In den späten Siebzigern gab es in meiner Klasse einen Jungen namens Daniel. Seinen Nachnamen habe ich vergessen.Aber die Geschichte, die mir einst erzählt hat, die habe ich nie vergessen. Daniel war mir nie ein Freund. Warum er gerade mir die Geschichte erzählt hat, weiß ich nicht.Ich hatte einen guten Freund, mit dem ich fast jeden Tag die unmöglichsten Dinge anstellte. Wir schellten an fremden Haustüren, um uns zu verstecken und ärgerten mit Vorliebe Susanne aus der Nachbarschaft, die damals für mich der Inbegriff aller Abscheulichkeit war. Ihre Klappe war riesig, und sie war als Petze gefürchtet und verschrien.Und wer war Daniel?

In den späten Siebzigern gab es in meiner Klasse einen Jungen namens Daniel. Seinen Nachnamen habe ich vergessen.
Aber die Geschichte, die mir einst erzählt hat, die habe ich nie vergessen. Daniel war mir nie ein Freund. Warum er gerade mir die Geschichte erzählt hat, weiß ich nicht.
Ich hatte einen guten Freund, mit dem ich fast jeden Tag die unmöglichsten Dinge anstellte. Wir schellten an fremden Haustüren, um uns zu verstecken und ärgerten mit Vorliebe Susanne aus der Nachbarschaft, die damals für mich der Inbegriff aller Abscheulichkeit war. Ihre Klappe war riesig, und sie war als Petze gefürchtet und verschrien.
Und wer war Daniel?
Ein kleiner, schmächtiger Kerl mit zu exaktem blondem Scheitel, und einer Brille, deren Gläser so dick waren, dass er mit ihnen in der Jackentasche ertrunken wäre, wäre er ins Wasser gefallen. Still und verschlossen. Man hörte nie etwas von ihm, und die Lehrer mussten ihn aufrufen, damit er überhaupt etwas sagte.
An einem heißen Tag im Sommer verließ ich die Schule und sichtete Daniel hinter mir. Sein Blick war wie immer ins Nirgendwo gerichtet. Bis heute weiß ich nicht, warum ich stehenblieb und ihn ansprach. Es gab auf meine Fragen entweder keine Antwort oder brummte nur ein  „Hmhmm”, bis ich schließlich schwieg.
Wir waren ein gutes Stück nebeneinander hergegangen, als er er mit leiser Stimme fragte:
„Soll ich dir mal was erzählen?”
„Ja”, sagte ich. „Was denn?”
„Hattest du schon mal Angst in der Nacht?”
Angst? In der Nacht? Und wie! Die Dunkelheit war etwas Schauerliches, vor allem, wenn das Holz knackte. Ich und Angst in der Nacht?
„Nein”, sagte ich. Auch kleine Jungen haben schließlich ihren Stolz.
„Ich aber, denn manchmal ist was in meinem Zimmer.”
Das hatte mir noch gefehlt! „Was denn?”
„Roboter.”
„Roboter?”
„Roboter.”
„Und was machen die Roboter bei dir?”
„Sie gucken sich um. Sie sind wie Spinnen, nur größer.” Das sagte er in einer so merkwürdigen Art, dass ich ihm glauben musste. Ich glaubte damals zwar ohnehin viel – die Naivität der Kindheit macht aus dem Leben einen Abenteuerspielplatz, den ich heutzutage oft vermisse – aber Daniel glaubte ich noch mehr. Ich habe ihm keine Lüge zugetraut. Und da war dieser rätselhafte Ton in der Stimme, irgendwie resigniert.
„Sie sind plötzlich da”, erzählte er weiter, während Autos an uns vorbeifuhren und das helle Gekreische anderer Schulkinder uns begleitete.. „Sie sind einfach da. Wie das angeknipste Licht.”
Ich stellte mir das vor, verängstigt in der Nacht, vor mir eine Metallspinne, größer als der Bernhardiner unserer Nachbarn, vor dem alle Angst hatten. Ich stellte mir die Geräusche vor: ein seltsames, metallisches Klicken, wenn sie mit ihren glänzenden Beinen beginnt, auf mein Bett zu kriechen…
„Und was machen die mit dir?”
„Gar nichts.”
„Gar nichts?” Wie enttäuschend! Ein wenig hätten sie ihn ruhig pieken können. Wo waren die  Strahlenwaffen oder Operationswerkzeuge? Warum konnten sie ihn nicht paralysieren oder fressen oder einspinnen wollen?
„Nein”, erwiderte Daniel. „Sie machen gar nichts. Sie gucken nur rum, gucken mich an, und einmal, da haben sie…”
Ja, dachte ich mir für einen Augenblick, jetzt haben sie ihm doch was getan!
„…mich angestrahlt mit einem gelben Lichtstrahl.”
Was sollte denn das? Mehr nicht?
„Was hat der denn gemacht?” wollte ich wissen.
„Mir ins Auge geleuchtet.“
„Hat das weh getan?”
„Nein.”
So ein Mist. „Nicht ein bißchen?”
„Nee. Sie waren schon ein paar Mal da. Sie kommen, und dann sind sie einfach wieder weg. Ich hab’s meinen Eltern erzählt, aber die glauben mir nicht. Hast du auch schon Roboter in deinem Zimmer gehabt?”
Ich konnte nur den Kopf schütteln.
„Vielleicht kommen sie ja noch zu dir, wenn sie mich zu Ende untersucht haben, oder wenn sie mich mitgenommen haben. Und sie kommen immer zu mir, egal, in welchem Zimmer ich bin. Zu meiner Oma kommen sie auch, wenn sie schläft. Wenn du Roboter hast, dann sag mir was davon, wenn ich dann noch da bin.”
Das waren die schlimmsten Worte, die ich jemals gehört habe. 
Ich dachte den ganzen Tag daran, dass ich wach werden würde, vor mir diese Spinnen . Und ich fragte mich: Woher kommen diese Spinnen bloß? Sie waren plötzlich einfach nur da!?
Ich wollte abends nicht ins Bett und druckste herum. Ich schloss mich im Bad ein uns starrte auf die hellblauen Fliesen. Nach einiger Zeit schließlich wollten meine Eltern hinein klopften gegen die Tür.
„Mach die Tür auf und geh ins Bett.”
„Ich will aber nicht”, quengelte ich. Ich habe Angst.”
Schweigen hinter der Tür. Dann nach kurzer Zeit, mit sanfterer Stimme: „Wovor denn?”
Was sollte ich ihnen erzählen? Dass mir Daniel, den niemand für ganz richtig hielt, Räuberpistolen über Roboterspinnen erzählt hatte, die einfach kamen wie das angeknipste Licht?
Ich erzählte es schließlich.
„Roboterspinnen?” kam ungläubig zurück. „Ich glaube, Daniel hat einen schlechten Traum gehabt.”
„Er hat aber gesagt, dass sie oft kommen.”
„Dann hat er oft davon geträumt.”
„Das glaube ich nicht.”
Ich schloss auf und meine Mutter ging mit mir in mein Zimmer, wo das Bett schon auf mich wartete und auf die Roboterspinnen.
„Daniel ist doch ein Träumer”, sagte sie. „Spielt er mit euch? Redet er mit euch?”
Ich schüttelte den Kopf.
„Und warum nicht? Er ist ein Junge ohne Freunde, und er will gerne Freunde haben. Was machst du, wenn du keine Freunde hättest und welche haben wolltest?”
„Ich habe aber Freunde.”
„Ja. Aber wenn du keine hättest, was würdest du tun? Erzählst du denn keine Geschichten, auch Lügengeschichten, damit die Kinder dich beneiden?”
„Geschichten ja, aber keine Lügen”, log ich. Das war doch ein Trick, um herauszubekommen, ob ich log, um mir dann zu erzählen, wie böse das doch war.
„Daniel hat sich interessant machen wollen.Er wollte sicher nur, dass du eine Nacht bei ihm schläfst. Und während ihr auf die Roboterspinnen wartet, werdet ihr Freunde. Verstehst du das?”
„Er wollte mich also zu sich locken?” 
„Ja. Er hat dir die Geschichte erzählt, um dich neugierig zu machen. Vielleicht solltest du mal zu ihm gehen”, schlug meine Mutter vor. „Vielleicht werdet ihr ja Freunde.”
Aber jetzt wollte ich nicht mehr. „Er hat mich angelogen”.
„Er hat dir eine Geschichte erzählt”, wiegelte meine Mutter ab. „Das hat er nicht böse gemeint.Kannst du denn jetzt besser schlafen?” 
„Ich weiß nicht”, sagte ich, und so meinte ich es auch. Dass Daniel mich verarscht hatte, war in Ordnung. Aber als ich allein im Zimmer war und Dunkelheit mich umfing, war der Gedanke wieder da, dass Daniel die Wahrheit erzählt hatte und nichts als die Wahrheit, und ich krümmte mich in meinem Bett zusammen, die Augen weit aufgerissen und wartete auf die Roboterspinnen.
Ich starrte in die Dunkelheit, nahm jedes Geräusch wahr, hörte die Bettfedern meiner Eltern, als sie sich zu Bett legten, hörte die Schritte meines Vaters, als er irgendwann in der Nacht  aufs Klo ging, ich hörte alles.
Natürlich sind die Roboterspinnen niemals gekommen.
Dennoch gibt es für mich keinen Zweifel, dass er es ernst gemeint hat. Die Geschichte machte mir Angst, und mein ganzes Leben sah ich Daniel vor mir, diesen kleinen, schüchternen Jungen, entsetzlich hager, mit einer Haut so weiß wie frischer Pizzateig. Er schritt neben mir her mir kleinen Schritten, und in seinen Augen lag nicht ein einziger Funken Belustigung.
Und obgleich ich von Daniel nie wieder etwas gehört habe, seitdem wir nach der Grundschule getrennte Wege gingen, so begleitete er mich auf Schritt und Tritt. All die Jahre kam der Gedanke wieder, wenn das Licht ausging. Im Studentenwohnheim kam mir der Gedanke eines nachts, und der Tag, an dem Daniel neben mir geschritten war und mir die Geschichte erzählt hatte, war plötzlich wieder da. In meiner ersten Wohnung habe ich die Spinnen manchmal erwartet und habe ich mich gefragt, woher sie kommen mochten, wenn es sie denn wirklich gab; für mich war die Frage nach dem Ob nicht entscheidend, sondern die des Wie. Wie kamen die Roboter zu ihm? Woher kamen sie? 
Als ich in meiner späteren Kindheit auf einem Foto plötzlich die Raumsonde Voyager zu sehen bekam, war es um mich geschehen. War dies eine Roboterspinne?  
Voyager Soundso hatte etwas Spinnenhaftes.
Dann kam  die Ernüchterung:
Erstens kamen diese Sonden von der Erde und flogen von ihr fort statt zu ihr hin.
Und zweitens waren diese Dinger ewig unterwegs und so schrecklich langsam in Anbetracht der Größe des Universums. Eine fremde Intelligenz, das wusste man, musste viele, viele Lichtjahre entfernt leben, irgendwo tief in unserer Milchstraße oder noch weiter. Diese Distanzen aber sind so gewaltig, dass niemals eine Raumsonde von uns oder eine der anderen so mirnichtsdirnichts den anderen Planeten erreicht, und schon gar nicht einige Nächte für kurze Augenblicke das Schlafzimmer eines kleinen Jungen. 
Aber in irgendeiner dunklen Hirnwindung beschäftigte mich die Geschichte weiter. Daniel hatte ohne Zweifel die Wahrheit gesagt.
Woher also kamen die Roboter?
Und schließlich kam mir eine Theorie zu Ohren: Paralleluniversen. Eine Welt, ein Universum, das deckungsgleich auf dem unseren liegen sollte oder wenigstens fast deckungsgleich, ohne etwas mit unserem Universum zu tun zu haben.
Jedem, dem ich davon berichtete, konnte ich nicht mehr als ein vergnügtes Lächeln entlocken.
Seit ich von dieser Theorie gehört habe, läßt mich der Gedanke nicht mehr los, dass wie unmittelbare Nachbarn haben, die einen Weg gefunden haben, uns Fremdlinge näher zu betrachten. Ja, Daniel hat die Wahrheit erzählt, die Wahrheit und nichts als die Wahrheit. Und was gäbe ich dafür, mit ihm Kontakt aufzunehmen. Ich möchte ihm erzählen, gleich, was für ein Mensch er ist und was auch immer er tun mag, dass ich ihm mein Leben lang geglaubt habe, und nun wie damals nachts kaum schlafen kann, da ich die Roboter von nebenan erwarte.
Ich will ihm sagen, dass ich ihm durch seine beängstigende Geschichte ein ewiger Partner gewesen bin; vielleicht sogar der einzige, den er jemals hatte.