Der-Wind-Von-Irgendwo-Oliver-Koch-Kapitel-8-lesen

Mystery-Roman von Oliver Koch

Der Wind von Irgendwo von Anfang an lesen
Erst Kapitel 7 lesen

Die Rufe ihrer Mutter ignorierend, steuerte Jessica auf Tiratas Haus zu, das sich vom Dorf begrenzte. Dieser ruhige Stein inmitten von Bäumen und Büschen, um den nichts anderes brandete als ein zur Zeit stiller grüner Ozean aus wildem Gras, Feldblumen und -früchten, Koppeln und Weiden strahlte Erhabenheit aus. Die Bäume, die das Haus umgaben, erschienen wie Grenzen zwischen Diesseits und Jenseits, und die Zeit wollte um das Haus herum stillstehen; alles Menschenerdenkliche und auch das, was man nicht erdenken konnte oder wagte, schien hier möglich zu werden – und Jessica hatte Angst. Sie wollte endlich erfahren, ob sie von den Dingen wissen durfte oder nicht. Sie hatte keine Angst davor, von Tirata ausgelacht zu werden, denn schon allein der Gedanke, Tirata zu fragen, auf sie zuzugehen und freiwillig mit ihr Worte zu wechseln, würde sie im Dorf wie eine kleine Gottheit erscheinen lassen, denn sie hätte so viel mehr gewagt als alle Männer des Dorfes der letzten Generationen zusammengenommen – vielmehr hatte sie Angst vor dem, was geschehen würde, wenn Tirata sie ernst nähme.
Die Grasähren, die Jessica auf ihrem Weg zu Tiratas Haus passierte, standen still und aufrecht wie eine Ehrengarde. 
Entschlossen blickte sie zu den Bäumen hinauf, diese schmalen, mächtigen Bäume, gegen die sie wie aus dem Zwergenland zu kommen schien.
Schließlich stand sie vor der Tür und konnte sich rühmen, erneut Schritte unternommen zu haben, die niemand sonst freiwillig unternahm. 
Das Haus wollte nicht zu einem gefährlichen Insekt werden, dessen Beine man so lange nicht sah, bis man nah genug herangekommen war, als es aufsprang und angriff. Es war ein seltsames Haus, ja, aber kein gefährliches.
Jessica klopfte an.
Keine Reaktion.
Sie klopfte nochmals, diesmal so laut, dass Tirata es selbst dann hätte hören müssen, wenn sie geschlafen hätte.
Es vergingen Sekunden vollkommener Stille.
Plötzlich öffnete sich die Tür, und Jessica stand vor Tirata, vor der jeder im Dorfe zitterte und schlechte Träume bekam, wenn man den Namen abends im Dunkeln vorm Zubettgehen nur erwähnte. Sie stand nun vor Jessica und sah sie an mit grünen Augen, die längst nicht so alt erschienen wie alles andere an ihr, von Krähenfüßen umrahmt, die sich durch gebräunte Haut zogen. Tirata hatte die Haare gekämmt und trug ein Kleid aus feinem Stoff, wie ihn niemand im Dorf trug – traumhaft und mit vielen bequemen Falten. Tirata besaß eine große Nase und ein recht spitzes Kinn, aber sie war unweigerlich eine ganz normale Frau, wenn man gewillt war, sie richtig anzusehen.
»Kind, was tust du denn hier?«, fragte Tirata erstaunt.
»Ich wollte dich besuchen.«
Tirata sah sie aus großen verblüfften Augen an. »Du bist gekommen, um mich zu besuchen?«
»Ja, bin ich.«
»Wie kommst du dazu, Kind?«
»Ich habe gedacht, es wäre mal ganz lustig, zu dir zu kommen.«
»Lustig?!« Tiratas Stimme war noch immer erstaunt und hoch. »Lustig bei mir? Hier gibt es keine kleinen Kinder, mein Kind. Es wird hier für dich wohl langweiliger sein als für mich, fürchte ich.«
Jessica schluckte, denn sie ahnte, eine Chance zu vertun, wenn sie jetzt nicht entschlossen genug war, doch bekam sie es nicht einfach über die Lippen. «Ich dachte … ich meinte, dass es vielleicht … dass du …«, druckste sie.
»Du kannst im Dorf mit deinen Freundinnen sicherlich besser spielen als hier«, meinte Tirata freundlich.
»Ja, aber die wissen nichts von den ganzen Geheimnissen. Du aber. Ich will, dass du mir darüber erzählst.«
Für einige Zeit herrschte Schweigen. Dann: »Ich soll dir etwas über die Geheimnisse erzählen?«
Jessica nickte nur. 
»Du bist wissbegierig, kleines Mädchen?«
»So klein bin ich auch nicht mehr. Ich bin elf. Und ich habe keine Angst vor dir wie Pepe und alle anderen.«
Tirata grinste. »Ja, dein Pepe hatte ziemliche Angst vor mir, als hätte ich ihn hätte kochen wollen. Glaubst du, ich würde ihn kochen wollen?«
Jessica schüttelte den Kopf.
Tirata lächelte. »Bewundernswert. Jeder andere hätte das sofort geglaubt. Da bist du den anderen im Dorf um einiges voraus. Wie kommt das bloß?«
»Ich bin neugierig, das ist alles.«
Tirata sah in die Landschaft und schüttelte den Kopf. »Nicht zu glauben. Wirklich nicht zu glauben. Da kommt ein kleines Mädchen zu mir, um mich zu besuchen, damit ich ihr etwas von den Geheimnissen erzähle.« Sie sah Jessica an. »Es reicht dir wohl nicht, was ich denen im Dorf erzähle, wie?«
»Das sind die Geheimnisse, die du erzählst. Aber ich will mehr darüber wissen, damit sie eben keine Geheimnisse mehr für mich sind. Für dich sind sie ja auch keine mehr.«
»Das ist wohl wahr. Komm rein, wenn du dich traust.« Tirata öffnete die Tür weiter und lud Jessica ein, und diese trat ohne zu zögern in das Haus. Nach wie vor sah sie sich neugierig um und fragte sich, was sich wohl hinter dem wallenden Stoff verbarg, und warum Tirata eine größere Kochstelle als alle besaß.
»Das ist sehr mutig von dir, Jessica, hierher zu kommen. Hattest du denn gar keine Angst?«
»Nein, wovor auch?!«
»Vor meinem Wissen, vielleicht.«
»Deswegen bin ich doch hier. Wer fürchtet sich schon vor Wissen?«
Tirata sah sie geheimnisvoll an. »Weißt du, Kind«, begann sie, und ihr Gesicht wurde ein wenig wehleidig, »das Einzige, was die Leute an mir fürchten, ist mein Wissen. Das macht mich zur Dorfhexe. Nur, weil ich mehr weiß als sie.«
»Sind denn Hexen böse?«
»Wer sagt, dass ich wirklich eine bin? Und wenn ich eine wäre, warum sollte ich böse sein?«
»Weil du so weit weg wohnst. Weil du nie zu uns kommst. Weil du nicht so bist wie die anderen.«
»Man ließe mich auch nicht. Stell‘ dir vor, ich säße mich zu euch ans Abendfeuer. Ihr hättet doch alle Angst, den Mund aufzumachen, oder?«
Das leuchtete Jessica ein, während sie sich umsah. »Es ist hier nicht so heiß wie in unserem Haus.«
Tirata setzte sich. »Tja, Kind, im Dorf hieße es, da wären wieder Mächte am Werk, die niemand versteht. Dabei liegt es nur daran, dass mein Haus den ganzen Tag über im Schatten steht. Im Dorf wäre das wieder eine Geschichte über kühlende Bäume.«
»Gibt es denn kühlende Bäume?«
Tirata lachte und warf den Kopf ein wenig in den Nacken. Jessica hatte sie nie so freundlich und normal erlebt. »Nein«, antwortete ihr die Wahrsagerin, »nein, es gibt keine kühlenden Bäume.« Sie schwieg eine Weile, und Jessica endete mit der neugierigen Inspizierung des Hauses und sah sie an. Schließlich sagte Tirata weiter: »So wie es Vieles nicht gibt, von dem ihr meint, es würde existieren.«
Jessica verstand nicht, was ihr damit gesagt worden war und meinte: »Es gibt ja wirklich viel. Seht viel.«
»O ja, sehr viel. Und Vieles wisst ihr nicht. Ihr wisst weder, wer ihr seid, noch, woher ihr kommt. Und wohin ihr gehen werdet, wisst ihr auch nicht.«
»Doch, der Himmel hat geweint, und jetzt wollen alle in die Corrin-Höhle.«
Tirata sah erstaunt auf. »Sie wollen in die Corrin-Höhle?«
»Vielleicht. Sie trauen sich nicht, aber sie haben ein Zeichen bekommen. In Morkus‘ Buch war ein Bild von einem Mann, der aus einer Höhle kam, und er meinte, wir sollten in die Höhle gehen, um den Mann zu treffen. Und als sie sich nicht trauten, hat der Himmel geweint.«
»Ich habe ihn weinen sehen«, sagte Tirata nachdenklich. »Es werden andere Zeiten anbrechen, die jenseits dieses Lebens liegen. Zeiten, die alles so verändern werden, dass nichts mehr so sein wird wie sonst.«
»Woher weißt du das?«
»Kind, du bist klug, klüger als die anderen, aber du musst lernen, diesen Verstand richtig zu benutzen.«
»Darf ich mehr wissen als die anderen? Darf ich dich Dinge fragen, auf die du antwortest? Darf ich öfter kommen?«
»Es wird dir schwerfallen, mit dem umzugehen, was du erfahren wirst. Und es wird dir auch schwerfallen, damit umzugehen, wie dich dann die anderen behandeln werden. Und ich bin nicht einmal überzeugt, dass du alles begreifst, was du hier erfährst.«
»Aber wenn du es mir erklärst …«
»Es gibt aber so viel zu erklären.«
»Andere gehen auf die Felder, du nicht. Du hast Zeit, alles zu erklären.«
»Ach, woher willst du das wissen?«
Jessica sah zu Boden und ihre Chance vertan. »Ich habe es mir gedacht.«
»Das erste Prinzip ist: denke gemäßigt. Nur durch Erkenntnisse, die sich durch Zufall ergeben, kannst du auf die Bahnen gelenkt werden, die es überhaupt erst nützlich erscheinen lassen, zu denken. Dann kannst du diesen Zufällen auf den Grund zu gehen versuchen. Das hast du nicht getan. Dadurch hättest du dir aber den Stand der Erfahrung erarbeitet, die dich vorausschauend werden lässt. Du hast hingegen behauptet. Und durch Behauptungen denkt man nicht, man wird starrsinnig und ruht sich auf seinem angeblichen Recht aus. Und gerade Starrsinnigkeit ist das, was das Dorf seit jeher durchzieht wie eine Krankheit.«
Jessica sah in ihrem Geist alles zerfallen. Sie sagte nichts und blieb gedemütigt auf dem Stuhl sitzen. 
»Du bist gerade erst elf Jahre alt«, meinte Tirata leicht vorwurfsvoll. »Meinst du, fähig zu sein, als Hexe leben zu müssen? Von deinen Freunden Abschied nehmen zu müssen? Wenn niemand im Dorf mit Wissen umgehen kann, warum soll es dann ein elfjähriges Mädchen tun können?«
Jessica schwieg.
»Antworte schon! Ich kann deine Gedanken nicht lesen! Meinst du, du könntest das, was ich gerade sagte? Und wenn ja, was bewegt dich dazu, all dies in Kauf zu nehmen? Sag es mir!«
Plötzlich spürte Jessica eine Unterlegenheit, wie sie schmerzlicher nicht zu empfinden war. Sie musste nun doch Angst zu haben vor dem, was diese Frau repräsentierte, vor dem alle zitterten. Nun war Tirata böse. Böse und fordernd. Zwar zitterte Jessica nicht vor Angst, aber ihre Begeisterung war gewichen.
»Du wirst noch viel mehr Angst haben, wenn du mehr wissen willst. Die Menschen fürchten nämlich nichts mehr als das Wissen, weil es auch Erkenntnisse über sich selbst bringt, das sie zwingen könnte, alteingesessene Überzeugungen umzuwerfen, die ihnen lieb und zur Gewohnheit geworden sind. Neugier ist kein Beweis dafür, wirklich Wissen zu erlangen. Wissen bekommt man durch innere Überzeugung, mit diesem Wissen aus Interesse und Weitsicht wirklich Gutes und Neues tun zu können und zu wollen. Und nicht durch Neugier, die einen nötigt, alle anderen wegzuschieben, damit man etwas sieht. Wissen ist mehr als nur Lust auf Neues. Neugier ist mit einem einzigen Blick schon zu befriedigen, und oh, wie schön und wie herrlich das doch ist! Ohne diese Neugier kann man auch kein neues Wissen erlangen. Aber wo Neugier aufhört, fängt die innere Einstellung zum wirklichen Verstehenwollen und Anwendenwollen erst an, und erst das ist der Weg zu echtem Wissen. Wenn du etwas Neues siehst, und willst aufgrund dessen, wie du siehst, noch viel, viel mehr darüber erfahren, dann ist das Wissensdrang, doch Vorsicht – wenn du ein totes, zerfetztes Tier siehst und wissen willst, warum es zerfetzt ist, ist das noch reine Neugier, weil du nach dem Grund, aber nicht nach der Ursache suchst, warum das, was das Tier zerfetzt hat, es zerfetzt hast. Du würdest erst nur wissen wollen, was es ist und wie es aussieht; und das ist kein Wissensdrang. Und der Fehler ist, die zum Verstehen notwendige Neugier nicht zum Hinterfragen, nicht zum Wissenwollen und das Wissende Verwendenwollen auszubauen. Man bleibt auf der Stufe der Neugier stecken, und das ist ein Fehler, den die Menschen im Dorf begehen. Aber das verstehst du sicherlich nicht. Kannst du auch nicht, das kommt erst mit der Zeit.«
Jessica hatte zugehört, doch der Ton der Wahrsagerin war ausschlaggebend für sie gewesen – hart und herrisch, einer, der nicht mehr so wohlgesinnt geklungen hatte wie anfangs noch. Vielleicht also war das Wissen nicht für sie bestimmt, denn es schien laut Tirata, und das hatte sie zumindest noch verstanden, eine schwierige Sache zu sein. Es war weder einfach zu erlangen, noch war es einfach, damit zu leben, wie sie sagte. Nur warum war es so?
»Warum schweigst du, Kind?«, fragte Tirata. »Du brauchst dich nicht abgewiesen zu fühlen, Jessica. Aber ich muss dich warnen. Es ist viel Wissen, und der Weg ist hart.«
Vor Jessicas Augen erschien sie selbst, wie sie übermäßig große Eimer in einem Holzbalken über ihren Schultern trug, je ein Eimer auf jeder Seite. Und hinter ihr stand Tirata, die in die Eimer mehr und mehr Wasser goss, so dass Jessica einmal nach links kippte und dann nach rechts. Jessica spürte die Tonnenlasten, und Tirata ließ sie in ihrer Vorstellung damit so lange Strecken gehen, bis Jessica die Eimer fallenließ, so dass das Wasser in den Boden einzog und sie sich daneben setzte und ihr Gesicht weinend in den Händen vergrub.
»Du hast die harte Prüfung nicht bestanden, Kind«, sagte Tirata lachend und wies mit ausgestrecktem Arm auf das Dorf und sagte abfällig zu ihr. »Geh zurück ins Dorf, wenn du nicht geächtet bist, und komme nie wieder hierher. Du bist nicht würdig.«
»Träumst du?« fragte die wirkliche Tirata.
Jessica schüttelte langsam und gekränkt den Kopf.
»Was tust du dann?«
»Ich überlege.«
»Was überlegst du?«
»Ob es richtig war, hierherzukommen.«
»O ja, das fragt man sich immer, ob es richtig war, wenn man als Prophet zum Berge kommt, nicht?«
»Ich weiß nicht.«
»Hör zu, Kind. Du bist ein kluges Mädchen. Komm morgen wieder, wenn du dann immer noch der Meinung bist, wissen zu wollen. Dann werde ich dich einweisen.«
Jessica nickte nur und stand auf, den Blick zu Boden gerichtet und verließ das Haus, um das die kühlenden Bäume standen und dem Wind als Stimmbänder dienten.

Ende des 8. Kapitels – Der Wind von Irgendwo geht weiter mit Kapitel 9: Am Feuer