Er sollte als eigenständige Jahreszeit gelten, und sie wäre des Menschen liebste: Der Altweibersommer. Ihm wohnt all das inne, was wir im Innersten mögen: Gelassenheit und eine Periode seliger Erschöpfung. Ein Aufatmen der Seele, die sich zuvor im Sommer verausgabte mit Jagen und Schwirren. Bevor der Herbst der Natur sichtbar eine Pause auferlegt, verströmt der Altweibersommer Behaglichkeit, nach der man sich zuvor gesehnt hat und Schönheit, die man bald vermissen wird. Ein kurzes Aufflackern des Traumhaften im realen Leben, das vom Sommer beruhigt und für den Herbst und Winter beflügelt.
Vor allem sind es die Farben, die man an ihm rühmt. Satt sind sie, aber auch warm. Sommersonne verleiht Konturen Schärfe, die unangenehm ist. Bleibt sie sommers aus, wird gejammert, man werde um den Sommer betrogen.

Sommers sind alle nervös – und alle sprechen über das Wetter. Wenn es gut ist, beherrscht Gefasel über die Notwendigkeit des ständigen Ausnutzens die Gespräche, als sei es Pflicht, sein Leben umzukrempeln. Es gibt Menschen, die lagern dann ihr Leben aus nach draußen. Können keine Sekunde ohne Frischluft sein, ohne Sonne, selbst wenn sie im Schatten sitzen. Das Sonnenhelle um ihren Sonnenschirmschatten oder das Gleißen der Blumenfarben jenseits der schattigen Balkonhitze gilt als Ausdruck von Leben an sich – nicht weniger.
Folglich richtet sich Denken und Handeln ganz nach dem Stand der Sonne – oder nach ihrem Fehlen. Denn jedes noch so kurze Ausbleiben von Sonne ist im Sommer Thema großen Leids, wie es scheint. Jeder noch so nötige Regentropfen verhagelt Launen und Termine, macht aus Menschen Junkies auf Entzug. Unentspannt ist der Sommer, weil er ständig Thema ist, permanenter Drang, Zwang und Manie zur Aktion. Als stachele das scharfe Sonnenlicht wie durch eine Lupe Haut und Hirn an.

Doch dann: Der Altweibersommer! Er macht das Wetter vergessen. Er ist einfach nur da. Das reicht. Muss ein Sommer immer zeigen, was in ihm steckt und enttäuscht doch ohnehin stets alle, weil das Wetter nie gut genug sein kann, muss der Altweibersommer nichts beweisen.
Er überzeugt durch Reife. Seine Sonne sticht nicht und stachelt nicht an – sein Licht tätschelt  Köpfe und streichelt durchs Haar. Als wolle er fragen, ob wir auch vom vergangenen Sommer so erschöpft sind wie alle anderen.
Er weiß: Auf ihn haben alle gewartet. Weil er so ist, wie der Sommer eigentlich sein sollte: Wie ein Hauch von Urlaub ohne Rastlosigkeit. Ihm haftet Vergänglichkeit an, ein Hauch Melancholie, weil man „die letzten Sonnenstrahlen genießen“ will.
Dies macht ihn so besonders: Jeder möchte genießen, erleben. Mit diesen Begriffen kehrt das Wort Besinnung ins Leben zurück. Und Bewusstsein. Für das, was ist, während uns der Sommer nur mit dem, was sein sollte und gefälligst zu sein habe, vergiftet.
Nun im Altweibersommer müssen wir nichts mehr. Müssen nicht in die Sonne aus Furcht, eine der  unendlich vielen im Grunde wertlosen Minuten in der Sommersonne zu verpassen. Müssen nicht mehr in den Schatten, weil uns die Hitze dann doch zu viel wird. Müssen nicht mehr jede Wolke am Himmel, jeden Schauer oder jeden verregneten Tag betrauern.

Der Altweibersommer ist Feierabendwetter den ganzen Tag: Er gibt, was der Sommer erst am Abend bringt: Tiefe Sonne, lange Schatten, ein Hauch von Gold über den Dingen. Körper und Geist sind im Modus des Loslassens.
Wir üben das, was dem Altweibersommer so zu eigen ist: Selbstgenügsamkeit.
Damit verbunden eine Zufriedenheit durch das, was ist. Nicht mehr und auch nicht weniger – so einfach kann das sein.
Diese besondere Zwitterzeit im Herbst lässt aufatmen, weil sie nichts sein will. Der Sommer steckt voller Pläne, die er uns aufträgt und aufdrängt. Der Altweibersommer indes ist an nichts geknüpft. Niemand hat Erwartungen an ihn. Weil wir mit ihm keinen Plan verknüpfen, fehlt uns die erschöpfende Aufgabe des Tunmüssens und Tunwollens. Er ist eine Zeit, die schlicht frei ist von Erwartung, frei von Annahmen und Verlangen.
Deshalb sehen wir uns jedes Jahr so sehr nach ihm – freilich ohne es zu wissen. Erst, wenn er ist, geht uns das Herz auf. Wir schwärmen von ihm wie in einer Hängematte liegend. Ohne Ziel, ohne Konkretes.
In diesem seinem Zwischenreich oszillieren wir jedes Jahr aufs Neue in Begleitung von Ruhe und Wohlbehagen. Diese Daseinswatte bringt uns auch Begriffe und Gefühle zurück, für die wir nun wieder Platz und Gelegenheit haben.
Die tieferstehende Sonne und nahende nächtliche Kühle macht uns Vergänglichkeit bewusst. Und Kostbarkeit des Lebens.
Altweibersommer ist somit kurz: Poesie.