Kurzgeschichte

Erzählung „Mach schon“ komplett im Blog lesen

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Die Welt unter ihm ist klein. Ängstlich sieht er hinab, wo sie stehen und zu ihm hinauf rufen: „Mach schon!“ 
Er will nicht, er kann nicht, aber es nicht zu tun wäre zu peinlich.
Sie blicken zu ihm hoch, dem die Kehle trocken ist und die Luft zum Atmen fehlt, der im Wind hier oben friert, und der nur eines will: umkehren.
„Nun mach schon!“ rufen sie wieder. Es ist doch nicht schwer. Sagen sie da unten. 
Für ihn aber schon. Und er schämt sich dafür.
„Los jetzt! Nun mach endlich!“ 
Warum sind sie nicht einfach still, seine Freunde, die ihm dabei zusehen, wie er ängstlich am Rand des 10-Meter-Bretts steht, wo der Wind pfeift und die Welt schrecklich überschaubar ist. Um ihnen zu beweisen, kein Feigling zu sein, ist er entschlossen den Sprungturm hinauf geklettert, um eigentlich vom 5-Meter-Bett zu springen – doch es war voll, hinter ihm hat ihn die ungeduldige Schlange weiter hinaufgedrängt, am geschlossenen 7-Meter-Brett vorbei, als ihm immer schwindelig wurde und der Beton am Fuße der nassen Stahlleiter  mit jedem Zentimeter an Härte gewann.
Nun blickt er auf das Becken herab – eine Unendlichkeit unter ihm, nichts weiter als ein kleines blaues Quadrat, um das die Massen tosen und Neugierige darauf warten, wie die Mutigen sich aus großer Höhe hinabstürzen. Augen wie Speere sind auf ihn gerichtet. Jenseits des Kreises der Neugierigen macht jeder, was er will. Da wird geplantscht und gebadet, getaucht und vom Beckenrand geplumpst, und über die Wiesen ringsum liegen sie in der Sonne, tollen, lesen, schlafen, kuscheln und knutschen.
Die Welt ist klein und unwirklich von hier oben, er kann das Dach des Supermarktes sehen, in dem sie immer einkaufen. Wie gern würde er jetzt aus dem Ford steigen, in dem ihm so oft schlecht wird und sich so schnell übergeben muss, weshalb seine Eltern immer Plastiktüten dabei haben, und sein Vater sagt „Ich versteh das nicht, du bist der einzige Junge, der Autofahren nicht verträgt“, doch jetzt würde er lieber gegen den Würgereiz kämpfen oder mit flauem Gefühl auf dem Parkplatz des Supermarktes stehen statt mit seiner Angst.
Jemand nimmt Anlauf, jagt an ihm vorbei und springt hinab, als würde ihn einen halben Meter tiefer ein großes weiches Kissen auffangen.
Staunend sieht er seinem endlosen Fallen zu und wartet Ewigkeiten auf das erlösende Klatschen des Wassers. Gischt und Jubel branden herauf.
„Jetzt mach doch endlich!“ ruft Martin. „Es ist doch nichts dabei!“
Nichts dabei wie Fußball spielen. Das kann jeder Junge, das macht jedem normalen Jungen Spaß. Den Vätern und deren Vätern hat es Spaß gemacht, sie sitzen vorm Fernseher und rufen, wie schön der Pass oder wie schlecht die Vorgabe war. „Gib ab! Gib ab!“ brüllen sie, nur er weiß nicht, an wen und warum, obwohl er es wissen soll, und hin und wieder zieht sein Vater oder ein Nachbar ihn bei einem Fußballspiel im Fernsehen aufs Sofa und sagt: „Guck doch zu, das ist ein tolles Spiel!“
Dabei wäre er lieber in seinem Zimmer oder auf einem anderen Planeten oder sonst wo.
„Du Pfeife, geh an die Seite“, ruft jemand hinter ihm, und er erschrickt. Der blonde Junge ist riesig, größer als sein Vater, und das 2 Meter breite Betonbrett erzittert unter jedem seiner donnernden Schritte. 
Im Taumel ergreift er das Geländer an der Seite, das nass und kalt ist trotz der Sonne, die Vibration der Schritte erfasst seine Hände, es ist, als sei das Geländer nur aus Draht und wird gleich nachgeben, aus dem Brett brechen und er hinterher fallen und schließlich auf den Betonplatten des Bodens aufschlagen, auf dem Spritzwasser und nasse Fußabdrücke verdampfen, das Zittern geht ihm durch Mark und Bein, dann stürzt sich der Blonde die hundert Meter tiefen zehn Meter hinunter. 
Er weicht zurück. Ganz hinten kann er die Schule sehen, deren graue Wände in der Hitze flirren, das Fenster des Chemieraums blitzt aus der Ferne. Er braucht fast eine halbe Stunde dorthin von daheim, es ist ein weiter Weg, jetzt scheint sie nur ein Steinwurf entfernt.
Ihm ist kalt, seine Haare richten sich auf, dass seine Arme und Beine aussehen wie mit Hühnerhaut bezogen. Es ist ihm egal, was die anderen sagen, er muss fort, als wäre er im Wohnzimmer bei einem Fußballspiel oder säße hinten im Auto, während seine Übelkeit hinaufgurgelt.
Sollen Martin und die anderen doch lachen und morgen in der Schule erzählen, wie feige er hier war – er würde das Gefühl, ein Idiot zu sein, hinunterschlucken, die grinsenden Gesichter ertragen und hoffen, dass in zwei Tagen niemand mehr darüber spricht.
Sie reden ohnehin genug: darüber, dass er so lange kein Fahrrad fahren konnte, sie haben dabei gestanden und gelacht, als er mit seinem Gleichgewicht rang, sein Vater „Mach schon, fahr einfach!“ rief und auch, als er letztlich doch wieder daran gescheitert war, sich auf dem Rad zu halten. Martin und Frederik standen da schon mit ihren neuen Rädern, und sein Vater schaute ihn einfach nur an. „Wovor hast du eigentlich immer Angst?“
Er wusste es nicht.
Die Radfahrübungen sind noch heute einen Lacher wert, obwohl es schon Jahre her ist – er kann also nicht anders, er muss springen, allen Mut zusammennehmen. 
Doch alles scheint zu wackeln, denn da jagt erneut jemand an ihm vorbei und stürzt ins blaue Wasserquadrat, nur er selbst kann es noch immer nicht, er ist nicht wie die Großen, die sich ohnehin wundern, warum so ein kleiner  Knirps hier oben steht, der noch weit davon entfernt ist, eine Freundin zu haben und der den Großen in der Schlange am Kiosk nur Platz und Zeit raubt.
Er geht zur Leiter – und sieht mit Schrecken viele Jungen und Männer, die nach oben wollen, die sich an dem nassen Metall festhalten und ihn zweifelnd ansehen. „Was soll das denn?“ ruft einer. „Hier geht’s nicht runter!“
„Ich muss runter“, wimmert er. „Ich muss hier runter.“
„Nein, das geht nicht! Glaubst du etwa, wir gehen jetzt alle wegen dir zurück?“
„Hast du Schiss oder was?“ höhnt ein anderer.
Er nickt nur.
„Das hättest du dir vorher überlegen sollen“, meint der andere. „Jetzt ist es zu spät. Mach, dass du runterspringst.“
Ihm steigen Tränen in die Augen. „Lasst mich runter“, die Silben brechen hervor wie aus Eis, und der Wind greift nach ihnen und trägt sie fort, ehe sie jemand richtig hört. 
Alle sehen zu ihm hinauf, klammern sich an der Stiege fest, weiter unten rumort Gerede, was denn da oben los sei, und unterhalb der Treppe stehen sie auch schon Schlange.
Niemand wird ihn gehen lassen. „Man kann sich nicht immer alles aussuchen“, das sind diese Sprüche, für die man Väter hasst, wegen denen man Vätern aus dem Weg geht, die einfach immer nur Dinge sagen, um einem ein schlechtes Gefühl zu geben. Mütter sind da anders. Die sagen „Ist schon gut“, die führen einen fort oder lassen einen gehen, aber Väter stehen immer nur da wie eine Mauer, Blick und Tonfall fordernd. „Mach schon.“ Feigling. Versager. Spring gefälligst. Jeder Tag ist ein Sprung ins kalte Wasser, man darf sich nicht so anstellen.
Heute Abend wird gegrillt, und da wird Martin verraten, dass er sich nicht getraut habe. Wieder einmal. Seine Mutter wird sagen, dass das auch vernünftig war – aber seltsam ist es schon: Oft wenn die Mütter sagen, man sei vernünftig gewesen oder „es ist schon gut“, schwingt da eine Frequenz mit, legt sich ein Schatten in die Gesichter, gibt es einen kurzen Blick zu den Vätern, wenn es heißt „Er ist halt so“.
Er muss springen. Er will den Triumph genießen, dem Blick seines Vaters standzuhalten, oder gar ein „Gut gemacht“ von ihm zu hören – mit ähnlichem Ernst, wie es Mütter sagen, man ein schönes Bild gemalt oder zu Weihnachten eine tolle Papierlaterne gebastelt.
Die Welt unter ihm ist nicht mehr klein, sie versinkt im Grau. Er dreht sich einfach um und geht an den Rand. Er sieht Martin, Frederik und die anderen, schickt ihnen allein mit dem Blick ein „Na wartet!“ nach unten, denn er wird sich trauen im Gegensatz zu ihnen, und während er das Bewusstsein genießt, besser und mutiger zu sein als sie je sein werden – denn sie hatten nicht den Mut hinaufzugehen – folgt er seinem Körper hinab, der einfach gesprungen ist. 
Die Verblüffung lässt ihn sofort in seinen Körper zurückkehren. Sein Atem wird aus seiner Brust gepresst, seine Lider flattern. Er kann nichts sehen, obwohl er die Augen geöffnet hat. Der Wind zerrt an ihm, er pfeift brennend zwischen seinen Pobacken, bringt seine Badehose zum Flattern, als wolle er sie zerreißen, die Gedanken sind abgeschaltet, zu unwirklich ist der Sturz.
Er dauert ewig. Fünfzig Meter, hundert Meter. Da ist kein Vater, kein Martin und kein Benedikt, kein Rufen und kein Schreien. Da ist nur Fallen und die Gewissheit, zu fallen. Endlos. 
Dann explodiert die Welt.
Ein Schlagen löst das Pfeifen ab, dann ein Rauschen, als bräche die Erdkruste auseinander. Rauschen und Gurgeln, überall, ohrenbetäubend.
Er wird verschlungen, taucht immer weiter, und dann, als das pfeilschnelle Sinken ein Ende hat, trudelt er in einem Kosmos von Luftblasen, die in jeden Winkel seines Körpers krabbeln, zwischen seinen Haaren ebenso kitzeln wie in seiner Hose. Es sind Millionen kleiner Tierchen, die seine Haut bevölkern, für Sekundenbruchteile Kolonien gründen und sich blitzartig wieder auflösen, um in wahllosen Gruppen oder einzeln an die Oberfläche zu trudeln und ihn mit nach oben tragen, ohne dass er etwas tun muss. 
Schließlich speit die Tiefe ihn aus und die Sonne hat ihn wieder. Das Wasser um ihn schäumt und brodelt, es drängt über den Beckenrand zu den Füßen der Neugierigen. Da hört er Jubel. Er wischt sich das Wasser aus den Augen, während der Schmerz seiner Fußsohlen in ihm hinaufklettert, und sieht alle Augen auf sich gerichtet. Auch Martin und Frederik stehen da, daneben Julia und Christine, die zum Beckenrand kommen, und er weiß, dass niemand von ihnen sich das getraut hätte, was er soeben gewagt hat. 
Er und Feigling? Er und unentschlossen? Während er zum Beckenrand schwimmt, sieht er seinen Vater vor sich, einen „Gut gemacht“-Blick, aber auch das Erstaunen, dass sein Sohn sich Erstaunliches getraut hat. Angst? Er? Vor was? Ich bin gut. Ich bin klasse! Ich bin der einzige in der Klasse, der je vom 10-Meter-Brett gesprungen ist, das machen immer nur die Großen. Und bei jeder passenden Gelegenheit kann er sagen – oder sagen lassen! – dass er es wirklich getan hat.
Ab sofort ist er nicht mehr der komische Junge, der sich in sein Zimmer zurückzieht und irgendwas Seltsames macht, sondern er ist der Junge, der sich ENTSCHLOSSEN hat, in sein Zimmer zu gehen, weil er es WILL.
Er greift nach dem Beckenrand und sieht den Sprungturm hinauf. Unglaublich, diese Höhe! Da oben hat er eben gestanden.
Beseelt steigt er aus dem Wasser, er sieht die verdutzten Blicke der Leute, die sich nicht vorstellen können, dass ein Junge mit elf Jahren von so weit oben gesprungen ist. Schließlich stehen Martin und die anderen neben ihm. Martin sieht ihn an, für eine Sekunde ist Schweigen. Zwei Sekunden, drei. Je länger das Schweigen dauert, umso größer wird der Erfolg. „Hat ja lang genug gedauert“, sagt Martin da. „Hattest du Schiss oder was?“
Er kann nicht antworten.
„Mann“, beginnt Frederik, „da raufgehen und runterspringen ist doch wirklich kein Ding. Du hast den ganzen Verkehr aufgehalten.“
Tonlos starrt er Christine an, die keine Mine verzieht. „Warst du feige, oder was?“ fragt sie.
„Das ist echt hoch“, rieselt wie Kies aus seinem Mund. „Und rutschig.“
„Die haben voll rumgemault, weil du da oben nur rumgestanden hast“, sagt Martin. „Das ist doch voll peinlich.“
„Die waren echt total sauer“, meint Christine. 
Schlagartig sieht er seinen Vater vor sich, eine Mauer der Enttäuschung, der ihn heute Abend beim Grillen fragen wird, warum er nicht an die anderen Leute gedacht hat. Dass er immer nur in der Gegend herumträumt. Und warum er überhaupt hochgeklettert sei. Er kann ihn regelrecht hören, wie er sagen wird „Hast du es so nötig, vor anderen Leuten anzugeben?“ Warum wird dir im Auto immer schlecht, warum sitzt du immer in deinem Zimmer, warum kannst du nicht so gut rechnen oder Ballwerfen wie malen, warum kletterst du da hoch und machst dich zum Affen? Wann fängst du endlich an, über dich hinauszuwachsen?
Die vier sehen ihn an, dem die Kehle trocken ist und die Luft zum Atmen fehlt, der im Wind hier unten friert, und der nur eines will: umkehren. Nach Hause, in sein Zimmer. Oder einfach auf dem Weg nach Hause mit dem Fahrrad rechts abbiegen und durch die Gegend fahren, allein. Ganz egal. 
„Wir wollen uns ein Eis holen“, sagt Martin. „Los, lasst uns gehen.“
„Aber“, meint Frederik grinsend, „mach schneller als da oben.“
Auf Eis hat er eigentlich keine Lust mehr. Aber jetzt nach Hause zu fahren wäre noch viel peinlicher als nicht von oben zu springen. So setzt er sich in Bewegung.
Und folgt.

Meine SF-Story „Bleib bei mir“ komplett bei Spektrum der Wissenschaft online lesbar

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Als meine Science-Fiction-Story Bleib bei mir in der Rubrik Futur III der April-Ausgabe 2020 von Spektrum der Wissenschaft erschien, war ich natürlich sehr froh und dankbar. Es war meine erste Magazin-Veröffentlichung überhaupt. Wer die Story lesen wollte, brauchte entweder das gedruckte Heft, die digitale Ausgabe oder einen kostenpflichtigen Zugang zu Spektrum.de.

Das ist inzwischen anders, denn seit einer Weile ist die komplette Story kostenlos und ohne jeden zusätzlichen Account frei lesbar. 

Es freut mich, dass meine Story damit allen Interessenten offen steht. Da ich keine eigene, zusätzliche Veröffentlichung direkt im Blog plane, wird meine Story auch exklusiv bei Spektrum der Wissenschaft lesbar sein. 

In der Rubrik Futur III veröffentlicht Spektrum der Wissenschaft in jeder monatlichen Ausgabe eine SF-Story – dabei wechseln sich Übersetzungen und Stories deutschsprachiger Autorinnen und Autoren ab. Viele der Stories stehen inzwischen komplett und kostenlos online zur Verfügung. Wer  also SF aus Deutschland lesen möchte, wird hier fündig. Und findet auch meine SF-Story.

Science-Fiction-Story Bleib bei mir jetzt lesen. 

 

Erzählung „Im Schweigen“

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Du sitzt da und schweigst, du hältst dein Glas vor dir fest und schaust verstohlen auf die Spiegelung deines Handys, während ich rede. Machst du es dir damit einfach? Oder bist du einfach nur sprachlos?
Stopp. Ich müsste mal die Klappe halten, Luft holen, einen Schluck trinken, mal sehen, was geschieht. Ich trinke, halte mein Glas weiter umfasst und warte. Auf Antwort. Auf Reaktion. Auf irgendwas.
Die Redepause nutzt du zu einem Schluck aus deinem Glas, und da kommt der Lärm von denen, die hier sitzen, stehen, trinken, essen, reden, lachen, kichern, diskutieren und schwatzen, lästern, schimpfen, sich anvertrauen, aufs Klo gehen, vom Klo zurückkehren, die Bedienungen bahnen sich ihren Weg wie tänzelnde Eisbrecher durch die Menschen, all das spritzt Gischt um uns, die wir zwei schweigende Felsen sind in einem Meer der Bewegung und des Lärms, während ich sitze und warte, während du nochmals einen Schluck aus deinem Glas nimmst. Du stellst dein Glas ab, während ich im Schwall der Worte um uns und warte.
Siehst du einem inneren Film zu? Oder starrst du einfach nur ins Nichts? Wir sind am Ende, habe ich gesagt. Es sei bedauerlich, aber verständlich, klar und in Ordnung so weit.
In Ordnung? Nichts ist in Ordnung! Aber ich kann das Rad nicht zurückdrehen, nichts wird ungeschehen sein, wie sehr ich es mir auch wünsche. Ich habe nun aufgehört zu kämpfen. Das Leben schmerzt nur solange, wie man es vergeblich zu ändern versucht. Wer aufhört, es ändern zu wollen, beginnt eine sanfte Reise auf dem Ozean der Ruhe und Stille mit dem Schiff namens Gelassenheit. Loslassen ist Befreiung.
Das Schweigen wird lang. Um uns trudelt die Welt durch ihre Bestimmung und hat mit uns nichts zu tun. Warum sagst du nichts?In meinen Därmen sprudelt die Quelle der Unruhe und im Gewirr meines Hirns beginnt das Verlangen nach Gewissheit zu sprudeln, ob ich Recht habe oder nicht. 
Wir sind am Ende, habe ich gesagt. Stein für Stein hab ich die Mauer aufgebaut, um den Schmerz fern zu halten, und habe versucht, es mir dahinter gemütlich zu machen, doch nun stelle ich fest, dass ich mich durch dein Aussperren eingesperrt habe.
An einem der anderen Tische, drei Meter links von mir, in der heimeligen Ecke dort, sitzt eine junge Frau, die ebenso wartet wie ich. Der Stuhl ihr gegenüber ist leer, ihr Blick gleitet, ohne haften zu bleiben, ihre braunen Haare fallen in Locken über die Schultern, und trotz der Entfernung und des dämmrigen Lichts, das allen Kneipen zu eigen ist, da sie der Privatheit gedimmter Schummrigkeit bedürfen, trotz dieses Lichts also, das in seiner Gemütlichkeit heischenden Trübe die Farben aller Dinge in stimmungsvolles Grau zieht, erkenne ich Dutzende Sommersprossen auf ihren Wangen und Nasenflügeln. Mit großen braunen Augen betrachtet sie immer wieder ihr Handy auf dem Tisch in der Hoffnung, eine Nachricht möge kommen, die nicht kommt. Sie wartet wie ich im Stimmentosen. Sicher ist sie traurig. Ich denke mir, dass ihr bewusst ist, dass aus anfänglichem Wartenlassen, diesem Gewebe aus Langweile und Hoffnung, ein Sitzenbleiben geworden ist, eine Säure, die im Magen eines Riesen schwappt, der sie nun zu verdauen beginnt. Mit solch einem Ausgang kann sie nicht gerechnet haben, sonst wäre sie nicht hier. Hat mit Aufmerksamkeit gerechnet, sich Wichtigkeit gegeben, über die letztlich nur der Andere entscheidet – doch niemand kommt. 
Ich sehe dich an und versuche zu deuten, was ich sehe. Die Tischplatte zwischen uns, auf der unsere Gläser stehen und unsere stummen Handys liegen, trennt Universen, wer hätte das gedacht!
Wir sind am Ende, habe ich gesagt, aber nur weil ich es sagte, muss ich es doch nicht wollen! Du warst mir nahe wie ein Zahn – lange Jahre ein Teil von mir, bis die Fäulnis einsetzte, warum auch immer, und nun bist du herausgerissen aus mir, die Wunde mag verheilen irgendwann, aber die Lücke wird immer bleiben.
Du schweigst, ich warte. Ich sehe dich an und wünsche mir, dein Blick ins Nirgendwo fände dort Antwort und Lösung, wünsche mir, dass du auf den großen Fang wartest, aber Hoffnung, was ist das schon, was ist es mehr als nur ein Wort, das nur Erlösung oder Vernichtung bringen kann, das uns im Dunkel unserer Wünsche und Neigungen tappen lässt, verstrickt im Außen, dem es Spaß macht, geliebt, begehrt, verehrt zu werden, dessen sadistische Befriedigung sich nur in Vorenthaltung oder Fortreißen zeigen kann, Hoffnung, diese Zersetzung, die mein Herz zerfrisst, denn ich will nur, dass du sagst, wie sehr ich im Unrecht bin, ich will, dass du mich dazu bringst, mich bei dir für meine Worte und Meinung entschuldigen zu müssen, sag was, ein Wort von mir aus nur, oder wenigstens zeig eine Geste, einen Blick, der mir zeigt, dass ich mich irre, bitte!
Themenblöcke werden zu Sand zerrieben, Jahre rieseln von uns herab. Wortlos blickst du blicklos durch den Tisch, auf dein Getränk, drehst versonnen dein Glas, und ich warte noch immer, auch wenn nun die Gewissheit Überhand gewinnt, dass alles gesagt worden ist.
Wir sind am Ende, habe ich gesagt, und habe das gesagt,  was dir längst klar gewesen ist. Wir sind am Ende, habe ich gesagt, damit du es nicht zuerst sagen konntest, aber du hättest es nie gesagt. Nicht, weil du es nicht hättest wahrhaben wollen, sondern weil ich es längst hätte wissen müssen. Meine Worte waren ein Luftschnappen meiner Eitelkeit, die mich in der Illusion wiegen sollte, es wäre meine wohlüberlegte Entscheidung gewesen, das Wohlfühlprogramm in Zeiten des Unwohlseins, das nur mit Verblendung funktioniert.
Hinten in der Ecke trifft eine Frau ein, die sich zur Sommersprossigen setzt – das war es dann mit Sitzenlassen, das doch nur ein Wartenlassen war. Das war es dann mit Traurigkeit, die sich doch nur an meinem Tisch abspielt und die ich lieber dort drüben als bei mir gesehen hätte. 
Nun bin ich da, wohin ich gehöre: am Ende meiner Einbildungen.
Du schweigst, aber dein Schweigen sagt alles. Es ist egal, ob du nichts zu sagen weißt oder nichts mehr zu sagen hast. Die Tischplatte zwischen uns hackt uns in zwei Regionen, da erscheint die Welt in Regenbogenfarben. In den Prismen meiner Tränen offenbart sich gar das Licht als Täuschung der Sinne, die es uns bequem machen, die uns eine Welt zeigen, die so gar nicht ist, und nur in Momenten wie diesen erkennen wir es.
Wir sind am Ende, habe ich sagt und habe es nicht so gemeint. Ich wollte, dass du es mir ausredest, dass du wütend oder traurig oder sonst was bist, aber dass du wortlos da sitzt, damit habe ich nicht gerechnet. Ich wusste nicht, wie es hätte werden können, aber die Möglichkeit einer Möglichkeit wäre tröstlich gewesen. Ein Ende wie nun ist eine Sackgasse. Sie erzwingt Umkehr und Rückzug.
Wortlos ertaste ich Geld, viel zu viel, und lege es auf den Tisch. In mir ist Beklemmung, die den Verlustschmerz gebiert. Das Ende dieses Weges mündet in das Ende aller Worte. Das Schweigen der Worte ist ein Schweigen der Zukunft. 
So gehe ich, während du weiter schweigst und sich dein Blick in den Spiegelungen deines Handys verliert.

Meine Erzählung „Inventar“ von Oliver Koch als kostenloses eBook

Ich gebe zu, „Inventar“, die einer meiner Lieblingsgeschichten ist, lästert ein wenig. Wer kennt sie nicht, diese Personen, von denen man das Gefühl hat, sie nähmen nicht am Leben teil? Vornehmlich begegnet man solchen Menschen in der Firma.
Deshalb ist auch „Inventar“ in einer nicht näher genannten Firma angesiedelt. Da sitzt Cordula, jahraus, jahrein, arbeitet vor sich hin, und stellt eines Tages fest, dass etwas mit ihrem Umfeld nicht mehr stimmt: Denn wo die Firma eigentlich auf einmal hin, in der sie die ganze Zeit zu sitzen glaubt?
Sie könnt es wissen, wenn sie von ihrem Umfeld einfach mehr Notiz genommen hätte.
Klar ist „Inventar“ eine Satire und deshalb auch auf skurille Komik angelegt. Andererseits sind mir in meinem Berufsleben durchaus Menschen begegnet, die in gewisser, abgeschwächter Weise, unserer Cordula nahe kommen.
Mir hat das Schreiben jedenfalls sehr viel Spaß gemacht, und ich hoffe, es macht auch Spaß, „Inventar“ zu lesen.

eBook „Inventar“ für Leser mit tolino, Kobo im EPUB-Format kostenlos downloaden:
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Inventar – Erzählung von Oliver Koch