Heute sprechen wir häufig über DIE Wut. Als sei sie neu für uns und als hätte sie nur ein Gesicht. Wir sehen wütende Menschen im Fernsehen, die auf Demonstrationen aberwitzigesten Paroloen schreien. Wir sehen in den Nachrichten brennende Autos rund um die Welt, wenn es – auch in Europa – zu Entladungen von Wut kommt. Die mediale Aufbereitung beugt unsere Empfindung hin zu der zweifelhaften Erkenntnis, dass es solch eine Wut zuvor nicht gab, und dass „normale“ Menschen zu solch einer Wut doch eigentlich nicht fähig sein könnten. Der Blick auf die Geschichte klärt natürlich schnell über den Irrtum auf. Wut gab es immer und ist etwas Universelles. Und wir sehen sie manchmal auch im Alltag. Wenn ganz plötzlich „die Wut“ in unser Leben kommt.

Heute sprechen wir häufig über DIE Wut. Als sei sie neu für uns und als hätte sie nur ein Gesicht. Wir sehen wütende Menschen im Fernsehen, die auf Demonstrationen aberwitzigesten Paroloen schreien. Wir sehen in den Nachrichten brennende Autos rund um die Welt, wenn es – auch in Europa – zu Entladungen von Wut kommt. Die mediale Aufbereitung beugt unsere Empfindung hin zu der zweifelhaften Erkenntnis, dass es solch eine Wut zuvor nicht gab, und dass „normale“ Menschen zu solch einer Wut doch eigentlich nicht fähig sein könnten.

Der Blick auf die Geschichte klärt natürlich schnell über den Irrtum auf. Wut gab es immer und ist etwas Universelles. 

Und wir sehen sie manchmal auch im Alltag. Wenn ganz plötzlich „die Wut“ in unser Leben kommt.

Meine eindrücklichste Erfahrung mit „der Wut“ hatte ich vor nunmehr über 20 Jahren ausgerechnet in einem Buchladen. Ich arbeitete dort während meines Studiums als Aushilfe an einer der Buchkassen, und mitten oder trotz des Vorweihnachtsgedränges war es zivilisiert. Mobiles Internet und Smartphones waren noch Science Fiction, und so standen die Menschen in Massen einfach in der Schlange und taten nichts anderes außer mehr oder weniger geduldig zu warten. 

Dass es dabei auch Ungeduldige oder Gereizte gab: Geschenkt.

Der Mann, der wütend werden sollte, war allein, und er mag Ende 30, Anfang 40 gewesen sein. Er trug eine Brille, ich kann mich an sein Gesicht zumindest noch einigermaßen erinnern – ein wenig wie Steve Jobs. Gepflegt, recht dünn, schmales Gesicht. Irgendwann stand dieser Mann vor mir, ich nahm die Bücher an, ein Kollege kassierte, zwei weitere packten sie für Weihnachten ein. Akkord.

Ich grüßte ihn wie ich jeden Kunden grüßte, dem ich die Bücher abnahm, gab Nummern Bon Bücher an den Kassierer weiter, wenn die Titel nicht scanbar waren. 

„Haben Sie ein Lineal?“, fragte der Mann mich da. 

Da mich viele Kundinnen und Kunden danach fragten, ob ihre Bücher denn in normale Umschläge zum Verschicken passen würden, glaubte ich auch bei diesem Kunden, was er wollte. 

Es war ein Fehler.

Ich antwortete ihm, dass die Bücher auf jeden Fall in einen B4-Umschlag passen würden, die seien um Einiges größer als A4-Umschläge, die gebe es auch wattiert, damit beim Versand nichts passiert.

Was dann geschah, weiß ich noch immer.

Der Mann schrie. Er schrie so laut er konnte. Und es war unglaublich laut. Ohne mit der Wimper zu zucken, ohne sich groß zu rühren, brüllte er ohrenbetäubend „ICH WILL EIN LINEAL! ICH HABE NACH EINEM LINEAL GEFRAGT! ICH WILL EIN LINEAL!“

Ich weiß nicht, ob die Leute um uns herum zusammenzuckten, denn es war mir derart peinlich, dass mir das Blut ins Gesicht schoss. Noch nie hatte mich ein Mensch derart laut angeschrien. Übrigens bis heute nicht. 

Nach einigen Schrecksekunden – in denen er übrigens unentwegt weiter schrie, dass er ein Lineal haben wolle – sah ich, wie geschockt meine Kollegen waren. Sie hatten aufgehört zu arbeiten, überhaupt starrte die gesamte überfüllte Etage sprachlos auf den Mann und mich.

Es sind diese Momente, die man selbst gern damit beschreibt, dass die Welt stillstand, und das ist natürlich Blödsinn, aber es zeigt, wie extrem so eine Störung des Alltäglichen ist.

Da steht ein Mann vor einer Kasse in einem Buchladen und schreit sich die Seele aus dem Leib, ein Lineal zu wollen.

Da er nicht aufhörte zu brüllen, suchte ich hektisch und vergeblich nach einem Lineal, stammelte ständig etwas wie „Ich schaue nach“ oder dergleichen, nur um dann, fast wie von den Schallwellen seines Geschreis angetrieben, die Treppe hinauf ins nächste Geschoss zu rennen, um dort atemlos nach einem Lineal zu fragen. Ich hörte ihn noch auf der Treppe und in der oberen Etage schreien, über das Vorweihnachtsgetöse eines großen, mehrstöckigen Buchladens hinweg.

Ich erhielt ein Lineal, rannte nach unten – nur um zu erfahren, dass der Mann schließlich einfach seiner Bücher bezahlt und mitgenommen habe. Einfach so, als wäre nichts gewesen.

Es gab noch Kundinnen und Kunden, die mir versicherten, es habe nicht an mir angelegen, und die mir zu verstehen gaben, wie geschockt sie selbst von diesem Wutausbruch waren.

Beruhigen konnte ich mich den ganzen Abend dennoch nicht. Was hatte den Mann dazu gebracht, so unmenschlich zu schreien? „Meine blöde Frage“, die mir manch einer vielleicht nun unterstellen möchte? Auf die er auch einfach mit einem „Darum geht es nicht“ oder „Ich will es einfach nur wissen“, hätte antworten können. Klar, er hätte vielleicht wissen wollen, ob die Bücher in sein Regal passen – wobei er sie erstens dennoch gekauft hätte und nachweisbar gekauft hat.

Das war „die Wut“, von der man so redet, als sei sie ein Tier oder ein Monstrum. Sie wird ein „Das da“, auf das man zeigen kann, das man benennen kann, ohne es zu verstehen. 

Dabei gibt es „die Wut“ so gar nicht – was immer in dem Mann vorgegangen sein mag, es waren seine Schaltungen, die ihn dazu bewogen haben, lauter zu brüllen als ein Kasernenkommandant.

Und was war los, als mir vor wenigen Wochen aus heiterem Himmel ein Mann schreiend hinterher trat, weil ich mir dem Fahrrad den Zebrastreifen kreuzte, den er soeben auf der anderen Straßenseite betreten hatte? Der mir meinen Fahrradkorb vom Gepäckträger trat, dass er meterweit durch die Gegend flog? Der mich „blödes Arschloch“ anbrüllte und der mir, wie mir ein Fußgänger erzählte, der alles mitbekam, extra einige Meter hinterhergelaufen war, um mich zu erwischen? „Blöde Sau!“, wurde ich angeschrien – weshalb? Ich hatte den Mann weder behindert noch bin ich ihm zu nahe gekommen? „Du mit deinem scheiß Fahrrad!“

Aha.

Ich ließ den Mann einfach ziehen, der nach seinem kurzen Ausbruch auf offener Straße wieder still wurde und wütend weiterging, als habe es die Episode nicht gegeben.

Das Erstaunliche an „der Wut“ ist, dass man sich, sobald sie einem unvermittelt entgegenschlägt, selbst die Frage stellt, was man diesen Menschen angetan haben mochte. Was man falsch gemacht hat. Wie man die Leute und ihre Wut provoziert hat. Und damit den Kern des Ganzen verfehlt, denn „die Wut“ braucht kein bestimmtes Gegenüber, das etwas triggert. Sie ist da und sucht ein Ventil. In besonderen Fällen wird sie übergriffig und nimmt sich einfach, was sie braucht.

Und das kann überall geschehen, in der beiläufigsten, friedlichsten Szene, im schönsten Moment im besten Lokal oder in einem unvermittelten Moment auf offener Straße. 

„Die Wut“ ist kein neues Phänomen, und selbst die Extreme der letzten Zeit hat es schon immer gegeben – neu sind die Kanäle, in denen sich derlei Taten rasend schnell verbreiten. Da tut sich eine Bühne für jene auf, die ihre Wut als öffentliche Heldentat ausleben wollen. Die nach Wegen suchen, aus ihrer Schwäche das Kapital des Beifalls und der Zustimmung zu schlagen. „Die Wut“ wird zu einer Ware, die für Öffentlichkeit und Selbstvergewisserung angeboten wird, und die sich Bahn bricht.

Was würde passieren, wenn der Mann aus dem Buchladen heute vor einer Kasse so außer Kontrolle geriete? Alle wären erschreckt, man würde sich angesichts der Lautstärke ducken, man käme sich automatisch ausgeliefert und schwach vor, obwohl man mit den anderen bei Weitem in der Überzahl ist.

Das ist das Fatale an „der Wut“. Sie macht sich ihre Plötzlichkeit ebenso zunutze wie die Überrumpelung der Massen, die sie auslöst. Das macht sie stark, obwohl sie es im Grunde gar nicht ist. Sie blüht auf dem Boden des Schrecks und der Sorge um den eigenen Ruf und die eigene Unversehrtheit. „Die Wut“ ist stark, weil man sie lässt. 

Die Wütenden selbst sind meistens schwach, sobald „die Wut“ sie verlässt. Ohne sie sind sie nicht wütend und damit nur irgendwelche Leute. Das macht sie verführerisch. 

Die Wut ist Gewalt. Es gibt sie zwar in Abstufungen, aber sie ist immer Gewalt. Sie zerstört das übliche Gefüge an geschriebenen und ungeschriebenen Regeln, bricht mit allen Konventionen, überschreitet Grenzen – sie ist ein Gewaltakt und ist deshalb so mächtig. Sie wirkt wie Gewalt, ängstigt wie Gewalt, ist gnadenlos wie Gewalt. Es spielt keine Rolle, ob die Wut körperlich wird, denn in ihrem Wesen ist sie Gewalt. Und sie ist in vielen von uns, vielleicht sogar in den meisten von uns. Zahlreiche Einflüsse lassen sie ausbrechen wie ein wildes Tier: Überforderung, fehlende Anerkennung, soziale Ängste – es gibt vieles, das ihren Käfig öffnet.

Heute wäre die Szene Anlass für zahlreiche Handy-Videos – derlei Wut ist nun mediale Sensation. Es wäre schade für die Filmenden, wenn derlei Ausbrüche ein schnelles Ende nähmen. Zum Eingreifen hätten somit weitaus weniger Anwesende als früher ihre Hände frei.

Das ist gefährlich.