zeit hörte Tsam auf und stand auf. Mark schaffte es dann recht leicht, die Kinder von sich abzufegen wie Staubkörner. Als er stand, war er dreckig, zerzaust und halb nackt. Die Brut hatte ihm im Eifer des Gefechtes das Hemd halb heruntergerissen und die Haare durcheinandergewirbelt. 
Tsam lächelte. »Ich würde mir demnächst überlegen, ob du mir irgendwelche Geschichten erzählst«, meinte er.
Die Traube von Kindern hatte nicht genug und ließ nicht von Mark ab, bis er sie anbrüllte: »Geht spielen!« Wie ein Bienenschwarm huschten die Kinder zurück zum Wasser und machten sich wieder daran, sich gegenseitig zu ertränken.
Mark richtete sein Haar und machte sich daran, sein Hemd wieder in die Hose zu stopfen. Er setzte sich neben Tsam unter einen der Bäume. »Dein Bruder ist ein Widerling. Er ist verdorben von oben bis unten. Er ist …«, Mark fand keinen treffenden Ausdruck.
Tsam starrte in die Leere. »Ja, das ist er. Ich schäme mich, so einen Bruder zu haben. Maraim ist das Letzte. Heute Abend, wenn er richtig betrunken ist, wird er wieder anfangen, zu toben. Das macht er oft.«
»Du kannst heute bei mir schlafen, wenn er wieder gewalttätig werden sollte.«
»Ich glaube, das tue ich auch. Es wird wohl besser sein.« Ein Grinsen umspielte Marks Züge. »Wollen wir uns schon vorab dafür rächen?«
»Wie meinst du das?«
»Na, wir könnten ihm doch einmal einen richtig schönen Denkzettel verpassen dafür, dass er ist, wie er ist, und ist, was er ist.«
»Und wie willst du das anstellen?«
Mark stand auf. »Komm mit. Aber verkneif dir das Lachen.«
Tsam tat, wie ihm geheißen und ging mit Mark zum Bach, dessen Wasser wild durch die Gegend spritzte, da sich die Kinder darin herumwälzten und plantschten. »He, Kinder«, rief Mark, und das ausgelassene Toben verebbte sofort. »Kommt, ich erzähle euch eine Geschichte. Habt ihr Lust?«
Natürlich hatten die Kinder das, und sie machen sich daran, sich eilig im Mark und Tsam zu scharen und erwartungsvoll dreinzublicken. Geschichten, die man sich erzählte, waren immer Ereignisse, und schon früh lernte man, sie zu erzählen; aber nie, sie als Unsinn abzutun.Als die Kinder versammelt waren, bewegte sich Mark unter die Bäume, und wie ein Haufen Ameisen folgten ihm die Kinder und Tsam und ließen sich im Schatten nieder.
Mit einem Mal war es still geworden. Hatte es eben noch den Anschein eines Abenteuerspielplatzes gehabt, so vernahm man nun das ferne Pfeifen der Vögel, das allgegenwärtige Summen der Insekten, das Zirpen, das Quaken, das um sie herum war, und dieses himmlische Adagio betäubte die Anwesenden und machte sie offen für die Geschichten, die vom sanften Rauschen der Blätter im lauen Wind untermalt wurde.
Mark begann mit seiner Geschichte. »Ihr kennt doch alle den widerlichsten Menschen im Dorf, oder? Wer ist es?«
Aus vielen Kinderkehlen kam es gleichzeitig und in allen Tonlagen: »Maraim! Maraim!«
Mark nickte zufrieden. »Richtig. Maraim. Es hat noch nie einen so widerlichen Menschen gegeben, oder?«
»Nein, nein«, riefen die Kinder einhellig, und auch die Größeren unter ihnen, die begannen, wie Pflanzen zu sprießen, schüttelten eifrig den Kopf.
Tsam saß da und überlegte, was er tun sollte. Jeder wusste, dass Maraim sein Bruder war, und nun hatte er Furcht, dass etwas auf ihn zurückfiel.
»Findet ihr, Tsam hätte so einen Bruder wie Maraim verdient?«
Kollektives, lautstarkes Verneinen.
»Findest ihr, Maraim könnte überhaupt Tsams Bruder sein?«
Da war die Verneinung nicht mehr so einhellig.
Mark riss die Augen weit auf und wartete auf ein lautes Rauschen der Blätter, mit dem er leise und fast flüsternd in den Wind hauchte: »Er ist gar nicht Tsams Bruder.«
Die Kinder erschraken, und Tsam am meisten. Er sah nicht minder verblüfft Mark an, auf den so viele große Augen und offene Münder gerichtet waren.
»Wisst ihr, das ist ein großes Geheimnis. Maraim ist nicht mal ein richtiger Mensch. Seht ihn euch doch an, diesen Widerling. Und riecht er wie ein Mensch?«
Kopfschütteln.
»Er stinkt doch fürchterlich, oder?«
Kopfnicken.
»Es war vor vielen Jahren, als noch niemand von uns lebte. Da kam ein Mensch von weither, und niemand kannte ihn.« So einfach dies ausgesprochen war, so unvorstellbar war es. Die Welt war das Dorf, mit dem, was darum zu sehen war, aber hinter dem Wald, hinter den Bergen hörte die Welt auf, das wusste man. Dahinter gab es nichts, auch keine Menschen. Und woher sollten sie sonst kommen, als aus der Corrin-Höhle?
»Dieser Mensch kam ins Dorf und wollte hier leben. Aber er war dumm. Zu dumm zum Säen, zu dumm zum Ernten, zu dumm zum Schlachten. Er konnte nicht mal Wasser holen, selbst dazu war er zu dumm.«
Kichern fraß sich durch die Gemeinde.
»Niemand hatte jemals einen solch dummen Menschen gesehen, und auch nie einen so hässlichen. Er hatte überall am Körper dicke Beulen, die gelb, grün und blau waren.«
Ekel verzog die Gesichter der Zuhörer.
»Aus diesen Beulen kam Eiter, der furchtbar stank.«
Nun gaben die Zuhörer ihrem Ekel verbal Ausdruck.
»Niemand wollte ihn haben, weil er aus dem Mund stank und Eiter versprühte. Niemand konnte ihn ansehen, ohne dass einem schlecht wurde. Er hatte sich in ein Mädchen verliebt, dazu war er nicht zu dumm. Aber das Mädchen wollte ihn nicht. Weil er auch immer kotzen musste.«
Bähs und Böhs machten die Runde, und Tsam senkte den Kopf, um sein Lachen zu verbergen.
»Ja, dieser Fremde war wirklich ein hässlicher Kerl. Nun, es kam der Tag, an dem die Leute im Dorf ihn nicht mehr länger bei sich haben wollten. Er ging ihnen auf die Nerven, und sie wollten endlich wieder frische Luft atmen. Sie prügelten ihn aus dem Dorf. Er lief, so schnell ihn seine fetten Beine trugen, und als er weit genug fort war, ließ man ihn in Ruhe. Man meinte, endlich Ruhe vor ihm zu haben. Aber falsch gedacht. Er schlich sich wieder ans Dorf heran und wartete. Was er nicht wusste, war, dass er so unerträglich stank, dass man ihm im Dorf roch. Und die Männer wussten, was sie zu tun hatten. Sie schlichen sich eines Nachts zu ihm. Er war ungefähr hier, wo wir jetzt sind.«
Erstaunte Blicke huschten über die Landschaft, und Mark und Tsam merkten, dass vor den geistigen Augen der Kinder der hässliche, stinkende Fremde auftauchte.
»Sie warfen ihn ins Wasser, als er schlief, und er fiel nicht nur ins Wasser, er fiel auch in Schlamm und Kacke, in Berge aus Schlamm und Kacke. Er verfing sich darin, und aus lauter Angst machte er sich in die Hose. Er riss sich im Wasser die Hose runter, die Frösche behüpften ihn. Und die Kacke aus seiner Hose vermischte sich mit dem dem Schlamm und der Kacke. Der Mann lief davon und wurde nie wieder gesehen. Aber seine Kacke schwamm im Wasser. Lange war es still im Dorf, aber irgendwann kam eine andere Gestalt – es war Maraim! Er war eine Mischung aus dem Schlamm und der Kacke des grässlichen Fremden. Er ist kein Mensch. Er ist eigentlich nur Abfall. Stimmt doch, oder?«
»Ja, ja«, riefen die Kinder, und Tsam lachte lauthals, weil er die Beschreibung und die ganze Geschichte so komisch und treffend fand.
Mark sagte weiter: »Vor ihm muss man keine Angst haben. Oder habt ihr etwa vor Pferdeäpfeln Angst?«
»Nein, nein!«
»Also. Wenn ihr ihn aus dem Dorf haben wollt, müsst ihr ihn mit Fröschen und Schlamm aus dem Bach bewerfen, denn davor ekelt er sich maßlos. Bewerft ihn heute beim Fest damit und gebt es ihm zu essen, dann wird er aus dem Dorf verschwinden. Macht ihr das?«
Die Begeisterung für diesen Plan war ausufernd, und sogleich machten sich die Kinder des Dorfes mit Ausnahme derer, die ihren Eltern hatten helfen wollen oder müssen – darunter auch Jessica – daran, den Bach und das Ufer nach Fröschen abzusuchen, und es gab genug davon. Im Bach fanden sie massenhaft Schlamm, und sie legten alles in Eimer.
Maraim sollte am Abend die Rache der Kinder zu spüren bekommen.

Nach getaner und schwerer Arbeit setzte sich Lorn in seine Wohnküche. Er musste ein wenig ausruhen, und das hatte er sich auch verdient. Das Licht der Sonne flutete durch die Fenster, und es war angenehm kühl. Die Luft roch holzig, und es war nur eine Frage der Zeit, bis das Haus sich mit Hitze aufgeladen hatte. Für jeden Mann im Dorf war jedes Fest mit Alkohol ein wahres Fest. Es war eine gute Angelegenheit, sich einen hinter die Binde zu kippen und um berauscht zu tanzen ebenfalls. Das Fest konnte nur gut werden, denn es gab da nichts, was irgend jemandem das Fest hätte vergällen können.
Es klopfte an der Tür.
»Ja«, sagte er lapidar, ohne sich umzusehen. Er vernahm Schritte und eine männliche Stimme, die sagte: »Tag, Lorn. Mit der Arbeit fertig?«
Lorn hörte schon an der Stimme, dass es Alkon war, der da hineinkam und schließlich in seine Sicht trat, um sich vor ihn zu setze. Der Besucher, etwa so alt wie Lorn, brachte einen Schwall Frischluft mit sich.
»So ziemlich«, entgegnete Lorn. »Es gibt noch einiges zu tun, aber das ist nicht so eilig. Ich habe mich erst mal hingesetzt.«
»Das gönne ich dir, wenn ich bedenke, was ich noch alles zu tun habe …«
»Ach, und du ruhst dich auch bei mir ein wenig aus?«
»Eigentlich nicht.« Alkon schürzte die Lippen.
»Was ist denn los?«, fragte Lorn leicht verunsichert.
»Nun, wir haben beraten, und du bist es diesmal, der Tirata einlädt und abholt.«
Lorn erstarrte. »Was, ich?«
»Es war eine gerechte Entscheidung. Jeder muss einmal gehen, und du hast nun das richtige Alter. Es ist ja auch nur ein Mal.«
»O, nein, ich …«
»Du musst ihr doch nur Bescheid geben. Du musst nicht einmal zu ihr hinein. Rufe es am besten durch die Tür, nachdem du angeklopft hast.«
»Das … das … schaffe ich nicht.«
Jessica kam mit einem Eimer voll Schlamm hereingestürmt. »Hallo, Pepe«, rief sie und stellte den Eimer in eine Ecke. Sie war heilfroh, dass Lorn nicht fragte, was in dem Eimer war.
»Warum war ich nicht dabei?«, wollte Lorn wissen.
»Na, na, das hört sich sehr nach Misstrauen an, Lorn. Meinst du, man will dir was Böses? Jeder muss es einmal tun, und diesmal hat man dich gewählt. Ganz einfach. Warum sollte es dich nicht treffen?«
»Jaja, du hast ja recht, aber …« Er schluckte schwer, und Jessica kam zu ihm. »Was ist denn, Pepe?«
»Dein Pepe muss zu Tirata, um sie zum Fest abzuholen.«
Begeisterung keimte in ihr auf. »Ich komme mit, Pepe!«
»Nein, Jessica, nein. Du bleibst schön hier.«
»Och, Pepe. Was soll sie denn tun? Uns fressen? Oder frisst sie nur kleine Mädchen?«
»Jessica, bitte.«
»Was soll das? Lass sie doch mitgehen.«
Und so blieb Lorn noch ein wenig sitzen, um seinen Mut zu sammeln.

„Der Wind von Irgendwo geht weiter mit Kapitel 3: Bei Tirata