Prag AltsadtUm es kurz zu machen: Nein, Prag ist nicht beim ersten Besuch mal eben zu erschließen. Es sei denn, es genügt, von einem Ort zum andern zu hetzen, von außen ein paar Fotos zu knipsen, vielleicht in den Veitsdom zu rennen und sich einen Kaffee an einem der belebten Plätze hineinzuschütten.

Wem das ein Graus ist: Vergesst es, Prag in drei Tagen kennenzulernen!
Denn Prag hat viel mehr Dächer, als es Jahre auf dem Buckel hat. Und wer sich nicht nur zwischen den zahllosen kulturellen Prunkstücken der Stadt Blutblasen laufen möchte, sondern auch Konzerte besuchen und Museen durchstreifen möchte, sollte bei seinem Arbeitgeber ein Sabbatical beantragen. Oder gleich für ein Jahr in die goldene Stadt ziehen. Denn ja, wer behauptet, Prag nach ein paar Tagen kennengelernt zu haben, ist entweder ein Idiot oder ein Lügner.

So viel zu Illusionen und Wünschen.

Allein die kulturelle Vielfalt, die über fast 1000 Jahre ihre Spuren hinterlassen hat! Ja, Prag ist die Hauptstadt des heutigen Tschechien. Früher war das Böhmen – und hier wird es dann für den heutigen Durchschnittsdeutschen kompliziert: Deutsch, österreichisch, böhmisch, tschechisch – alles ist gleichzeitig da und ballt sich in der Millionenmetropole so massiv, dass einem ganz flau werden kann. Prag war immer Böhmen, irgendwie auch deutsch wie österreichisch; Prag ist kaum verständlich ohne die geschichtlichen Zusammenhänge und die Grenzen von einstigen Reichen   und Zugehörigkeiten.
Auch dass Prag bis weit ins 18 Jahrhunderte hinein aus mehreren vormals eigenständigen Gemeinden bestand, macht die Sache nicht leichter. Jahrhunderte stehen bruchlos nebeneinander und gegenüber, Völker, Sprachen, Religionen, Künste und Kulturen. Prag protzt mit unvorstellbar vielen Kirchen und Klöstern, bei all den Kirchtürmen kommt man mit den Türmen der Stadttore gern durcheinander.
Immerhin sparen die Synagogen sich die Türme.

Überhaupt das Judentum: Es prägt die Josefstadt, auch wenn dort das ehemalige Judenviertel Ende des 19. Jahrhunderts  repräsentativsten Prachtbauten weichen musste. Inmitten prunkvoller Wohn- und Geschäftshäuser und teilweise atemberaubenden Jugendstilbauten stolpert man mit der Altneu-Synagoge über die älteste noch original erhaltene Synagoge Europas, die sich seit nahezu 800 Jahren nahezu unverändert präsentiert, sowie den beeindruckenden jüdischen Friedhof, auf dem sich seit Mitte des 15. Jahrhunderts über 12.000 Grabsteine drängen und in dessen hügeliger Erde mehr als 100.000 Menschen begraben liegen. Umberto Eco hat diesem mit seinem Roman Der Friedhof von Prag ein Denkmal gesetzt.

Prag Bick auf die Prager Burg

Allein die Prager Burg mit Veitsdom, Königspalast, dem goldenen Gässchen und Museen beschäftigt einen ganzen Tag. Die darunterlegende Kleinseite lässt sich zwar durchrasen, doch wer wirklich sehen und genießen will, sollte Zeit und Muße mitbringen.

Vorsicht geboten ist vor den Audioguides, die so ziemlich jede Sehenswürdigkeit gegen Aufpreis näher beschreiben möchte: Sie sind äußerst geschwätzig! Dort wird mehr von Sagen und Legenden berichtet, die nichts zur Sache tun, und befriedigen mehr den oberflächlichen Appetit nach Geschichten statt nach Geschichte. Unendlich lang steht man mit den zudem meist unhygienisch schmierigen, da offenbar niemals gereinigten Geräten in den Händen, die man danach so dringend desinfizieren will wie muss, vor den Dingen und wartet, bis es endlich wirklich Interessantes zu hören gibt – die gedruckten Reiseführer bringen da oft weit mehr Informationen.

Prag Veitsdom

Prag und die Geschichte, das ist ein Problem. Zum einen, weil es so viel davon gibt, dass sie das einzige ist, worauf man sich dort ständig beruft. Hier wird nahezu alles historisch aufgeladen und mit weitschweifigen Ausstellungen begleitet. Dem damit einhergehenden Überangebot an Informationen ist es letztlich zu verdanken, dass man sich leicht verlieren kann in einer Stadt, die an ihrer eigenen Historie nahezu erstickt. Keine Epoche wird ausgelassen, keine Kunstrichtung ignoriert. Wo sich weder Epochen noch Kunstrichtungen finden lassen, werden Traditionen bemüht – woran Prag an sich schon übervoll ist.

Prag wird erst durch Aussortieren erträglich. Man muss wissen, auf was man zu verzichten bereit ist, wenn man dem Anspruch genüge tun will, wenigstens etwas vom Charakter der Stadt auch abseits der Routen und ohne kunst- und kulturbeflissene Hetze auf einen wirken soll.
Beim ersten Mal die Straßen zu durchwandern bringt – Interesse vorausgesetzt – überhaupt nichts, zu sehr verschwimmen die Fassaden und Winkel dieser Stadt, die Schilder und Hinweise in Reiseführern, warum man gerade hier oder da wieder einmal ganz besonders hinschauen und nachforschen muss – nein, das ist beim ersten Mal im Grunde einfach viel zu viel. Man schlendert, man staunt, was man da neben viel zu vielen Läden mit dummem pseudo-böhmischem Holz- und Kristallramsch an Großartigem zu sehen bekommt.
Es scheint nichts Neues in dieser Stadt zu geben, alle hundert Meter lauert der nächste Antiquitätenladen auf einen, und man wird das Gefühl nicht los, dass Prag außer enormer Historie wirklich überhaupt rein gar nichts zu bieten hat.

Was da in den teils an Geschmacklosigkeit grenzenden über-gigantischen Museumsbauten für Kunst finden mag, will man beim ersten Mal überhaupt nicht wissen, man käme mit der Verarbeitung der Eindrücke auch gar nicht nach.
Ach ja, und Franz Kafka ist ja auch noch aus Prag – und die Komponisten Smetana und Dvorak sind Tschechen! Glauben Sie also bloß nicht, speziell zu jedem dieser Künstler kein eigenes Museum zu finden …

Eines immerhin braucht man Prag jedenfalls nicht zu erwarten: Kirchen von Weltrang. Wer zahlreiche Kirchen kennt und schon einige Mal mit in den Nacken geworfenen Kopf mehr als ein „Boah!“ in anderen Kirchen ausgestoßen hat, wird sich in Prag langweilen. Selbst der Veitsdom vermag kaum zu begeistern, auch wenn einem das Berichte und Reiseführer glaubhaft zu vermitteln versuchen. Und die Kirchen unten in den Stadtteilen sollte sich jeder sparen, der mit Barock ein Problem hat – denn sie sehen alle gleich aus. Schnörkel, Kitsch, Gold, Putten und nicht selten Gemälde mit nahezu identischen Motiven in kreischenden Farben – das sieht man in Prag wie anderswo, nur gerade in Prag mit seinen übermäßig vielen Kirchen viel zu viel, viel zu oft und viel zu gleich – es sollte uns freuen! Denn auch ohne die Sakralbauten ist Prag beim ersten Mal schlicht maßlose wie wundervolle Überforderung mit Zwang zur Wiederkehr.