Sag mir wer du bist - Erzählung von Oliver Koch im Blog lesen - oliverkoch.net

Laura war klar, dass die Nachbarn reden, und auch wenn sie bedeutendere Probleme hatte, war es ihr unangenehm. Sie dachte daran, während sie im Zimmer ihres Sohnes saß und weinte. Sie dachte daran, als sie das erste Mal aus der Tür trat, nachdem es bekannt geworden war und sie den Blick der Leute hatte aushalten müssen. Viele von ihnen kannte sie gar nicht oder nur vom Sehen, wie Sternschnuppen waren sie zuvor aufgetaucht und wieder aus ihrem Blickfeld verschwunden, fortgeschwemmt mit ihren Ansichten, die belanglos für sie gewesen sind, wie umgekehrt auch sie nichts anderes für diese Nachbarn gewesen ist als eine Erscheinung, die zufällig den Weg kreuzte.

Bis vor drei Tagen. Als sie danach das erste  Mal das Haus verlassen musste, spürte sie, wie sie zu einem Blickpunkt geworden war, der bewertet und verachtet wurde.

Dabei konnte sie unmöglich die Schuld tragen – zumindest nicht allein. Sie konnte sich nicht vorstellen, wie es hatte geschehen können, und so unbeteiligt sie sich fühlte, so ungerecht empfand sie zu allem Gram die Abwertung ihrer Nachbarn.

Ob alle Freunde noch zu ihr hielten, die sich bislang nicht gemeldet hatten?

Monika hatte keine Stunde nach der Mitteilung bei ihr angerufen, um ihr zu versichern, dass sie zu ihr halten werde „egal, was passiert ist“.

Wenigstens. Aber dieses „Egal“ war und blieb das Kainsmal. Denn was geschehen war, war nicht egal, und es ließ sich nicht mehr aus der Welt schaffen.

Seit drei Tagen bekam sie kein Auge zu, und die Stille zwischen all den Gesprächen und Telefonaten spendete Trost und Schmerz gleichermaßen.

Die Stille ließ sie eintreten in das Reich der Bewertung, und dieses Reich war gewaltig. Es hatte unerforschte Gelände wie ausgetretene Pfade, es hatte Klippen und Tiefen, stille Wasser und stürmische Steppen. Hin- und hergerissen zwischen Ohnmacht, Scham und Schuld fand Laura noch nicht den Platz, an dem sie sich niederlassen konnte – stattdessen trieb sie durch dieses Reich und marterte sich mit den unendlichen Möglichkeiten, die es bot.

Sie war zu betäubt, um müde zu sein, und auch zu betäubt, das Zimmer, in dem sie gerade saß, mit ihrem Sohn in Verbindung zu bringen, obwohl es seines war.

Das Zimmer eines Teenagers, auf rührende Weise chaotisch, auch wenn sie immer sagte, er solle aufräumen. Poster hingen da ebenso wie erste Bilder von Renoir – billige Pappdrucke in rahmenlosen Bilderhaltern, aber für ihn war es wie ein Museum und ein Schritt zum Erwachsenwerden. Renoir hatte er in einer Zeitschrift beim Arzt entdeckt, sich eine kleine Kollektion besorgt und zwischen Film- und Bandplakaten sowie einem Fan-T-Shirt an die Wand gehängt.

In diesem Zimmer machte er seine Hausaufgaben oder täuschte es wenigstens vor. Den Flachbildmonitor des Computers hatte er sich vor drei Monaten durch einen Ferienjob verdient, und er war so froh, als er ihn sich gekauft und aufgestellt hatte. „Wow“ war durch das Haus gehallt, voller Glück über dieses alberne Technik-Ding. „Superscharfes Bild!“

Und nun saß sie da und atmete die Luft eines seit drei Tagen ungelüfteten Zimmers ein, das noch ein wenig nach ihrem Sohn roch. Seinem Deo aus de mSupermarkt, das er sich unter die Achseln sprühte. Und fragt sich, was die Nachbarn wohl dachten. Ob sie letztlich fair seien – aber konnte sie das erwarten? Die Zeitungen fragten, wie es hatte geschehen können, und was sollte sie darauf sagen?

„Ich habe keine Ahnung“, sagte sie jedem und immer wieder sich selbst „Er war ein ganz normales Kind.“

„Er hat keine Auffälligkeiten gezeigt“, hatte der Schulleiter zu Protokoll gegeben, vor zwei Tagen, als die Schule plötzlich still stand. Seitdem spudelten die Ermittlungen mehr und mehr gruselige Details aus.

Warum ihr Sohn zum Mörder wurde, wusste noch niemand – doch die Nachbarn sagten nun, sie habe es verschuldet, schließlich sei sie die Mutter.

„Lass dich nicht fertigmachen“, sagte Monika, und der Beistand, den sie auch von anderen bekam, tat ihr weder gut noch schlecht. Zu benommen war sie, um glücklich darüber zu sein oder froh, das Wissen um Rückendeckung prasselte wie Wasser in eine Zisterne.

Vor vier Tagen war sie lediglich Mutter von Nils, ihrem 16-Jährigen Sohn, der zum Gymnasium ging und der sie ein ums andere Mal wahnsinnig gemacht hat. Mit seiner Lautstärke, mit seiner pubertären Pampigkeit, mit seinen unausgereiften und wöchentlich wechselnden Ansichten, wie man sie in dem Alter hat.

Den sie liebte für das, was er war und wie er war.

Nun war sie die Mutter eines Mörders, der in ein Haus eingedrungen und mit einem Freund ein Ehepaar erstochen hat – einfach so. 

Über 50 Messerstiche bei jedem.

Als sie im Fernsehen Worte hörte wie „Blutrausch“ und „Wahnsinnstat“, dachte sie zunächst, welcher Geisteskranke und Perverse da zugeschlagen haben mochte.

Als sie hörte, dass Nils verhaftet worden war, weil er einer dieser beiden Geisteskranken und Perversen war, lähmte Schock die Welt ringsum.

Ein eigenartiges Gefühl, über das sie in einigen Monaten ein Buch geschrieben haben würde, nachdem ihr Sohn längst verurteilt und inhaftiert worden war.

Es war kein Gefühl inneren und äußeren Stillstands – auch keins von Eiswasser am Körper. Trudeln? Fallen? Nein. Ein Gefühl im Bauch. Ein Schmerz, der nicht fragte, ob er kommen dürfe oder nicht. Sondern der einfach kam und schlug. Seit drei Tagen schon.

Frank ist es gewesen, der recht schnell gesagt hatte: „Das liegt in unserer Verantwortung, er ist unser Sohn.“ Seitdem war er abgetaucht, dümpelte in der Trübe von Sprachlosigkeit und blickte mit stumpfen Augen nach nirgendwo. Oder in sich hinein. Oder wartete wie eine Maschine auf Standby auf einen Impuls, wieder anzuspringen, der nicht kam. Wer konnte das wissen …

Das Wort „Verantwortung“ hatte weh getan, auch „unser Sohn“. An ihnen wäre es gewesen, das zu verhindern, doch so sehr Laura nach Indizien blickte, nach Beweisen, die sie hätten übersehen können, fand sie nichts anderes als typische Dinge in einem typischen Zimmer eines typischen Teenagers. 

„Die Computerspiele sind es“, sagten sie im Fernsehen, die einer ebenso geschockten wie höchst interessierten Menge die Tat zu erklären versuchte. Nils hat Spiele gespielt, auch online. Aber da traten Fabelwesen mit Waffen zwar, aber ebenso mit Zaubersprüchen gegeneinander an. 

Diese Spiele haben Nils zu keinem Mörder gemacht – allein schon die Symbiose dieser beiden Worte: Nils und Mörder. 

Sie erinnerte sich an die erste Begegnung mit Nils nach der Tat. Er hatte da gesessen, ihr Nils. Ernst sei er, kalt, sagten sie, doch sie wusste es besser. Er schwieg unter einer Maske. Der Mörder, der ihr gegenüber gesessen hatte im Moment ihres Eintretens kurz aufgesehen und sofort zu Boden geschaut. Geschämt hatte er sich, das wusste sie.

Als sie dem Mörder gegenüber saß, fielen ihr keine Worte ein, Frank war daheim geblieben. Er konnte den Anblick seines Sohnes nicht ertragen.

Sie auch nicht. Abscheu überkam sie, und Wut, dass sie ihn hatte schlagen wollen, mehrmals, einfach mitten ins Gesicht. Er hätte es verdient.

Nils Namen auszusprechen war schwer gefallen. Der Name verpuffte in den Universen zwischen ihnen. Kalt, sagten sie alle, die in ihm nur die Bestie sahen. Überrumpelt, sagte sie, die seine Mutter war und ihn besser kannte.

Die Stille zwischen ihnen war unerträglich laut geworden, und während sie da saß und das „Warum“ nicht zu fragen wagte, wünschte sie sich nach Hause, an den Beamten vorbei, die sie ansahen wie die Mutter eines Biests, die durch seine Geburt das Elend verschuldet hatte.

Das „Warum“ war ihrem Mund schließlich von allein entwichen – eine Antwort konnte es kaum geben, und so schwieg Nils. Er zuckte nur die Achseln.

„Warum?“ fragte sie nochmals, diesmal mit Nachdruck. „Wie kommt ein Mensch auf diese Idee? Warum TUT man so etwas?“

Auch jetzt, da sie in seinem Zimmer saß und das Monster und den Mörder darin zu finden versuchte (erfolglos) oder wenigstens Anzeichen darauf, gab es keine Antwort.

„Wir sind verantwortlich“, stammelte Frank immer wieder in die Stille hinein, wenn er überhaupt sprach. Wie sollte er jemals in seine Firma zurückkehren? Wie sollten sie das Haus halten können in dieser Umgebung, in der man sie ansah als Mörder-Eltern, deren Wertelosigkeit sich in ihrem Sohn manifestiert hatte.

Nils gab immer die Hand, wenn er Erwachsene kennenlernte. Nils gab sich immer Mühe bei der Auswahl der Geschenke für seine Eltern zu Weihnachten und zum Geburtstag. Nils hatte von sich aus einen Ferienjob gesucht, weil er sich Dinge leisten wollte, die er nicht bekam. Über diesen Nils sprach die Reportermeute nun als „Das Böse hat ein Gesicht“ und „Das Böse kam am Abend.“ Die Nachbarn sprachen nun davon, in der Nachbarschaft des Bösen zu leben, als sei Nils der Antichrist und Laura und Frank diejenigen, die die Schuld für sein Erscheinen trugen.

„Wer bist du?“ hatte sie Nils beim ersten Treffen gefragt. „Das kann doch nicht mein Sohn sein.“ Tränen quollen. „Das kann doch nicht mein Sohn getan haben! Sag mir wer du bist!“ Als sei ein Dämon in ihn gefahren, den es auszutreiben galt. „Sag mir wer du bist!“

Nils Gesicht begann sich darauf zu verformen, dass es nicht lang gedauert hatte, bis er weinte mit bebendem Körper, nicht wagte, sich hinter einer Hand zu verstecken und stattdessen zu Boden blickte. 

Und „Mama“ sagte.

Mama – Verantwortung, Erziehung, Werte, Vermittlung, Liebe, Scheitern. Konzentriert in vier Buchstaben. 

Es waren die letzten Worte, die sie miteinander gewechselt hatten. Sie konnte und wollte nicht Mama sein und gleichzeitig doch.

Sein Zimmer war so normal. 

Das getötete Paar kannte sie nicht. Nils und sein Freund Peter hatten es sich wahllos ausgesucht,  einfach geklingelt und den Mann nach dem Öffnen der Tür ins Haus getrieben mit gezückten Klingen und noch im Flur getötet. Die Frau hatten sie durch das Wohnzimmer verfolgt, zwischen Sofa und laufendem Fernseher war sie auf dem Boden gestorben. Mit Stichwunden in Brust, Rücken, Hals, sogar Gesicht.

In seinem Zimmer funkelte keine Messerklinge, keine Aggression zeigte sich. Auch die Polizei, die sein Zimmer durchsucht hatte, hatte nichts Verdächtiges finden können. Woher auch immer „das Böse“ gekommen war oder was es hatte ausbrechen lassen, niemand fand eine Antwort.

Er ist so normal.

Nach der Tat wurden Nils und Peter schon vor der Haustür von Nachbarn abgefangen, die die Schreie des Ehepaares gehört hatten. Beide Jungen waren voller Blut und hielten die Messer noch in den Händen. 

Die einzigen Worte, die man bislang den beiden hatte entlocken können, waren ein gemurmeltes „Weiß nicht“ von Peter und ein „Einfach so“ von Nils.

Es quälte Laura, dass sie nicht um die Toten trauern konnte, doch dieses Ehepaar war so weit von ihr entfernt wie der Mars oder die Sonne oder Alpha Centauri.

Sie schämte sich dafür, nichts anderes zu empfinden als die Schande, versagt zu haben und sich über das Gerede anderer Leute den Kopf zu zerbrechen, und Trauer zu verspüren, weil Nils ihr und Franks Leben zerstört hatte. Ihr fielen die Worte ihrer Mutter von heute früh ein: „ Es ist nicht wichtig, wo man beginnt, die Sache zu begreifen. Wichtig ist, dass man damit beginnt.“

Beginnen, ja. Beginnen bei sich selbst. Lass es einfach fließen und sich zusammensetzen.

So kehrte die Frage zurück, die sie Nils gestellt hatte: „Sag mir wer du bist“, und die Antwort war so absurd wie einfach. Das Böse, das Biest, das Monster?

Mag sein.

Aber es kam ihr nun so vor, als hätte Nils auf Ihre Frage zu ihr aufgeblickt, sie lange angesehen und einfach das Naheliegendste gesagt: „Dein Sohn.“